In der Welt der Katorga: Die Zwangsarbeitsstrafe für politische Delinquenten im ausgehenden Zarenreich (Ostsibirien und Sachalin)

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Title
In der Welt der Katorga: Die Zwangsarbeitsstrafe für politische Delinquenten im ausgehenden Zarenreich (Ostsibirien und Sachalin)
Identifier
BV022457457
Creator
Ackeret, Markus
has publication year
2007
Is Part Of
Mitteilungen OEI
volume
56
has URL
https://www.dokumente.ios-regensburg.de/publikationen/mitteilungen/mitt_56.pdf
https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0168-ssoar-63257-8
extracted text
OSTEUROPA-INSTITUT
MÜNCHEN
Historische Abteilung
Mitteilungen

Nr. 56 April 2007

In der Welt der Katorga
Die Zwangsarbeitsstrafe für politische
Delinquenten im ausgehenden Zarenreich
(Ostsibirien und Sachalin)
MARKUS ACKERET

OSTEUROPA-INSTITUT
MÜNCHEN
Historische Abteilung
Scheinerstr. 11
D-81679 München
Telefon: 089/99 83 96-0
Telefax: 089/98 10 110
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Internet: www.oei-muenchen.de

ISBN 978-3-938980-11-8

Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung ......................................................................................................................5
1.1. Zum Thema.......................................................................................................... 5
1.2. Fragestellung und Aufbau.................................................................................... 9
1.3. Methodisches..................................................................................................... 11
1.4. Quellen............................................................................................................... 13
1.5. Historiographiegeschichte und Forschungsstand............................................... 18
1.6. Hinweise.............................................................................................................21
2. Macht und Ohnmacht – Das Russische Reich 1861–1917..........................................23
2.1. Der 9. Januar 1905 und das Spannungsfeld des ausgehenden Zarenreichs........23
2.2. Die „Großen Reformen“ und die ersten Phasen des Terrors..............................25
2.2.1. „Bauernbefreiung“ und Justizreform.......................................................26
2.2.2. Terror und Neuorganisation der staatlichen Sicherheit........................... 29
2.3. Politische Gegnerschaft und der Niedergang der Staatsmacht...........................31
3. Sibirien – „Die andere Welt“: Topographie der Katorga............................................ 35
3.1. Die Katorga im russischen Verbannungs- und Strafsystem...............................35
3.1.1. Ssylka und Katorga..................................................................................35
3.1.2. Die politische Katorga: Die Schauplätze Ostsibirien und Sachalin........ 38
3.1.3. Die politische Katorga: Phasen und Dimensionen.................................. 41
3.2. Der Weg nach Osten – Bewältigung des Raumes und Konstituierung der
Katorga.............................................................................................................. 44
3.2.1. Die Erfahrung des Gefängnisses..............................................................46
3.2.2. Vorbereitungen, Abschied und Aufbruch ...............................................47
3.2.3. Die Bewältigung des Raumes und die Begegnung mit dem Imperium... 50
3.2.4. Die soziale Konstituierung: „Politische“ und Kriminelle....................... 54
3.2.5. Etappengefängnisse als Kristallisationspunkte........................................57
3.2.6. Leiden und Gefühle von Freiheit.............................................................59
3.2.7. Die „Weltreise“ nach Sachalin................................................................ 61
3.2.8. Die letzte Strecke.....................................................................................62
4. Die Welt der Katorga...................................................................................................63
4.1. Ankommen im „Archiv der Revolutionäre“...................................................... 65
4.1.1. Die Welt der Katorga von außen: Landschaft und Gefängnisbauten...... 68
4.1.2. Im Katorga-Gefängnis............................................................................. 72
4.2. Die Katorga-Gesellschaft: In der Kommune der „Politischen“......................... 74
4.2.1. Suppe und Brot: Essen in der Katorga.....................................................76
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4.2.2. Politische und soziale Brüche..................................................................79
4.2.3. Beständige Nähe – die allwissende Kommune........................................84
4.3. Arbeiten in der Katorga......................................................................................86
4.3.1. Zwangsarbeiter ohne Arbeitsmöglichkeiten im Kara-Tal....................... 87
4.3.2. „Mustergefängnis“ Akatuj: Die Rückkehr zur Zwangsarbeit..................89
4.3.3. Arbeiten in den letzten Jahren der transbaikalischen Katorga.................92
4.4. Die Katorga-Gesellschaft: „Politische“ und Kriminelle.................................... 95
4.4.1. Zwei Welten auf engem Raum................................................................ 96
4.4.2. Parallele Welten und Interaktion unter einem Dach..............................100
4.5. Bildungsaktivitäten und der Kontakt zur Außenwelt.......................................102
4.5.1. Lesen und Lernen.................................................................................. 103
4.5.2. Lehren und Lernen.................................................................................106
4.5.3. Das Theater von Zerentuj...................................................................... 109
4.5.4. Drähte zur Außenwelt............................................................................111
4.6. Provokation, Widerstand, Flucht: Die Häftlinge und die
Gefängnisadministration..................................................................................115
4.6.1. Symbole der Demütigung – Zwischen Duldung und Aufbegehren.......116
4.6.2. Typologien und Strategien der Obrigkeit.............................................. 120
4.6.3. Die „Tragödien“ – Zusammenstöße von Obrigkeit und
Häftlingsgesellschaft.............................................................................. 124
4.6.4. Flucht und Fluchtversuche.....................................................................127
4.7. Sachalin – die andere Katorga..........................................................................130
5. Besserung – Bestrafung – Repression. Zum Schluss.................................................137
6. Bibliographie............................................................................................................. 145
6.1. Quellen............................................................................................................. 145
6.2. Darstellungen................................................................................................... 149
7. Anhang.......................................................................................................................159
7.1. Karte.................................................................................................................159
7.2. Plan des Gefängnisses von Nižnjaja Kara........................................................160
7.3. Photos und Zeichnungen.................................................................................. 161
7.3.1. Katorga.................................................................................................. 161
7.3.2 Gulag...................................................................................................... 165
7.4. Tabellen............................................................................................................166
7.4.1. Ständische Zusammensetzung der katoržane........................................ 166
7.4.2. Soziale und berufliche Zusammensetzung der katoržane......................166

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1. Einleitung

1. Einleitung
1.1. Zum Thema
In der Parkanlage des Petersburger Troickij-Platzes liegt ein mächtiger, rotbrauner Find­
ling vom Solovecker Archipel im Weißen Meer. Eine rechteckige Steinplatte dient ihm
als Sockel; „uznikam Gulaga“, „den Häftlingen des Gulag“, ist in großen Lettern darauf
eingraviert. Das schlichte Mahnmal erinnert an die Opfer des sowjetischen Lagersys­
tems. Der Stein ist nicht nur Symbol für eine Ungeheuerlichkeit, vor der die Darstel­
lungskraft versagt; auch seine Herkunft ist nicht zufällig: Auf Solovki wurde entwickelt,
was sich zur Lagerwelt ausweitete. Nebenan am Flussufer steht ein stattliches, avant­
gardistisches Wohngebäude. Vor mehr als siebzig Jahren war es für Mitglieder der All­
sowjetischen Gesellschaft der ehemaligen politischen Zwangsarbeiter und Verbannten
gebaut worden – in Anerkennung der Opfer, welche die Kämpfer wider die Autokratie
der revolutionären Bewegung und, nach der Oktoberrevolution 1917, dem sowjetischen
Staat erbracht hatten.1
Das stumme Nebeneinander der frühsowjetischen Wertschätzung für die Leiden der
inhaftierten und verbannten Revolutionäre einerseits und des Gedenkens an die Häft­
linge der sowjetischen Lager seit dem Ende des Kommunismus anderseits offenbart der
Nachwelt eine beklemmende Gleichzeitigkeit: Während sich die alternden Revolutio­
näre in den zwanziger und frühen dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts ihres
Kampfs gegen das Ancien Régime entsannen und in ihren Erinnerungen die Unbill der
Haft in Sibirien dokumentierten, existierten, ausgehend von Solovki, wieder neue For­
men der Zwangsarbeit und wurde die Verbannung in entlegene Gegenden des Landes
erneut praktiziert.2
Der Gulag3 fristet im Gedächtnis Russlands noch immer ein randständiges Dasein;
Gedenkstätten sind rar.4 Aber das ungebrochene wissenschaftliche Interesse am Stalinis­
1

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4

Die Gesellschaft, russisch Vsesojuznoe obščestvo byvšich političeskich katoržan i ssyl’no-poselencev,
wurde 1921 in Moskau von namhaften Vertretern der bolschewistischen Elite gegründet (u.a. F. Ė.
Dzeržinskij, Ja. Ė. Rudzutak, Em. Jaroslavskij) mit dem Ziel, ehemaligen politischen Verbannten und
Zwangsarbeitern materielle Unterstützung zu bieten, aber auch Vorträge und Zusammenkünfte zu or­
ganisieren sowie Publikationen herauszugeben (Zeitschrift „Katorga i ssylka“, Sammelbände mit Er­
innerungen und Forschungen zur revolutionären Bewegung, den Gefängnissen, Verbannten und
Zwangsarbeitern des Zarenreiches, Buchreihen). Die Gesellschaft wurde 1935 im Zuge der Aus­
schaltung der Bolschewiki der ersten Stunde durch Stalin aufgelöst; vgl. in der Bol’šaja sovetskaja ėn­
ciklopedija ALEKSEEVA, Obščestvo, S. 248.
Die Betonung der Schrecken der Vergangenheit in impliziter Differenzierung von der Gegenwart
kommt in der Einleitung zum Sammelband „Kara i drugie tjur’my Nerčinskoj katorgi“, den die Ge­
sellschaft der ehemaligen politischen Zwangsarbeiter und Verbannten 1927 publiziert hat, beispielhaft
zum Ausdruck, vgl. KON Predislovie, S. 13.
Der Ausdruck „Gulag“ besitzt eine doppelte Bedeutung. Die GULag ist das Akronym von Glavnoe
upravlenie lagerej (Hauptverwaltung der Lager). Durch Aleksandr Solženicyns „Archipel Gulag“ hat
der Begriff eine weitere Dimension erfahren und steht stellvertretend für das Lagersystem, vgl.
STETTNER, „Archipel GULag“, S. 19 mit Anmerkung 1. Wenn in dieser Arbeit von „Gulag“ die Rede
ist, meint der Begriff das System; unter „GULag“ ist die Verwaltung zu verstehen.
Der Gedenkstein auf dem Troickij-Platz in St. Petersburg wurde in dieser Form erst im September
2002 errichtet, zwölf Jahre nachdem die Organisation Memorial an dieser Stelle bereits eine Gedenk­
platte für die Opfer der Repression aufgestellt hatte (Auskunft von Irina Fliege, Memorial St. Peters­

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mus und die 2003 erschienene Gesamtdarstellung „Gulag: A History“ von Anne App­
lebaum ermöglichen eine fundierte Auseinandersetzung mit dem düsteren Kapitel so­
wjetischer Geschichte. Das zarische Verbannungssystem ist dagegen weitgehend in Ver­
gessenheit geraten.5
Für das Verständnis der Geschichte des Russischen Reiches ist das Verbannungssys­
tem aber keine Marginalie. Bis zum Untergang des zarischen Russland bildete es den
Kern des Strafsystems für kriminelle und für politische Häftlinge. Es steht im Kontext
der Justiz-, Polizei- und Gefängnisreformen des letzten Drittels des 19. Jahrhunderts
ebenso wie der revolutionären Bewegungen, deren Beteiligte sich in ihm wiederfanden;
es hat zu immer neuen Debatten innerhalb des Beamtenapparats geführt – und sich, den
Anfeindungen und der schieren Überforderung zum Trotz, bis zum Schluss gehalten. In
der russischen Gesellschaft war es stets präsent; es war Teil der Wirklichkeit des russi­
schen Imperiums. Drei der herausragenden russischen Schriftsteller der zweiten Hälfte
des 19. Jahrhunderts haben diese ferne, fremde Welt literarisch ins europäische Russ­
land getragen: Fedor Dostoevskij mit seinen „Zapiski iz mertvogo doma“ („Auf­
zeichnungen aus einem Totenhause“), der literarischen Verarbeitung seines eigenen
Schicksals, Anton Čechov mit seinem Reisebericht „Ostrov Sachalin“ („Die Insel Sa­
chalin“) und Lev Tolstoj mit dem Roman „Voskresenie“ („Die Auferstehung“). Beson­
ders Dostoevskijs und Čechovs Werk haben die Wahrnehmung der Verbannung und
Zwangsarbeit in Sibirien und auf Sachalin stark beeinflusst.6 Im Gleichklang mit den
Charakterisierungen als „Land der Verworfenen“7 oder „riesiges Gefängnis ohne Dach“8
ist Sibirien als Zielort der Verurteilten zum Synonym für das Verbannungssystem ge­
worden, obwohl sich dieses auch auf entlegene Gebiete im europäischen Russland und
im Kaukasus erstreckte.
„Verbannungssystem“ ist eine begriffliche Hilfskonstruktion, für die es im Rus­
sischen kein Äquivalent gibt. Offiziell gebräuchlich ist der Begriff ssylka, der allerdings
eine doppelte Bedeutung besitzt: Er ist Bezeichnung für das Ganze – für das „Ver­
bannungssystem“ – ebenso wie für einen Teil desselben, nämlich die Verbannung (ur­
sprünglich aus der Dorfgemeinde) an einen definierten, entlegenen Ort für eine be­
stimmte zeitliche Dauer. Im Folgenden wird der Begriff ssylka ausschließlich in seiner

5

6
7
8

6

burg, 6. September 2003, auf dem Troickij-Platz). Der Historiker Andrew Gentes betont in einer Re­
zension die selektive Erinnerung an den Gulag in Russland und deren überraschende Präsenz, etwa in­
dem in einem Irkutsker Lokal abends Sträflingslieder angestimmt werden, vgl. Gentes, [Ivanova]. In
den vergangenen Jahren sind in Russland verschiedene Quellenpublikationen zum Gulag erschienen.
Der Ort, der die Erinnerung an die Verbannungszeit wohl am besten konserviert hat, ist die fernöstli­
che Insel Sachalin. Der ungarische Schriftsteller György Dalos hat auf den Spuren von Anton
Čechovs Reisebericht („Ostrov Sachalin“) nach Resten der Vergangenheit auf dieser Sträflingsinsel
gesucht, vgl. DALOS Reise, bes. S. 182–185, wo über die Begegnung mit Nachfahren Verbannter be­
richtet wird.
Vgl. WOOD Crime, S. 215f. (zu Dostoevskij, Sibirien, Verbannungssystem), ebenso KACZYNSKA Ge­
fängnis, S. 95, und HOETZSCH Russland, S. 50. Zum literarischen Topos der sibirischen Verbannung
vgl. MURAV „Vo glubine Sibirskikh Rud“, S. 95–111, und KLUGE Sibirien, bes. S. 230–241.
Dies der Titel der umfangreichen, allerdings literarisierten Erinnerungen des russischen Revolutionärs
und Schriftstellers Petr Filipovič Jakubovič („V mire otveržennych“), die er unter dem Pseudonym L.
Mel’šin veröffentlichte. Vgl. MELSCHIN Im Lande 1 und 2.
So äußerte sich der zeitweilige Direktor der russischen Gefängnishauptverwaltung, A. I. Salomon, zit.
KACZYNSKA Gefängnis, S. 11.

1.1. Zum Thema

spezifischen Bedeutung verwendet, also als Bezeichnung für „Verbannung“ und nicht
für das gesamte Verbannungssystem, und als Fremdwort behandelt (Schreibweise: Ssyl­
ka).9 Eine besondere Form der Verbannung stellte die Zwangsarbeit – russisch katorga10
– dar als „Verbannung zur Zwangsarbeit“ (ssylka na katorgu).11 Die Bezeichnung kat­
orga ist seit Zar Peter I. für die Zwangsarbeit im Russischen Reich gängig; auch kat­
orga wird im Folgenden als Fremdwort behandelt (Schreibweise: Katorga). Diese sah,
nach der Verbüßung der Zwangsarbeitsstrafe in einem speziell dafür vorgesehenen Ge­
fängnis, zumeist lebenslängliche Ansiedlung in Sibirien vor.
Mit der Katorga als Teil des zarischen Verbannungssystems beschäftigt sich diese
Arbeit, und zwar in erster Linie mit jenen Sträflingen, die aus politischen Gründen zur
Zwangsarbeit verurteilt worden waren. Die Häftlingsgesellschaft der Katorga lässt sich
jedoch nicht strikt in politische und kriminelle Häftlinge trennen, weil sich die „Poli­
tischen“12 gegenüber den Kriminellen in deutlicher Unterzahl befanden und die Interfe­
renzen zwischen den Häftlingsgruppen bedeutsam waren. Um die politische Katorga
verständlich zu machen, soll, auch in Abgrenzung zur traditionellen Forschung, der ge­
meinsame soziale Raum betrachtet werden. Für einen Katorga-Häftling gibt es im Rus­
sischen zwei Begriffe, die in der Forschung zuweilen synonym verwendet werden, sich
aber semantisch voneinander unterscheiden: katoržanin (Pl. katoržane) bezeichnet einen
politischen Sträfling (zuweilen auch: politkatoržanin), katoržnik (Pl. katoržniki) einen
kriminellen. Für einen solchen wird auch der allgemeine Begriff ugolovnyj (Krimineller,
pl. ugolovnye) verwendet.13
Mit der Fokussierung auf die „Politischen“ geht eine geographische Eingrenzung ein­
her. Der Schwerpunkt der politischen Zwangsarbeit im ausgehenden Zarenreich lag in
Ostsibirien, im Katorga-Zentralgefängnis von Aleksandrovsk bei Irkutsk und jenseits
des Baikalsees im Kreis Nerčinsk des Gouvernements Čita, hart an der Grenze zu Chi­

9
10

11

12
13

Vgl. entsprechend den Eintrag ssylka in der Bol’šaja sovetskaja ėnciklopedija (EROŠKIN Ssylka, S.
387). Der Begriff ssylka umfasst verschiedene Formen der Verbannung; vgl. dazu die Ausführungen
im Kap. 3.1. zur Organisation des Verbannungssystems.
Etymologisch leitet sich der Begriff vom griechischen Wort το κάτεργον (bzw. im Plural τα κάτεργα)
ab, der byzantinischen Bezeichnung für Ruderschiff bzw. Galeere. In grosser Zahl wurden Zwangs­
arbeiter bei der Erbauung St. Petersburgs eingesetzt. Vgl. EROŠKIN Katorga, S. 536, und weitere Aus­
führungen Kap. 3.1 (S. 35).
Die Doppeldeutigkeit des Begriffs Ssylka kommt in der Definition der Bol’šaja sovetskaja ėnciklope­
dija unter dem Stichwort „ssylka političeskaja“ („politische Verbannung“) zum Ausdruck, vgl. EROŠ­
KIN Ssylka političeskaja, S. 387: „Politische Verbannung in Russland, erzwungene Entfernung von
Personen, die sich politischer Vergehen schuldig gemacht haben, auf gerichtlichem oder administra­
tivem Weg an einen entfernten Ort zur Ansiedlung für eine bestimmte Dauer oder unbefristet oder in
die Katorga.“ Diese Definition gilt im Prinzip auch für gewöhnliche kriminelle Straftäter.
Die Bezeichnung „Politische“ (političeskie) wird in dieser Arbeit stets in Anführungszeichen gesetzt,
um zum despektierlichen Beigeschmack der Benennung Distanz zu markieren. Es handelt sich aber
um eine in den Quellen und der Forschung oft verwendete Bezeichnung.
DALY Political Crime, S. 85, Anm. 97, verweist auf den semantischen Unterschied. Bei Kennan und
zum Teil in der westlichsprachigen Forschungsliteratur wird generell katoržnik verwendet, in der rus­
sischsprachigen Forschung katoržanin, mitunter auch politkatoržanin oder die geschlechtsneutrale
Pluralform katoržnye.

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na, sowie auf der fernöstlichen Insel Sachalin. Ostsibirien und Sachalin stehen daher im
Vordergrund der Untersuchung.14
Der untersuchte Zeitraum schließlich reicht vom letzten Drittel des 19. Jahrhunderts
bis zur Aufhebung des Verbannungssystems im Frühjahr 1917 nach dem Sturz des za­
rischen Regimes, wobei das Schwergewicht auf der Zeit zwischen 1880 und 1917 liegt.
Die Zeit zwischen den „Großen Reformen“ des Zaren Alexander II., die mit der Aufhe­
bung der Leibeigenschaft 1861 einsetzten, in der Justizreform von 1864 einen Höhe­
punkt erreichten und auch das Straf- und Gefängnissystem betrafen, und dem Zu­
sammenbruch des Ancien Régime war geprägt von der Modernisierung der Ordnung auf
allen Ebenen. Jene entwickelte vor allem im ökonomischen und sozialen Sektor unge­
heure Sprengkraft in einer Gesellschaft, die sich durch die Extreme von Stadt und Land,
gebildeter Elite und Masse der Industriearbeiter und Bauern in ihren je eigenen zeitli­
chen und räumlichen Welten auszeichnete und die im autokratischen Staat in ihrer poli­
tischen und sozialen Entfaltung sehr stark behindert war.15 Die sich ab den sechziger
Jahren formierende, revolutionär gesinnte Opposition bewegte sich in diesem Span­
nungsfeld, das sich in der Revolution von 1905 und mit dem Sturz des Zaren 1917 ent­
lud. Die Reformbestrebungen, die Debatte und die politischen Entwicklungen fanden
vor einem westeuropäischen Horizont statt.16 In diesem Kontext bewegt sich das Ver­
bannungssystem; Wechselwirkungen zwischen den Ereignissen der spannungsgeladenen
Umbruchszeit und der Katorga in Sibirien sind evident. Die Geschichte der Katorga
trägt vielerlei Züge: Züge einer Geschichte der Gewalt und der Disziplinierung, des
Straf- und Gefängniswesens, der politischen Auflehnung und Unterdrückung im auto­
kratischen Staat, aber sie kann auch als eine Geschichte des imperialen Russland und
seiner Gebiete jenseits des Urals: Sibiriens, des Fernen Ostens, Sachalins, gelesen wer­
den.17 Und sie gibt, nicht nur symbolisch auf dem Petersburger Troickij-Platz, zum
14 Zu den Orten der Katorga in Ostsibirien vgl. Kap. 3 (S. 35) und 4 (S. 63) und die Karten im Anhang
S. 159
15 Die lebensweltlichen Veränderungen in Russland 1880 bis 1914 schildert ausführlich CARSTEN GOEHR­
KE vgl. GOEHRKE Alltag 2, S. 169–414.
16 Vgl. dazu die Bemerkungen von KOTSONIS Introduction, S. 1–4, der die russische Entwicklung ab dem
letzten Drittel des 19. Jahrhunderts in den größeren Zusammenhang der europäischen Moderne stellt.
Die für die russische Geschichte in diesem Zeitraum bestimmenden Jahrzahlen 1861, 1905, 1917 (so­
wie, als Ende des Spannungsbogens der Moderne, 1929) versteht er weniger als Brüche denn als
Marksteine, denen je nach Ausgangspunkt und Thematik der Auseinandersetzung mit der Geschichte
unterschiedliche Bedeutung zukommt. Man müsste, zusätzlich zu 1861, auch 1864 als das Jahr der
Justizreform in die Reihe aufnehmen.
17 Zu Sibirien im Verhältnis zu Russland vgl. GOEHRKE Das „andere Russland“, S. 123–150, zum Ver­
bannungssystem bes. S. 135–141, BASSIN Imperialer Raum, S. 378–403, zum Verbannungssystem bes.
S. 384–387, WOOD Introduction, S. 1–16, zum Verbannungssystem bes. 6f. und 11, sowie die posthum
veröffentlichte Studie von Otto Hoetzsch zu Russland und Asien, vgl. HOETZSCH Russland, S. 50–65
(zu Sibirien). Auch STEPHAN Far East, S. 68–70, geht in seiner grundlegenden regionalen Studie kurz
auf das Verbannungssystem ein, allerdings sehr undifferenziert. STOLBERG Raumerschließungspro­
zesse, S. 315f., beklagt das Fehlen sozial- und kulturgeschichtlicher Arbeiten zur Erschließung Sibiri­
ens; vgl. auch STOLBERG Pazifik, S. 293f. und 300f. Zeitgenössisch zu Sibirien als Kolonie u.a. JADRIN­
CEV Sibir’, zum Verbannungssystem bes. S. 171–227, und STOLYPIN/KRIWOSCHEÏN Kolonisation (eine
Denkschrift im Zusammenhang mit den Umsiedlungsvorhaben der Regierung Stolypin). Zum Kolo­
nialismusdiskurs des ausgehenden Zarenreichs auch SUNDERLAND Colonization Question, S. 210–232.

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1.1. Zum Thema

Nachdenken über Traditionen und Brüche, Kontinuität und Kontingenz über das Datum
von 1917 hinaus Anlass.
1.2. Fragestellung und Aufbau
Diese Arbeit stellt die Frage nach dem Charakter und der Funktion der politischen Kat­
orga in ihren Mittelpunkt. Inwieweit lässt sich die Zwangsarbeit als disziplinierende
Besserungsstrafe verstehen, inwieweit und in welcher Form stand der repressive Akt der
Bestrafung im Vordergrund? Welche Bedeutung kam dabei der Häftlingsgesellschaft ei­
nerseits und der – vordergründig durch die Gefängnisadministration repräsentierten –
Obrigkeit anderseits zu, welche Wechselwirkungen prägten deren Beziehung, wie stand
es um die Machtverhältnisse in diesem Gefüge? Aufschluss darüber vermögen beson­
ders die Freiräume im Gefängnis zu geben – wie groß waren sie, wie wurden sie von
den Häftlingen genutzt, von wem beherrscht? Die Welt der Katorga in Ostsibirien und
auf Sachalin war eine „andere Welt“ – welche Bedeutung liegt in dieser Abgrenzung,
worin äußerte sie sich und inwiefern stand die „andere Welt“ mit der Außenwelt in
Kontakt? Zur Beantwortung dieser Leitfragen eignen sich Querschnitte am besten; sie
stellen zugleich Indikatoren zur Beurteilung des Charakters und der Funktion der Kat­
orga dar.
Ein erster Indikator ist der Weg der verurteilten Katorga-Häftlinge nach Osten mitsamt
seinen Prämissen: dem Warten im Gefängnis, dem Aufbruch, der langen Reise. Welche
Rolle spielte der Transport, die Bewältigung der Distanz zwischen den Gefängnissen im
europäischen Russland und der Welt der Katorga für die Betroffenen und unter welchen
Bedingungen fand diese Reise statt? Der Frage nach der Bedeutung des Ankommens
und der Wirkung der äußeren Bedingungen auf die Gefangenen – der Gefängnisbauten
und der diese umgebenden naturräumlichen Gestalt dieser „anderen Welt“ – gilt der
zweite Schnitt. Der dritte fragt nach der Organisation des Alltags der (politischen) Häft­
linge im Gefängnis und dessen Grundbedingungen bis hin zum Speiseplan. Viertens sol­
len die Arbeitsmöglichkeiten, die im Grunde per definitionem zur Katorga-Strafe ge­
hörten, in ihren verschiedenen Phasen, insbesondere hinsichtlich des Stellenwerts der
Arbeit für die Gefangenen, untersucht werden. Eng verknüpft mit dem dritten und vier­
ten Indikator ist der fünfte – das Verhältnis von politischen und kriminellen Häftlingen
in der Katorga; wie begegneten sich die beiden Welten, inwiefern konstituierten sie ge­
meinsam die Häftlingsgesellschaft, wie wirkten sich neue Katorga-Strafkonzepte aus?
Der sechste Querschnitt fragt nach der Bedeutung der Kultur- und Bildungsaktivitäten in
der Katorga und, damit verbunden, nach den Drähten zur Außenwelt. Was bedeutete es
für die Gefangenen, für die Obrigkeit und für den Strafvollzug insgesamt, wenn die
Häftlinge das Lesen, Lernen und Lehren, die politische Propaganda und kulturelle Akti­
vitäten in den Mittelpunkt ihres Alltags stellten? Auf welche Weise waren die Sträflinge
ans Geschehen außerhalb Ostsibiriens angebunden und welche Rolle spielten die Kon­
takte zur Außenwelt? Der siebente Schnitt schließlich will die Mechanismen der Kom­
munikation18 zwischen der Häftlingsgesellschaft und der Administration, die Frage der
18 „Kommunikation“ ist einer der Schlüsselbegriffe der kulturwissenschaftlichen Geschichtsschreibung
und wird in einem breiteren Sinn verstanden als „verständigungsorientierte, symbolisch vermittelte In­

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Proteste, Provokationen und der Fluchtversuche näher betrachten. Lässt sich die viel be­
schworene Dichotomie zwischen den beiden Seiten in ihrer Absolutheit rechtfertigen
oder beruhten die Auseinandersetzungen auf einem Wechselspiel zwischen Insassen und
Obrigkeit? Welche Motive standen hinter den Handlungsweisen der einen wie der ande­
ren Seite, und was sagen diese über die Machtverhältnisse aus? Welche Bedeutung kam
in diesem Kontext der Flucht zu, und welche Hindernisse stellten sich ihr entgegen?
Der Aufbau der Arbeit orientiert sich an dieser thematisch naheliegenden Reihen­
folge der einzelnen Querschnitte, wobei die Sachaliner Katorga wegen ihrer gänzlich an­
dersartigen Organisation in einem eigenen Unterkapitel kompakt behandelt wird. Die
Annäherung an die im zentralen Kapitel „Die Welt der Katorga“ untersuchten Indikato­
ren erfolgt schrittweise, gleichsam von außen nach innen. Die spezifischen Fragen, die
an die Quellen gerichtet werden, sollen im Spannungsfeld des ausgehenden Zarenreichs
einerseits eingebettet und in der Entwicklung der Katorga anderseits situiert werden.
Diese war, korrelierend mit den politischen Vorgängen, in den letzten Jahrzehnten des
Imperiums mehrfachen Brüchen unterworfen, die sich auf die Haftumstände direkt aus­
wirkten. Daher ist der Behandlung der spezifischen Fragen zum einen ein Abriss über
das Russische Reich im betrachteten Zeitraum vorangestellt, mit einem Schwerpunkt
auf der Justizreform, dem aufkommenden Terror und den polizeilichen Antworten dar­
auf; die gescheiterte Revolution von 1905, die in vielem charakteristisch für Macht und
Ohnmacht des Regimes ist, wird exemplarisch behandelt. Zum andern wird die „Topo­
graphie der Katorga“ – ihre geographischen, historischen und rechtlichen Aspekte – ent­
faltet. Teil dieser „Topographie“, gleich nach der Verortung der Katorga im Straf- bzw.
Verbannungssystem, ist auch der Weg nach Osten, in dem die Annäherung an die Welt
der Katorga durch die Bewältigung der Distanz direkt manifest wird. Daran schließt die
„Welt der Katorga“ mit ihren Auffächerungen an. Der Schlussteil versucht die Fäden
zusammenzuziehen und auf die leitenden Fragen zurückzukommen; Überlegungen zum
Verbannungssystem insgesamt und zu den zeitgenössischen Debatten darüber sind darin
eingeschlossen. Eine Einbettung in den Verbannungs- und Zwangsarbeitsdiskurs des 19.
und frühen 20. Jahrhunderts, der auch die britische und französische Verbannungspoli­
tik umfassen würde, kann im Rahmen dieser Arbeit und ihrer Fragestellung jedoch nicht
geleistet werden.19
Einem Blick über das Ende des Zarenreiches hinaus kann sich diese Studie allerdings
nicht gänzlich verschließen – nicht nur am Petersburger Troickij-Platz. Ihn zu negieren,
wäre insofern unehrlich, als diese Untersuchung aus einem Vorhaben hervorgegangen
ist, das sich vergleichend mit der Zwangsarbeit im spätzarischen Russland und in der
stalinistischen Sowjetunion beschäftigen sollte. Wenngleich dieses Projekt nicht reali­
teraktion“, so LINDNER Zeichen, S. 1758. Lindners Definition schließt an Jürgen Habermas’ „Theorie
des kommunikativen Handelns“ an, die Kommunikation als „verständigungsorientiert“ versteht
(HABERMAS Theorie 2, bes. S. 184f., mit Verweisen zu HABERMAS Theorie 1). Haumann wendet ein:
„Auch konflikt- oder gar gewaltorientierte Interaktion kann eine Form der Kommunikation sein“, vgl.
HAUMANN Geschichtsschreibung, S. 114. Davon geht auch diese Arbeit aus.
19 Dazu weiterführend die Aufsätze von Jonathan W. Daly, der eine gesamteuropäische Kon­
textualisierung der russischen Strafpolitik versucht: DALY Punishment, S. 341–362, und DALY Political
Crime, S. 62–100, sowie RABE Widerspruch, S. 22–32, der neben den westeuropäischen Mächten
auch das antike Rom berücksichtigt.

10

1.2. Fragestellung und Aufbau

siert werden konnte, hat die Beschäftigung mit den Gulag-Forschungen und -Erinne­
rungen Spuren hinterlassen; indem sie konzeptionell inspirierend war (besonders Anne
Applebaums opus magnum) oder, wo es wertvoll und treffend schien, zu einem Seiten­
blick auf die Lagerwelten des 20. Jahrhunderts anregte. Mehr als Gedankenanstöße las­
sen sich daraus aber nicht ableiten.20
1.3. Methodisches
Der Behandlung der Katorga im ausgehenden Zarenreich fehlte bisher das, was App­
lebaum im zweiten Teil ihres Buches für die sowjetischen Lager unternommen hat: den
Alltag, die Lebenswelt des Lagers systematisch nachzuzeichnen, um Aufschluss über
den Charakter, die Funktion, die Haftbedingungen zu erlangen.21 Ziel dieser Arbeit ist
es, mit Hilfe der thematischen Querschnitte, vor dem Hintergrund des Spannungsfelds
im ausgehenden Zarenreich, ein Panorama der Lebenswelten in der Katorga zu entwer­
fen,22 als Versuch einer facettenreichen, bewusst detailgenauen, mikrohistorisch inspi­
rierten Darstellung und Analyse des Alltags, um die Häftlingsgesellschaft, die In­
teraktion zwischen ihr und der Verwaltung und dadurch letztlich die Haftbedingungen
zu rekonstruieren und auf diese Weise das Thema neu anzugehen.23 Wenn dabei die Le­
benswelten der politischen Häftlinge im Vordergrund stehen, ist das auch dem Quellen­
korpus geschuldet, für das zu einem großen Teil auf Erinnerungsberichte zu­
rückgegriffen wurde. Delinquenten mit kriminellem Hintergrund haben kaum schriftli­
che Zeugnisse hinterlassen.
20 Von der neueren Gulag-Forschung, auf die mehrfach verwiesen werden wird, stechen, neben Anne
Applebaums Monographie, die im folgenden in ihrer englischen Originalfassung zitiert wird (APP­
LEBAUM Gulag), besonders der große Photoband von Tomasz Kizny (KIZNY Goulag; ebenfalls in der
französischen Originalausgabe zitiert) sowie Meinhard Starks Buch über Frauenschicksale im Gulag
(STARK Frauen) heraus.
21 Unter dem Titel „Life and Work in the Camps“, vgl. APPLEBAUM Gulag, S. 121–408.
22 Für HAUMANN Geschichtsschreibung, S. 114f., steht im lebensweltlich orientierten Zugang zur Erfor­
schung der Geschichte der „Mensch in seinen Verhältnissen“ im Mittelpunkt, wobei die individuelle
Wahrnehmung und Erfahrung stets in Bezug gesetzt ist zu anderen Menschen. „Bei einer solchen Per­
spektive besteht kein Gegensatz zwischen individueller Lebenswelt und gesellschaftlicher Struktur,
zwischen Mikro- und Makro-Geschichte, sondern die Lebenswelt bildet gleichsam die Schnittstelle, in
der sich Individuum und System bündeln.“ VIERHAUS Rekonstruktion, S. 13, definiert so: „Mit dem
Begriff ‚Lebenswelt‘ ist die – mehr oder weniger – wahrgenommene Wirklichkeit gemeint, in der so­
ziale Gruppen und Individuen sich verhalten und durch ihr Denken und Handeln wiederum Wirklich­
keit produzieren.“, bzw. ebd., S. 14: „Lebenswelt ist raum- und zeitbedingte soziale Wirklichkeit.“
Diese ist aber nicht in sich abgeschlossen und unwandelbar, wie er ebd., S. 18, präzisiert. Im Folgen­
den wird gleichwohl gelegentlich zwischen Mikro- und Makro-Ebene unterschieden, ohne in diesen
einen Gegensatz sehen zu wollen, sondern im Sinne von Rudolf Vierhaus’ Definition der kulturhisto­
rischen Forschung, die „gleichsam vom Punktuellen zum Allgemeineren, vom Detail zum Ganzen“
gehe, VIERHAUS Rekonstruktion, S. 23.
23 MEDICK Mikrohistorie, S. 217, schreibt: „Ein entscheidender Erkenntnisgewinn durch mikrohisto­
rische Verfahren besteht darin, Handlungsbedingungen, Handlungen und Deutungen der Menschen
ausgehend von einzelnen Personen und ihren wechselseitigen Verflechtungen und Abhängigkeiten zu
untersuchen.“ Er spricht auch von einer „experimentelle[n] Untersuchung sozialer Beziehungsnetze
und menschlicher Verhaltensweisen“, was im vorliegenden Fall in der Extremsituation des Gefäng­
nisses (Häftlingsgesellschaft, Obrigkeit) stattfindet.

11

OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN Mitteilung Nr. 56

Dieses Quellenkorpus soll, unter einem kulturhistorisch-alltagsgeschichtlichen Blick­
winkel, gleichsam „gegen den Strich“ gelesen werden. Mindestens ebenso sehr wie die
offensichtlichen Schilderungen interessieren die Nebenaspekte und Details, die den Fa­
cettenreichtum des Alltags im Gefängnis, selbstverständlich stets unter Berücksichti­
gung der quellenkritischen Problematisierung des Genres, dokumentieren. Kultur­
wissenschaftlich inspiriert ist der Ansatz nicht nur durch den lebensweltlich-mikrohisto­
rischen Quellenzugang und die Verwendung von Erinnerungsberichten als zentrale
Quellengattung. Zurückhaltend wird auch auf literarisierte Erinnerung und Dokumenta­
tion zurückgegriffen.24 Konzeptionell hat sich der raumhistorische Ansatz für die Be­
handlung des Wegs nach Osten als besonders fruchtbar erwiesen. Er schärft den Blick
für die Distanz zwischen dem europäischen Russland und den Schauplätzen der Katorga
in Ostsibirien und auf Sachalin und für deren Bewältigung durch die Häftlinge; der ei­
gentlichen Kern der Verbannung wird dadurch verdeutlicht – und in der Folge auch die
Bedeutung des Topos „Welt der Katorga“.25
Schließlich ist es unumgänglich, bei der Untersuchung des Besserungs-, Diszi­
plinierungs- und Repressionscharakters der Katorga-Strafe auf Michel Foucault zu ver­
weisen.26 Wie sehr dessen Theorien, die an westeuropäischen Entwicklungen, besonders
in Disziplinierungsinstitutionen (Gefängnis, Armee, Schule, Fabrik), im Übergang vom
Ancien Régime zu liberaler Bürgerlichkeit orientiert sind, jedoch auf den russischen
Kontext übertragen werden dürfen bzw. im russischen Kontext überhaupt sinnvoll sind,
ist ein strittiger Punkt. Fraglos müsste eine konsequente Bezugnahme auf Foucault fun­
diert hergeleitet und kontextualisiert werden.27 Die Spezifik der Entwicklung im Russi­
schen Reich lässt Laura Engelstein daran zweifeln, dass Foucaults Urteile eins zu eins
auch für die Vorgänge im Zarenreich anzuwenden sind. Sie erkennt die Disziplinierung,
die nach Foucault im bürgerlich-liberalen Staat unter wissenschaftlich-fortschrittlichen
Prämissen von diesem zwar reguliert wird, aber in großem Maße ein sozialer, breiter ab­
gestützter Kontrollmechanismus ist, in Russland als einen allein staatlichen und – in ex­
tremis in der Sowjetunion – außerhalb des Rechts stehenden Vorgang, was ihn vom
24 Für die Anwendung von Ansätzen der neueren Kulturgeschichte auf die russische Geschichte vgl. die
Studie von STADELMANN Russland, bes. S. 10–14 und 117–119. Zur „lebensweltlichen“ Neu-Lektüre
bekannter Quellen vgl. VIERHAUS Rekonstruktion, S. 22.
25 Vgl. auch den Abschnitt „‚Russischer Raum‘ als Phantasma und Reales“ bei SCHLÖGEL Im Raume, S.
394–396.
26 Für die vorliegende Arbeit primär das Werk „Überwachen und Strafen“, wo Foucault den Diszi­
plinierungsvorgang anhand der sich verändernden Strafgewohnheiten (Seele statt Körper im Mittel­
punkt, ebd., S. 25) in einzelnen Schritten („Marter“, „Bestrafung“, „Disziplin“, „Gefängnis“) nach­
zeichnet und die Bestrafung als komplexe gesellschaftliche Funktion erkennt, in der nicht mehr bloß
die „Repression“ im Vordergrund stehe (S. 34). „Macht“ und „Wissen“ vereinigen sich und perfek­
tionieren das Disziplinarwesen, das nach Foucault letztlich die gesamte liberale Gesellschaft erfasst
(„Und alle in der Gesellschaft angelegten Disziplinareinrichtungen bilden zusammen das große Ker­
kernetz“, S. 385).
27 Jüngst hat Julia Obertreis in einer Rezension der Studie von Sebastian Priess über Lagerhaft-Diskurse
zur Sowjetzeit nachdrücklich darauf hingewiesen, vgl. OBERTREIS [Priess], S. 1867. PRIESS Strafe, bes.
S. 40–52, wendet in seiner literaturwissenschaftlichen Arbeit Foucaults Ansätze auf die russische, be­
sonders die sowjetische, Strafpraxis an, ohne je die Frage der Übertragbarkeit dieser im französischen
bzw. westeuropäischen Kontext erarbeiteten Thesen auf Russland auch nur ansatzweise zu prob­
lematisieren.

12

1.3. Methodisches

französischen Kontext Foucaults (bürgerliches Staatswesen) wesentlich unterscheidet.28
Im Folgenden wird, stets unter der Prämisse der nicht leichtfertig möglichen Übertrag­
barkeit der Modelle Foucaults, zuweilen auf Parallelen oder auf Foucaultsche Thesen
verwiesen, ohne dass diese aber der Arbeit zugrunde gelegt würden.29
1.4. Quellen
Das Quellenkorpus dieser Arbeit besteht zur Hauptsache aus Erinnerungsberichten von
Personen, die in unterschiedlichen Umständen mit dem Verbannungssystem und beson­
ders der politischen Zwangsarbeit in Ostsibirien und auf Sachalin in Berührung kamen –
als politische Häftlinge, als russische oder als ausländische Reisende. Bei der insgesamt
umfangreichsten und in dieser Studie am intensivsten bearbeiteten Quellengruppe han­
delt es sich um Selbstzeugnisse ehemaliger politischer Katorga-Häftlinge und eines frü­
heren Kommandanten verschiedener Katorga-Gefängnisse. Eine Differenzierung und
Problematisierung drängt sich auf, weil die Forschungsgeschichte mit ihren stark ideolo­
gischen Vorzeichen und die grundsätzliche Herausforderung, die Erinnerungstexte für
die historische Forschung darstellen, hier in besonderem Masse verschmelzen. Ein
großer Teil dieser Erfahrungsberichte aus der sibirischen und Sachaliner Katorga ist mit
Unterstützung der Gesellschaft der ehemaligen politischen Zwangsarbeiter und Ver­
bannten zwischen 1921 und 1935 veröffentlicht worden, besonders zahlreich in deren
Zeitschrift „Katorga i ssylka“ sowie in gesondert herausgegebenen Sammelbänden, un­
ter anderem zu Frauen in der Katorga. Die Autoren entstammen daher dem mit der Ge­
sellschaft verbundenen Kreis linker Revolutionäre, der allerdings die anfänglich gegen­
über linkem Pluralismus offenere sowjetische Politik der zwanziger Jahre wider­
spiegelte.30 Die Texte, die in diesem Kontext erschienen sind, atmen in besonderem
Masse den Duft ihrer Erscheinungszeit. Oft stellen sie die Fortführung des revolutio­
nären Kampfs im Gefängnis ins Zentrum. Dadurch gelangen insbesondere Schilderun­
gen von der Auflehnung gegen das Gefängnisregime zur Darstellung, was zu Verzer­
rungen führt. Die Erinnerungen lassen sich aber nicht über einen Leisten schlagen; viele
Texte beschränken sich nicht nur auf markante Begebenheiten, sondern schildern den
Alltag in der Katorga und vermitteln dadurch ein insgesamt farbiges und nicht allein
von heroischem Kampf gezeichnetes Bild, das aufschlussreichen Einblick in das soziale
28 ENGELSTEIN Combined Underdevelopment, S. 344, 353 und 381. Auch DALY Punishment, S. 362, hält
fest, dass im ausgehenden Zarenreich die Gesellschaft unfähig gewesen sei, disziplinierende Funk­
tionen wahrzunehmen.
29 Zum Problem der Übertragbarkeit von Modellen auf Russland, die anhand westeuropäischer Gesell­
schaften entwickelt wurden, vgl. HELMEDACH Gewalt, S. 228, für Gewalt-, Modernisierungs- und Zi­
vilisationskonzepte.
30 Larisa Kolesnikova hat 1999 systematische Untersuchungen zum Quellenkorpus von „Katorga i ssyl­
ka“ durchgeführt und dabei auch die Entwicklung der Zeitschrift 1921 bis 1935 nachgezeichnet, vgl.
KOLESNIKOVA Memuaristika, S. 38–47. Zur Typologisierung und politischen Verortung der memoiris­
tischen Quellen aus „Katorga i ssylka“ vgl. KOLESNIKOVA Memuaristika, S. 50–66, bes. 50f. und 63–
66. Die Zeitschrift räumte, ab den dreißiger Jahren gegen alle Widerstände und zuletzt erfolglos, den
Erinnerungsberichten viel Platz ein, obwohl deren Subjektivität allseits gerügt wurde. Die publizierten
Texte widerspiegeln deren Entstehungs- bzw. Publikationszeit, was stets zu berücksichtigen ist. Fer­
ner weist Kolesnikova auf die oft mangelhaften Informationen über die Autoren und deren Parteizuge­
hörigkeit hin; beides würde eine Verortung der Memoirentexte erleichtern.

13

OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN Mitteilung Nr. 56

Gefüge und den Charakter des zarischen Zwangsarbeitssystems gibt. Quellenkritisch
problematisch ist der einseitige Hintergrund, vor dem die Texte geschrieben und veröf­
fentlicht wurden, gleichwohl. Diese stehen im Spannungsfeld von individuellem und
„organisiertem“ Erinnern im Rahmen der Gesellschaft der ehemaligen politischen
Zwangsarbeiter und Verbannten bzw. ihrer Zeitschrift. Kritik wurde vor allem an den
„subjektiven“ Schilderungen der Texte geübt, und es ist anzunehmen, dass dies auch zu
redaktionellen Bearbeitungen der Beiträge geführt hat, deren Spuren verwischt sind.31
Der Vorwurf der „Subjektivität“ steht im Zusammenhang mit der zunehmend rigideren
Kulturpolitik Ende der zwanziger Jahre und mit strengeren Maßstäben an die „objekti­
ve“ marxistische Geschichtsschreibung. Er prägte während der folgenden Zeit die so­
wjetische Auseinandersetzung mit den Memoirentexten zu Katorga und Ssylka, wie die
neuere Untersuchung von Larisa Kolesnikova zum Quellenwert der „Katorga i
ssylka“-Erinnerungen zeigt, und wird bis heute, etwa bei Moškina, kritisiert.32 Diese den
Texten inhärente „Subjektivität“ und tendenziöse Darstellung gilt es stets zu reflektieren
und zu problematisieren. Das Nebeneinanderstellen vergleichbarer Memoirentexte und
die Kontextualisierung mittels weiterer Quellengattungen und Forschungsliteratur ist
unabdingbar, besonders auch vor dem Hintergrund der Erinnerungs- und Selbstzeugnis­
forschung.33
Die „Subjektivität“ und die Kritik daran gewinnt aber dort eine zusätzliche pikante
Note, wo es in der Natur des Memoirentextes liegt, dass er eine andere Sichtweise dar­
bringt als die von der Herausgebergesellschaft gepflegte: bei der Erinnerung des abkom­
mandierten
Armeeoffiziers,
Kommandanten
verschiedener
Gefängnisbewa­
chungseinheiten und interimistischen Gefängnisvorstehers Gennadij Čemodanov. Diese
einzigartige Quelle, die bisher noch nicht gebührend ausgewertet wurde, schildert aus
der Perspektive der Gefängnisobrigkeit die Zustände in verschiedenen Katorga-Gefäng­
nissen im Kreis Nerčinsk zwischen 1908 und 1914. Im Vorwort zu dem Band, der eben­
falls in der Reihe der Gesellschaft der ehemaligen politische Zwangsarbeiter und Ver­
31 Vgl. das Vorwort der Herausgeber im Sammelband „Nerčinskaja katorga“, Ot sostavitelej, S. 6, wo
von einer „kollektiven Methode der Überarbeitung“ die Rede ist.
32 KOLESNIKOVA Memuaristika, S. 14–18. Sie verweist auf die Marginalisierung des Individuellen im auf­
kommenden Stalinismus, in deren Folge auch die Memoirenliteratur für mindestens zwei Dekaden
verpönt war, nachdem sie sich in den zwanziger Jahren großer Beliebtheit erfreut hatte. Als eine Spe­
zifik der sowjetischen Memoiren dieser Zeit gilt nach Ansicht Kolesnikovas der analytische Stil dieser
Texte, der die Grenzen zwischen Erinnerung und Forschungsliteratur verwischt habe, vgl. ebd. S. 14.
Kolesnikovas Studie ist ein wertvoller Beitrag zur quellenkritischen Auseinandersetzung mit den Be­
ständen der Zeitschrift „Katorga i ssylka“. Vgl. auch die Bemerkung im Eintrag in der Sovetskaja is­
toričeskaja ėnciklopedija zur Zeitschrift, KRAMAROV „Katorga i ssylka“, Sp. 124, wo auf „subjektive
Bewertungen“ und „faktische Fehler“ hingewiesen wird, ohne aber den Quellenwert der Beiträge
grundsätzlich in Frage zu stellen. Zur heutigen Forschung MOŠKINA Katorga, S. 11.
33 Zur Erinnerungs- und Selbstzeugnisforschung ist die Literatur mittlerweile äußerst zahlreich. Einen
konzisen Überblick über die Problematik des Erinnerns und dessen Selektivität, Veränderung und
Kontextgebundenheit gibt WELZER Gedächtnis, S. 155–174. Eine Kategorisierung von Selbstzeug­
nissen nimmt KRUSENSTJERN Selbstzeugnisse, S. 462–471, anhand des 17. Jahrhunderts vor. Für die
vorliegenden Erinnerungstexte passt die von Jochen Hellbeck und Klaus Heller für Russland bzw. die
Sowjetunion geprägte Begrifflichkeit der „autobiographischen Praxis“ gut, vgl. HELLBECK Introductio­
n, S. 11–24, bes. S. 12f. Zum Umgang mit autobiographischen Texten und zu deren Quellenwert für
soziale und materielle Verhältnisse und kulturelle Praktiken vgl. STEPHAN Leben, bes. S. 10–13.

14

1.4. Quellen

bannten erschien, werden zwar die andere, „offizielle“ Sicht und der „ruhige Ton des
Beobachters“34 gewürdigt. Gleichzeitig wird aber die „Unvollständigkeit“ in der Beurtei­
lung der Ereignisse und Personen festgestellt und herablassend auf die „kleinbürgerliche
Umgebung“ des Autors als Grund dafür verwiesen.35 Dem Bericht Čemodanovs ange­
fügt wurde daher ein weiterer Bericht eines Häftlings.36 Fragwürdiger als dies ist aller­
dings die Bemerkung, die Veröffentlichung sei ein „interessantes kollektives Werk“, in
das auch Anregungen von Seiten der Mitglieder der Gesellschaft eingeflossen seien und
das entsprechend vom Autor „vervollständigt“ worden sei, besonders in Bezug auf Be­
wertungen von Vorgängen.37 Die Eingriffe in den Text sind aber nicht rekonstruierbar.
Diesem gewichtigen Vorbehalt zum Trotz – der im Folgenden stets problematisiert wird
– ist die seltene Perspektive dieser Erinnerung es wert, berücksichtigt zu werden.
Nicht alle verwendeten Selbstzeugnisse von Beteiligten stammen aus den Beständen
von „Katorga i ssylka“. Erste Erinnerungen wurden bereits Ende des 19. und zu Beginn
des 20. Jahrhunderts publiziert, also noch unter dem alten Regime, so etwa Petr Jakubo­
vičs (L. Mel’šins) zweibändiges, an Dostoevskij geschultes Werk „V mire otveržen­
nych“ („Im Lande der Verworfenen“) oder Beiträge ehemaliger Häftlinge, die in Journa­
len des ausgehenden Zarenreiches wie „Russkoe bogatstvo“ erschienen – mithin unter
anderen politischen Umständen. Dasselbe gilt für Leo Deutsch (Lev Dejč), dessen Er­
innerungen ebenfalls schon vor 1917 erschienen.38 Wie die Autoren, die nach der Revo­
lution von 1917 an die Öffentlichkeit traten, entstammten auch diese Memoiristen dem
linken, revolutionären Lager. Angesichts der Fülle an greifbaren Memoirentexten be­
schränkt sich die Auswahl auf eine vergleichsweise kleine Zahl von Beiträgen, wobei
Erinnerungen aus der Zeit zwischen 1880 und 1905, die als eine erste Phase der poli­
tischen Katorga im betrachteten Zeitraum gelten kann, und aus den Jahren nach der Re­
volution von 1905, die eine zweite Phase der Zwangsarbeit im ausgehenden Zarenreich
darstellen, einigermaßen ausgewogen zu berücksichtigen waren.39
Eine gänzlich andere Perspektive nehmen die Berichte jener ein, die als Reisende und
Berichterstatter nach Ostsibirien und Sachalin gekommen waren.40 Das russische Ver­
bannungssystem in Sibirien stieß bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert in der angel­
sächsischen Welt auf Interesse. Der britische Pastor Henry Lansdell hat in den 1870er,
der amerikanische Journalist George Kennan in den 1880er und der britische Publizist
Harry De Windt in den 1890er Jahren Ost- und Westsibirien sowie Sachalin besucht.
34 ČEMODANOV Katorga, S. 3.
35 ČEMODANOV Katorga, S. 4.
36 Gewürdigt wird bei dem Bericht von TIPUNKOV O tom, S. 130–156, die andere Perspektive und ins­
besondere die „kämpferische Sprache“, ČEMODANOV Katorga, S. 5. Bezeichnend ist der Titel des Bei­
trags: „O tom, čto bylo“ („Über das, was war“), der bereits den Kontrapunkt zu Čemodanov markiert.
In der zweiten Auflage des Bandes wurden weitere Texte aus der Sicht ehemaliger Katorga-Häftlinge
angefügt, vgl. die Beiträge von PIROGOVA Konec, S. 168–172, und ŽUKOV Katorga, S. 173–181.
37 ČEMODANOV Katorga, S. 5.
38 DEUTSCH Sechzehn Jahre.
39 GORJUŠKIN Predislovie, S. 8f., teilt anders ein: 1861–1895, 1895–1917. Zur Periodisierung der poli­
tischen Katorga vgl. Kap. 3.1.
40 Zum Reisebericht als historische Quelle vgl. GOEHRKE Reisen, S. 29–45, bes. 34–38, und BAUERKÄMPER
et al., Einleitung, S. 21–25.

15

OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN Mitteilung Nr. 56

Alle drei haben, mit unterschiedlicher Stoßrichtung, ihre Eindrücke veröffentlicht.41
Während Lansdell und De Windt weitgehend positive Schilderungen der Ssylka und Ka­
torga nach Hause brachten und die russischen Bemühungen zur Verbesserung der Lage
der Häftlinge würdigten, ist Kennans Opus eine einzige Anklage an den zarischen Staat.
Kennan hat damit – ähnlich wie Dostoevskij und Čechov von russischer Seite – die Vor­
stellungen von der Unmenschlichkeit des Verbannungssystems zu prägen und in die in­
nerrussische Debatte einzugreifen vermocht. Er wird in der heutigen Forschung über das
russische Straf- und Polizeisystem wegen seiner pointierten Darstellung immer wieder
der Undifferenziertheit bezichtigt.42 Allen Vorbehalten zum Trotz sind, hauptsächlich,
Kennans Schilderungen und, als Kontrastfolie dazu, jene De Windts für die heutige For­
schung von einigem Quellenwert. Lansdells Bericht fällt aus dem Zeitfenster heraus.
Verwiesen sei überdies auf die voluminöse Beschreibung Sachalins durch den britischen
Gelehrten Charles H. Hawes, der zehn Jahre nach De Windt die Insel besuchte, For­
schungen betrieb und auch dem Verbannungssystem, allerdings praktisch ausschließlich
den kriminellen Verbannten und Zwangsarbeitern, Aufmerksamkeit schenkte.43
Eine zweite Sichtweise „von außen“ liefern zeitgenössische Berichte russischer Pu­
blizisten und Schriftsteller. Vom vor allem als belletristischer Autor in der zweiten
Hälfte des 19. Jahrhunderts hervorgetretenen Sergej V. Maksimov ist das dreibändige,
auf eigenen Reiseeindrücken beruhende Opus „Sibir’ i katorga“ („Sibirien und die Kat­
orga“) zu erwähnen. Dieses Werk ist zwar von dokumentarischem Wert, tritt in dieser
Arbeit aber hinter andere Beiträge zurück, weil Maksimovs Schilderungen vornehmlich
die sechziger Jahre betreffen. Der russische Journalist Vlas M. Doroševič hat Ende des
41 LANSDELL Trough Siberia; KENNAN Siberia I und II; DE WINDT Siberia.
42 Nicht nur KACZYNSKA Gefängnis, S. 110, relativiert Kennans Eindrücke und weist sie seiner Be­
einflussung durch die Erzählungen politischer Gefangener über bereits zurückliegende Ereignisse zu,
auch ADAMS Punishment, S. 4–6, der sich im Rahmen der Gefängnisreformen mit Kennans Schilde­
rungen befasst, verweist Kennan ziemlich barsch ins Reich der Übertreibungen. Die Kritik ist insofern
angebracht, als Kennans Darstellung zum einen darunter leidet, dass er oft aus einem amerikanischen
Blickwinkel argumentiert und das Verbannungssystem zu wenig in den russischen Kontext setzt. Zum
andern hatte er gerade zum zentralen Ort der damaligen politischen Katorga, dem Gefängnis an der
Kara (vgl. Kap. 3.1.), keinen Zutritt; was er schildert, beruht auf Erzählungen und Berichten von ehe­
maligen Häftlingen. Besonders interessant ist die Prämisse von Kennans ausgedehnter Reise zwischen
St. Petersburg und Transbaikalien: Er trat sie mit dem festen Ziel an, den amerikanischen Kritikern
die Vorzüge des russischen Verbannungssystems zu schildern; daher erhielt er in St. Petersburg einen
staatlichen Freipass für seine Reise, ohne den die Recherchen und der Kontakt mit den zahllosen poli­
tischen Verbannten nicht möglich gewesen wäre. Erst durch seine Begegnungen mit den Betroffenen
und den Augenschein in den Gefängnissen wandelte er sich vom Saulus zum Paulus. Die Rezeption
von Kennans Werk und seinen Quellenwert behandelt MELAMED „Sibir’ i ssylka“, S. 56–66. Er ver­
gleicht die Wirkungsmacht des Reiseberichts mit Aleksandr Solženicyns „Archipel Gulag“ (ebd., S.
56). Was den Quellenwert anbelangt, plädiert er dafür, dass heutige Ausgaben von Kennans Werk
sorgfältig ediert und kommentiert werden müssen (ebd., S. 64). Genau daran mangelt es einer vor kur­
zem erschienenen, stark gekürzten deutschsprachigen Ausgabe von Kennans Opus (KENNAN Sibirien);
nicht nur die Kürzungen werden nirgends begründet, auch die Einbettung in einen historischen Kon­
text fehlt. Da es sich um die momentan einzige lieferbare deutsche Übersetzung handelt, ist dies umso
bedauerlicher.
43 Vgl. HAWES Uttermost East, und die einführenden Bemerkungen von Collins, Introduction, S. xi–xii.
Hawes schreibt über Sachalins Geschichte, aber auch über naturwissenschaftliche und ethnologische
Aspekte der Insel.

16

1.4. Quellen

19. Jahrhunderts die Sträflingskolonie Sachalin besucht und einen sehr kritischen Reise­
bericht über das Verbannungssystem auf der Insel geschrieben; sein Fokus liegt aber auf
den kriminellen Sträflingen, weshalb er in dieser Studie nur am Rand berücksichtigt
wird.44 Eine Quelle eigener Gattung stellt Anton Čechovs bereits erwähnter Reisebericht
„Ostrov Sachalin“ dar, der auf Čechovs mehrwöchigen Aufenthalt auf der fernöstlichen
Insel zum Studium der Verhältnisse der Zwangsarbeiter und Verbannten 1890 zurück­
geht. Im Unterschied zu den Beobachtungen der übrigen außenstehenden Reisenden
changiert Čechovs eindrücklicher, in seiner knappen Sprache so sachlich scheinender
wie detaillierter Bericht zwischen Dokumentation und Literatur. Seine Verwendung als
historische Quelle ist daher besonders zu reflektieren. Dazu kommt, dass sich auch
Čechov – gezwungenermaßen – zur Hauptsache mit kriminellen Häftlingen beschäftig­
te.45 Eine Position zwischen Innen- und Außensicht aus russischer Warte stellen die Er­
innerungen Alfred Graf Keyserlings dar. Dieser deutschbaltische, in St. Petersburg aus­
gebildete Adlige stand Ende der 1880er Jahre im Dienst des Generalgouverneurs für das
Amur-Gebiet und war von diesem interimistisch mit der Verwaltung der Katorga-Ge­
fängnisse im Kara-Tal betraut worden.46 Sein farbig geschriebener, mit vielen Anekdo­
ten zum Verbannungssystem und zu Sibirien insgesamt ausgeschmückter Bericht gibt
Aufschluss über Missstände in der Katorga der Kriminellen aus der Sicht eines im Ge­
fängniswesen unerfahrenen, aber in leitender Position tätigen Beamten; die „Politi­
schen“ waren ihm nicht zugeordnet.
Zu der doppelten Perspektive aus dem Innern der Katorga – durch die Erinnerungen
von Häftlingen und von Gefängnispersonal – und zum Blick von außen durch die Brille
des ausländischen oder russischen Reisenden und kommt ein vierter Quellenkomplex
hinzu: Rapporte von Gefängniskommandanten und Anweisungen von höheren Verwal­
tungsstellen der Gefängnishauptverwaltung (Glavnoe upravlenie tjur’my, GTU) oder
von regionalen Bevollmächtigten (Gouverneuren) sowie Korrespondenzen zwischen den
einzelnen Positionen. Die in der Arbeit verwendeten Dokumente wurden Ende der
zwanziger und Anfang der dreißiger Jahre in die Sammelbände der Gesellschaft der ehe­
maligen politischen Zwangsarbeiter und Verbannten aufgenommen. Für die Zeit bis zu
den achtziger Jahren existiert überdies ein vor rund zehn Jahren von Leonid M. Gor­
juškin herausgegebener Dokumentenband zu Katorga und Ssylka.
Die Bände von „Katorga i ssylka“ finden sich in einer Reprint-Ausgabe von 1971 in
der Zentralbibliothek Zürich; allerdings fehlen die ersten und die letzten zwei Jahr­
gänge. Auch „Russkoe bogatstvo“ liegt in einem Reprint vor. Die Sammelbände – „Ka­
ra i drugie tjur’my Nerčinskoj katorgi“, „Nerčinskaja katorga „ und „Na ženskoj kator­
ge“ – sowie der Band von Čemodanov (zwei Auflagen) entstammen den Beständen der
Staatsbibliothek Berlin.
44 DOROŠEVIČ Sachalin.
45 Zu Čechovs Sachalin-Buch als historischer Quelle vgl. THOMAS „Die Insel Sachalin“, S. 149–158, wo
besonders auf die Zensur und Überwachung, vor allem hinsichtlich der Begegnung mit politischen
Verbannten, hingewiesen wird, die für die Beurteilung der literarischen Dokumentation zentral sind
(vgl. S. 152f.). Thomas plädiert für die Berücksichtigung des Werks als historische Quelle (S. 158),
sofern dessen Genese reflektiert wird.
46 Die 1937 auf Deutsch erschienenen Erinnerungen enthalten zuweilen Ungenauigkeiten; so werden
Gefängnisnamen verwechselt (Akatuj und Algači).

17

OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN Mitteilung Nr. 56

1.5. Historiographiegeschichte und Forschungsstand
Die sowjetische Historiographie hat dem zarischen Verbannungssystem nicht geringe
Aufmerksamkeit geschenkt, allerdings in spezifischer Perspektive. In den zwanziger und
frühen dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts beschäftigten sich vorwiegend
ehemalige Betroffene – Verbannte, Gefängnisinsassen, Zwangsarbeiter – aus dem Kreis
der Gesellschaft der ehemaligen politischen Zwangsarbeiter und Verbannten damit und
publizierten unter anderem in der von ihnen herausgegebenen, bereits erwähnten Zeit­
schrift „Katorga i ssylka“ umfangreiche Studien, Erinnerungsberichte und Nekrologe
von Mithäftlingen. Durch den politischen Paradigmenwechsel im Stalinismus rückte die
Auseinandersetzung mit dem Thema in den Hintergrund.47 Ab der zweiten Hälfte der
fünfziger und besonders ab den frühen siebziger Jahren kehrte das Interesse am Thema
zurück und es erschienen zahlreiche Sammelbände mit Beiträgen sowjetischer Histo­
riker, die einzelne Facetten des Verbannungssystems behandelten.48 Gemeinsam ist ih­
nen, dass ihr Interesse praktisch ausschließlich den politischen Häftlingen galt und sie
die Geschichtsschreibung über das Verbannungssystem auf den Kontext des revolutio­
nären Kampfs wider die Autokratie reduzieren.49 Die Forschungen seit den siebziger
Jahren rückten vor allem die Ssylka in den Vordergrund, welche die Katorga bezüglich
des Umfangs um das Vielfache übertraf.50 Die wichtigsten Exponenten der bolschewis­
tischen Revolution hatten Jahre in der gewöhnlichen Verbannung und nicht in der
Zwangsarbeit verbracht; am bekanntesten ist zweifellos Lenins Aufenthalt am Oberlauf
47 Zur Entwicklung der Zeitschrift 1921 bis 1935 vgl. KOLESNIKOVA Memuaristika, S. 38–47. Die Zeit­
schrift veröffentlichte neben Rezensionen, Memoiren und Forschungsaufsätzen auch Archivmateriali­
en zur revolutionären Bewegung, vgl. KRAMAROV „Katorga i ssylka“, Sp. 124. Sie wurde im Zuge der
Auflösung der Gesellschaft 1935 aufgehoben; schon vorher verschwand sie aus den öffentlichen Bi­
bliotheken, wie KOLESNIKOVA Memuaristika, S. 46f. und 63, berichtet, weil sie, einigermaßen pluralis­
tisch ausgerichtet, Positionen vertreten hatte, die ab den frühen dreißiger Jahren nicht mehr akzeptiert
waren. Auch in der späteren sowjetischen Forschung wurde darauf verwiesen; so hält CHASIACHMETOV
Sovetskaja istoriografija, S. 34, in seinem Aufsatz zur sowjetischen Historiographie über die sibi­
rische politische Verbannung 1905–1917 fest, die Beiträge in „Katorga i ssylka“ zeugten von „bour­
geoisem Objektivismus“ und „veralteten Ansichten“.
48 Leonid M. Gorjuškin betrieb in Novosibirsk im sibirischen Arm der Akademie der Wissenschaften
Forschungen zur Verbannung und gab verschiedene Sammelbände heraus; N. N. Ščerbakov betreute
an der Staatlichen Universität Irkutsk die Reihe „Ssyl’nye revoljucionery v Sibiri (XIX v. – fevral’
1917 g.)“, in der bis 1990 zwölf dünne Bändchen mit Forschungsbeiträgen erschienen. Darüber hin­
aus wurden zahlreiche Monographien publiziert. Einen Überblick über die sowjetische Historio­
graphie zur sibirischen politischen Verbannung 1905–1917 gibt CHASIACHMETOV Sovetskaja istoriogra­
fija, S. 31–49, zu den erwähnten Forschungsarbeiten bes. S. 39f.
49 Exemplarisch dafür ist die Einleitung zur ausführlichen Monographie zu Katorga und Ssylka von V.
N. Dvorjanov, in der ausgiebig Lenin zitiert wird, der die Vorbildrolle der Inhaftierten im Kampf ge­
gen die Autokratie betont hatte. Dvorjanov fasst zusammen: „Das Studium des mannhaften Kampfs
der Revolutionäre an den Orten der Katorga und Ssylka gegen die zarische Herrschaft dient als inspi­
rierendes Beispiel für die Kommunisten und Demokraten vieler kapitalistischer Länder, deren reaktio­
näre Regierende die Kämpfer für Frieden, Demokratie und Sozialismus Verfolgungen, Folter und
Strafen aussetzen.“, DVORJANOV V sibirskoj, S. 4.
50 Zu den Dimensionen und Konjunkturen der Katorga (und, in Abgrenzung dazu, der Ssylka) vgl. Kap.
3.1. (S. 35)

18

1.5. Historiographiegeschichte und Forschungsstand

des Enisej in der kleinen Ortschaft Šušenskoe zwischen 1897 und 1900.51 Zwar werden
– unter der erwähnten Prämisse – in den zahlreichen Sammelbänden aus Novosibirsk
und Irkutsk vielfältige Aspekte vor allem der Ssylka und, in geringerem Maß, auch der
Katorga beleuchtet, meist mit Hilfe von Archivmaterial. Der analytische Wert der Studi­
en ist allerdings zumeist gering; es werden vornehmlich Fakten und Zahlen aneinander­
gefügt und mitunter dramatisierende Schlüsse gezogen, die einer näheren Prüfung ohne
ideologische Scheuklappen nicht standhalten. Neuerdings wird die Irkutsker Reihe fort­
geführt, ohne dass aber die einzelnen Beiträge sich wesentlich vom Muster der sowjeti­
schen Forschung unterscheiden würden.52 Auf die einseitige Behandlung der Ssylka in­
nerhalb der sowjetischen Forschungen zum Zusammenhang der revolutionären Bewe­
gung und der Verbannung politischer Gegner des zarischen Regimes weist auch Zoja V.
Moškina hin.53 Ihre schmale, auf regionale und zentrale Archive gestützte neuere Studie
befasst sich daher ausschließlich mit der Katorga politischer Häftlinge, beschränkt sich
aber zeitlich auf das ausgehende 19. Jahrhundert und geographisch auf den Umkreis von
Nerčinsk.54
Zwangsarbeit und Verbannung fristen nicht nur in der gegenwärtigen russischen For­
schung eine Randexistenz. Die westlichsprachige Wissenschaft hat sich in den vergan­
genen Jahrzehnten und bis heute nur sehr stiefmütterlich mit diesem Kapitel russischer
Geschichte beschäftigt.55 Zurecht hat der britische Sibirienhistoriker Alan Wood Ende
der achtziger Jahre bemerkt, Kennans großer Reisebericht aus dem Jahr 1891 sei die
„neueste“ umfassende Darstellung des Verbannungssystems.56 Wood selbst, bis in die
1990er Jahre der einzige englischsprachige Historiker, der sich im Rahmen seiner Sibiri­
en-Forschungen explizit mit Verbannung und Zwangsarbeit beschäftigte, publizierte ei­
nige Aufsätze zum Verbannungssystem insgesamt.57 Seit einigen Jahren zählt auch der
in Australien lehrende Russlandhistoriker Andrew Gentes zu jenen, die sich des Themas
angenommen haben; er hat seine Dissertation, die allerdings (noch) nicht veröffentlicht
51 Vgl. dazu die Ausführungen bei DVORJANOV V sibirskoj, S. 104–125, sowie das entsprechende Kapitel
in der Lenin-Biographie von Robert Service (SERVICE Lenin, S. 151–176). Das relativ ruhige Leben,
das dem Revolutionär die Niederschrift seines Werkes „Die Entwicklung des Kapitalismus in Russ­
land“ erlaubte und ihn keineswegs von der revolutionären Bewegung abschnürte, wird mitunter als
Beispiel für die milden Seiten zarischer Strafpraxis angeführt – oft aber bei mangelnder Kenntnis des
Unterschieds zwischen Katorga und Ssylka. Weniger bekannt ist Stalins Verbannungsort Kurejka
nördlich von Turuchansk am Unterlauf des Enisej, ziemlich genau auf der Höhe des nördlichen Polar­
kreises. In den 1910er Jahren hielt sich rund um Turuchansk eine ganze „Kolonie“ führender Bolsche­
wiki auf, die miteinander im Kontakt standen, vgl. GOEHRKE Gegenwart, S. 94–102.
52 Die Reihe „Sibirskaja ssylka: sbornik naučnych statej“ wurde im Jahr 2000 begründet, die Zählung
beginnt mit vypusk 1; die dieser Nummer in Klammern angefügte Zahl 13 weist aber darauf hin, dass
an die Reihe „Ssyl’nye revoljucionery v Sibiri (XIX v. fevral’ 1917 g.)“ angeknüpft wird. Auch die
neue Reihe wird von N. N. Ščerbakov herausgegeben (vgl. Fussnote 48).
53 MOŠKINA Katorga, S. 9. Zur Forschungsgeschichte vgl. ebd., S. 6–9.
54 Die Studie ist an der Transbaikalischen Staatlichen Pädagogischen Universität in Čita verfasst wor­
den. Nerčinsk gehört zur oblast’ Čita (in zarischer Zeit Gouvernementshauptstadt). Sie bleibt, trotz
Archivstudien, dem sowjetischen Muster der Katorga-Historiographie treu.
55 Die westlichsprachige wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Verbannungssystem behandeln
aus sowjetmarxistischer Warte GORJUŠKIN/DERGAČEV Istoriki, S. 74–86.
56 WOOD Crime, S. 215 mit Anmerkung 4. Allerdings handelt es sich dabei natürlich nicht um eine wis­
senschaftliche Abhandlung.
57 WOOD Sex and Violence; DERS. Crime; WOOD Wild East.

19

OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN Mitteilung Nr. 56

ist, an der Brown University (USA) zur Geschichte des Verbannungssystems geschrie­
ben sowie auch weiterhin verschiedentlich dazu publiziert.58 Jocelyne Fenners Studie
„Le goulag des Tsars“ stützt sich praktisch ausschließlich auf literarische Werke, ist in
einem aufgeregten Ton gehalten und vermag einem wissenschaftlichen Anspruch nicht
Genüge zu leisten.59 Ein umfassenderes Werk zum Verbannungssystem der Zarenzeit,
das auch in deutscher Übersetzung vorliegt, hat die polnische Historikerin Elżbieta Kac­
zyńska zu Beginn der neunziger Jahre verfasst („Das größte Gefängnis der Welt“). Ihr
Anspruch, das Bild von der politischen Verbannung und Zwangsarbeit zu revidieren,
unter anderem durch die Erweiterung des Untersuchungsgegenstands auf die Kriminel­
len, ist zwar löblich, wird aber im Buch wegen der konventionellen Herangehensweise
nicht wirklich eingelöst. Überdies ist es sehr stark auf die polnischen Opfer des Verban­
nungssystems ausgerichtet, was sich im Quellenkorpus und in der verwendeten Literatur
niederschlägt.60 Da Gentes’ Dissertation nicht gedruckt vorliegt, ist ihr Buch aber derzeit
die umfassendste und aktuellste übergreifende Publikation zum Verbannungssystem.
Keine der erwähnten neueren Forschungen (mit Ausnahme der Studie Moškinas) richtet
den Fokus jedoch auf die Katorga.
Für einen neuen Zugang zur Katorga des ausgehenden Zarenreichs ist die Einbindung
in den neueren Forschungskontext der Geschichte des Russischen Reiches wichtig. Zum
Justiz-, Polizei- und Gefängniswesen, zur Strafpolitik und zu Fragen bürgerlicher Rech­
te im späten Russischen Reich liegt mittlerweile eine Reihe teilweise grundlegender
Studien vor. Volker Rabe hat die administrative politische Justiz untersucht und damit
auch einen Beitrag zur Erforschung des Verbannungssystems geleistet.61 Abby Schraders
Forschungen zu den Körperstrafen in Russland haben ihren Schwerpunkt zwar auf der
ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts; aber ihre Forschungen sind bedeutsam für die Ent­
wicklung der Katorga, und ihre Thesen lassen sich auch für Überlegungen zum Zu­
sammenhang von gesellschaftlichen Grenzen und Verbannung bzw. Zwangsarbeit in
späterer Zeit fruchtbar machen.62 Jörg Baberowskis breit angelegtes, fundamentales
Werk über die politische Justiz im autokratischen Staat und die im Umkreis davon ent­
standenen Aufsätze, Jonathan Dalys Arbeit über die Sicherheitspolizei und seine ver­
gleichenden Aufsätze zum Strafsystem – auch zum Verbannungssystem – und zur poli­
tischen Verfolgung im ausgehenden Zarenreich sowie Bruce Adams’ Buch über die Ge­
fängnisreformen, das sich allerdings nur am Rande mit politischen Straftätern ausein­
andersetzt, zeugen vom Versuch, Russlands spätimperiale Entwicklungen in einem ge­
samteuropäischen Kontext zu sehen.63 Der Topos der Rückständigkeit des Zarenreiches
58 Vgl. GENTES Roads (Angaben bei GENTES Siberian Exile, S. 197 in der Anmerkung zur Überschrift);
GENTES Siberian Exile; GENTES Sakhalin Policy; GENTES Katorga.
59 FENNER Goulag. Bereits die Bezugnahme auf den Gulag weist auf die problematische Seite dieses Bu­
ches hin.
60 KACZYNSKA Gefängnis.
61 RABE Widerspruch; vgl. auch den grundlegenden Beitrag im Handbuch der Geschichte Russlands zu
den Justizreformen (RABE Justiz, S. 1528–1576).
62 Vgl. besonders. den Aufsatz SCHRADER Branding the Exile, S. 19–40; eine erweiterte Fassung als Ka­
pitel in SCHRADER Languages, S. 78–111.
63 Vgl. zu den Justizreformen BABEROWSKI Autokratie (Monographie); BABEROWSKI Justizwesen; BABE­
ROWSKI Konstitution; zu den Polizeireformen der frühere Beitrag von LIEVEN Security Police, sowie
DALY Security Police; zum Strafwesen DALY Punishment, und DALY Political Crime; zu den Gefäng­

20

1.5. Historiographiegeschichte und Forschungsstand

gegenüber den westeuropäischen Imperien ist nicht mehr der zentrale Untersuchungs­
gegenstand. Vielmehr interessiert die Rezeption der europäischen geistesgeschichtlichen
Entwicklung in Russland, in deren Zusammenhang die Reformen stehen. So lassen sich
Erkenntnisse über das Umfeld, in dem sich die Reformen zu behaupten haben, ge­
winnen, um die Erneuerungsbestrebungen am tatsächlich Machbaren zu messen und
nicht an westeuropäischen Standards.64
1.6. Hinweise
Wegen der erst nach der Oktoberrevolution 1917 vollzogenen Kalenderreform vom ju­
lianischen zum gregorianischen Kalender werden alle Daten im alten Stil (also nach ju­
lianischem Kalender) angegeben. Im 19. Jahrhundert betrug der Rückstand auf den gre­
gorianischen Kalender 12, im 20. Jahrhundert 13 Tage.65 Die in Russland gebräuchli­
chen Maße und Gewichte werden bei ihrer Erwähnung umgerechnet.66 Alle russischen
Eigennamen (mit Ausnahme der Herrscher67) und Begriffe (mit Ausnahme gängiger Be­
zeichnungen wie Zar, Bolschewiki) werden nach den wissenschaftlichen Richtlinien
transliteriert.68 Erscheinen sie im Fließtext oder in den Fußnoten, so werden sie kursiv
gesetzt, ebenso wie andere fremdsprachige Begriffszitate. Ausgenommen davon sind die
beiden zentralen Termini des Verbannungssystems, „Katorga“ und „Ssylka“; sie werden
wie ein Fremdwort behandelt. Außer einigen wenigen, in der Arbeit eingeführten Be­
griffen werden die russischen Bezeichnungen sowie alle Quellen- und Literaturzitate,
sofern sie nicht aus bereits bestehenden Übersetzungen stammen, worüber die Biblio­
graphie Auskunft gibt, aus dem russischen Original ins Deutsche übertragen. Die Über­
setzungen dieser Exzerpte stammen vom Verfasser dieser Arbeit. Autoren und andere
Personen werden, wo möglich, mit Vor- und Nachnamen erwähnt. Allerdings waren
nicht alle Vor- und Vatersnamen eruierbar. Daraus ergibt sich eine Inkonsistenz, die
aber bewusst nicht zuungunsten aller Vornamen aufgelöst worden ist.
Die vorliegende Untersuchung ist 2004/05 als Lizentiatsarbeit an der Philoso­
phischen Fakultät der Universität Zürich, Historisches Seminar, Abteilung für Osteuro­
nisreformen ADAMS Punishment.
64 Die Kontextgebundenheit der Modernisierungserfolge in der Rechtsprechung ist Baberowskis Prämis­
se, vgl. BABEROWSKI Autokratie, S. 6. Er beklagt, dass Untersuchungen zu den russischen Justizref­
ormen zuvor stets das westliche Europa als Maßstab genommen hätten, was bei der Beurteilung jeder
Reform des Zarenreiches bzw. von deren Umsetzung zu einem negativen Fazit geführt habe (S. 3f.).
Baberowskis Ansatz steht im Zusammenhang mit dem bei TEICHMANN [Lohr], angeführten Bestreben,
die Ideen des westlichen Europa als Anstoß, aber nicht als Maßstab für Entwicklungen im ausgeh­
enden Zarenreich zu verstehen. Auch KOTSONIS Introduction, S. 2f., und HOFFMANN European Moderni­
ty, S. 246f., betonen mit Nachdruck Russlands Teilhabe am Prozess der europäischen Moderne (vgl.
auch Fussnote 16) bereits im ausgehenden Zarenreich. Überdies CRISP/EDMONDSON Preface, S. vi, zur
Abkehr von einem monolithischen Verständnis des „Westens“ in Abgrenzung zu Russland.
65 TORKE Kalender, S. 193.
66 Alle Umrechnungen stützen sich auf die Übersicht bei HOFFMANN Einführung, S. 204 (Längenmaße)
und 211 (Gewichte).
67 TORKE Einführung, S. 28, hält fest, dass alle nachpetrinischen Herrscher in deutscher Form wieder­
gegeben werden sollen. Daran orientiert sich auch diese Arbeit.
68 Abweichungen bei Zitaten (auch Buchtitel und Verfasserangaben) aus der Forschungsliteratur und aus
den englischsprachigen Quellen sind unvermeidbar.

21

OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN Mitteilung Nr. 56

päische Geschichte, bei Prof. em. Dr. Carsten Goehrke entstanden. Für den Druck wur­
den geringfügige Anpassungen vorgenommen.

22

2. Macht und Ohnmacht – Das Russische Reich 1861–1917

2. Macht und Ohnmacht – Das Russische Reich 1861–1917
2.1. Der 9. Januar 1905 und das Spannungsfeld des ausgehenden Zaren­
reichs
Am 9. Januar 1905 scharten sich in St. Petersburg über 100.000 Arbeiter hinter den frü­
heren Gefängnispriester Gapon, um Zar Nikolaus II. in einem friedlichen Bittgang eine
Petition zu überreichen. Die Regierung hatte vor der Demonstration gewarnt und sie zu
verhindern gesucht. Noch bevor die verschiedenen Züge der prozessionsartigen Mani­
festation den Senatsplatz nahe dem Winterpalais an der Neva erreichten, griffen die auf­
gebotenen Soldaten ein; über 100 Teilnehmer fanden den Tod, mehr als 800 wurden
verletzt.69
Der „Blutsonntag“ von St. Petersburg, als welcher der Januartag in die Geschichtsbü­
cher einging, war ein Fanal und ein Symbol zugleich. Als Fanal mag er gelten, weil er,
ganz unmittelbar, die Lunte war, die das Pulverfass zur Explosion brachte. Seit Beginn
des Jahrhunderts, verstärkt aber im Laufe des Jahres 1904 hatte sich der Unmut über die
wirtschaftliche und soziale Entwicklung im Russischen Reich so sehr gesteigert, dass
sich Streiks und Unruhen gehäuft hatten. Der Kopf des reaktionären Vorgehens der Re­
gierung gegen die zunehmenden Spannungen, Innenminister Vjačeslav K. Pleve, fiel im
Sommer 1904 einem Bombenanschlag zum Opfer, den der Sozialrevolutionär Egor Sa­
zonov ausgeführt hatte.70 Die Nachrichten von der russisch-japanischen Kriegsfront im
Fernen Osten waren düster und kränkten das russische Selbstbild, das in der antija­
panischen Propaganda heroisiert worden war. Der Gewaltausbruch vor dem Sitz des Za­
ren gegen demonstrierende Bürger brachte die Eskalation. Der Protest breitete sich rasch
auf weitere Städte des Reiches aus und erfasste alle Schichten; auch Intellektuelle und
Unternehmer schlossen sich an.71
Der „Blutsonntag“ war darüber hinaus ein Symbol. Er zerriss das Band zwischen
dem Volk und einem Herrscher, der scheinbar gleichgültig ein Blutbad unter seiner Be­
völkerung hinnahm.72 Die Repression, die zur gegenseitigen Aufrechnung der Gewalt
führte, suggerierte zarische Macht, aber sie war im Grunde Ausdruck der Ohnmacht ei­
ner ins Taumeln geratenen Autokratie. In dieser Ohnmacht spiegelte sich ein Span­
nungsfeld, das für die Endphase des Zarenreiches symptomatisch war. Seine Eckpunkte
waren, auf der einen Seite, die Agonie der Selbstherrschaft, die sich selbst und andere
69 STÖKL Geschichte, S. 595f., TORKE Einführung, S. 180f., und ROGGER Russia, S. 208f. Vgl. auch die
sehr anschauliche Schilderung des Ablaufs bei FIGES Tragödie, S. 187–193. Die Zahlenangaben
schwanken erheblich.
70 STÖKL Geschichte, S. 592–595, schildert die von Streiks unter den Arbeitern und Unruhen auf dem
Land geprägte Stimmung 1904/05, worin sich der Protest gegen die wirtschaftlichen und sozialen
Verhältnisse mit der immer radikaleren revolutionären politischen Stoßrichtung vermengte. Egor Sa­
zonov wurde zu Katorga-Haft verurteilt und spielte 1910 eine prominente Rolle im Gefängnisprotest
von Gornyj Zerentuj. Vgl. Kap. 4.6.
71 STÖKL Geschichte, S. 596–600, und HILDERMEIER Revolution, S. 52f.
72 Vgl. dazu MERRIDALE Steinerne Nächte, S. 90–94. Merridale hebt die „Politik der Vertuschung“ nach
dem 9. Januar hervor: Die Regierung brachte die Opfer des Blutbades in einer Nacht-und-Nebel-Akti­
on auf einen abgelegenen Friedhof, wo sie in einem Massengrab und ohne die traditionellen Riten be­
stattet wurden.

23

OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN Mitteilung Nr. 56

lähmende Bürokratie und die widersprüchliche Repressionspolitik, die in wechselseiti­
ger Abhängigkeit voneinander standen, und auf der anderen Seite die zunehmende Wir­
kungsmächtigkeit der Massen und der Versuch, sie zu politisieren, sowie die in der Zeit
vor und nach 1905 besonders gehäuften Terrorkampagnen.
Im Ereignis des 9. Januar 1905 findet dieses Spannungsfeld in fast monströser Weise
zu einem gemeinsamen Nenner. Denn Vater Gapon steht für jenen Kreis von Personen,
die, vom Staat beauftragt, Arbeit in der Grauzone von Opposition und staatlicher Gän­
gelung oder aber direkt in den oppositionellen Gruppen leisteten. Dieser staatliche Ver­
such der Kohäsion war im Laufe der 1890er Jahre vom Moskauer Chef der Si­
cherheitspolizei, Sergej Zubatov, entwickelt worden, aus der Erkenntnis heraus, dass an­
gesichts der raschen Verbreiterung der Basis der revolutionären Bewegung die zuvor
leidlich gepflegten Methoden der Observierung von Oppositionszirkeln und der Zu­
sammenarbeit mit Informanten allein nicht mehr zur Kontrolle der Regimegegner aus­
reichten. So schleuste die Sicherheitspolizei Agenten in die Terrorbewegungen ein und
gründeten die verlängerten Arme der Sicherheitsstrukturen gewerkschaftsähnliche Zu­
sammenschlüsse von Arbeitern. Dazu zählte auch die Petersburger Versammlung der
russischen Fabrikarbeiter, welcher der Priester Gapon vorstand.73 Dadurch ließen sich
Informationen gewinnen und gezielt Provokationen herbeiführen; aber es war ein Hoch­
seilakt. Wie das Beispiel Gapon zeigt, drohte die Situation zunehmend außer Kontrolle
zu geraten, da die Emanzipation der Massen selbst innerhalb der staatlichen Sammelbe­
cken gefährliche Züge anzunehmen begann.74 Die Vermischung von Staatsgewalt und
Opposition bereitete zudem, je bewusster sie wurde, im Volk den Nährboden für Desil­
lusionierung und Verlust jeglicher Gewissheiten. Der „Fall Azef“ – die Enttarnung des
Leiters der Terrorkampagnen der Sozialrevolutionäre als Spitzel der Sicherheitspolizei
1908 – markierte diesbezüglich einen Höhepunkt.75 Der Schriftsteller Andrej Belyj hat
in seinem komplexen Roman „Peterburg“ diese Verwischung aller Grenzen und Si­
cherheiten im revolutionären St. Petersburg des Jahres 1905 literarisch verarbeitet.76
Mit dem 9. Januar 1905 setzte die insgesamt wohl gewalttätigste und blutigste Peri­
ode des ausgehenden Zarenreichs ein. Die sich ausweitenden Proteste gipfelten vorerst
im Februar in der Ermordung des Großfürsten Sergej Aleksandrovič, des Moskauer Ge­
neralgouverneurs und Onkels des Zaren, und zwangen Nikolaus II. zu einer ersten Kon­
zession. Diese – die Einrichtung einer Duma (Volksvertretung) – steigerte jedoch den
Unmut der Straße und des Bauernlandes, weil sie Arbeiter und intelligencija durch den
Wahlzensus außen vor ließ. Bis in den Herbst hinein verbreiterte sich die Basis der Pro­
teste; diese griffen auf die Marine über, erfassten die Eisenbahnen und die Nationali­
73 DALY Security Police, S. 224f., und FIGES Tragödie, S. 188f. STÖKL Geschichte, S. 565, spricht im Zu­
sammenhang mit den polizeilichen Gewerkschaftsgründungen von „Polizeisozialismus“.
74 HILDERMEIER Revolution, S. 51f., ROGGER Russia, S. 208, und DALY Security Police, S. 228. Für
ENGELSTEIN Revolution, S. 355, waren die Januar-Streiks keine Provokation. Die Proteste und die Re­
aktion auf das Blutbad reflektierten jedoch die Stimmung in der Gesellschaft, die vom Scheitern des
Zaren überzeugt gewesen sei.
75 Zum „Fall Azef“ vgl. DALY Security Police, S. 231, und STÖKL Geschichte, S. 597. Vgl. auch die Mo­
nographie von Anna Geifman, zur raschen Orientierung: GEIFMAN Terror, S. 1–10.
76 Die russische Jahrhundertwende war in kultureller Hinsicht eine besonders fruchtbare Zeit; die Epo­
che ist als „Silbernes Zeitalter“ („Serebrjanyj vek“) bekannt. Ein Überblick findet sich bei STÖKL Ge­
schichte, S. 618–626.

24

2.1. Der 9. Januar 1905 und das Spannungsfeld des ausgehenden Zarenreichs

täten. Der Generalstreik vom Oktober brachte die vorläufige Wende, indem der Zar wi­
derwillig dem vom ehemaligen Finanzminister Vitte ausgearbeiteten „Oktober-Mani­
fest“ zustimmte, das eine Duma ohne ständische Restriktionen sowie Freiheitsrechte
vorsah und den Boden für eine Verfassung bereitete.77 Im europäischen Teil des Reiches
erhoben sich aber die Bauern, und im Dezember kam es zu einem bewaffneten Aufstand
in Moskau. Die Situation war soweit außer Kontrolle geraten, dass die Regierung Ende
des Jahres 1905 in der gewaltsamen Niederschlagung der revolutionären Umtriebe die
einzige Möglichkeit sah, das stark angeschlagene Staatsschiff wieder auf festen Kurs zu
bringen. Die Repressionswelle wird vor allem mit dem 1911 ermordeten Ministerprä­
sidenten Stolypin in Verbindung gebracht.78 In den ersten Monaten des Jahres 1906 er­
stickten militärische „Strafexpeditionen“ in den Peripherien des Reiches und entlang der
Transsibirischen Eisenbahn die Aufstände ohne Rücksicht auf Verluste. Parallel dazu
stieg die Zahl der Todesurteile, die im europäischen Vergleich wegen der Spezifik des
russischen Strafwesens sehr niedrig gewesen war, stark an.79 Terror und Gegenterror
hielten sich die Waage.80
Wenngleich das Regime unzimperlich und brutal gegen die Aufständischen vorging,
widerspiegelte die dadurch demonstrierte Gewalt – wie im Fall des 9. Januar 1905 –
mehr Ohnmacht als wahre Macht.81 Die Herrschaft war zu angeschlagen, als dass sie im
Grunde dringend nötige Neuerungen hätte umsetzen können.82 Die Autokratie war mit
den „Staatlichen Grundgesetzen“ von 1906, welche die Zuständigkeiten zwischen Kai­
ser, Parlament und Ministern neu regelten und freiheitliche Rechte postulierten, an ihr
Ende gelangt, auch wenn von einer demokratischen Verfassung nicht die Rede sein
konnte.83 Das Spannungsfeld, das sich in der Revolution von 1905 und in den folgenden
Jahren heftig entlud, war das Resultat eines Prozesses, der weit zurückreichte, wie Laura
Engelstein eindrücklich herausgearbeitet hat.84
2.2. Die „Großen Reformen“ und die ersten Phasen des Terrors
Nach der verheerenden Niederlage Russlands im Krimkrieg 1856 stand die Autokratie
formell nicht zur Disposition; aber der neue Zar Alexander II. erkannte den Reformbe­
darf. Der verkrustete Herrschaftsapparat und die ökonomischen und sozialen Grund­
lagen des Reiches waren den Herausforderungen des 19. Jahrhunderts nicht mehr ge­
77 STÖKL Geschichte, S. 599–601, und Hildermeier, Revolution, S. 73f.
78 Vgl. DALY Security Police, S. 228–230, und STÖKL Geschichte, S. 602–604 (zu Stolypin).
79 Vgl. DALY Security Police, S. 228f., DALY Punishment, S. 349, und Merridale, Steinerne Nächte, S.
94f. Zum russischen Strafsystem vgl. Kap. 3.1.
80 DALY Security Police, S. 229, und Merridale, Steinerne Nächte, S. 95.
81 Die sowjetische Historiographie hob die Repression hervor, ohne die Exzesse als möglichen Aus­
druck der Ohnmacht zu hinterfragen, vgl. ŠČERBAKOV Iz istorii, S. 69 und bes. 78.
82 Vgl. DALY Security Police, S. 229.
83 Dies betont speziell Torke, Einführung, S. 183, in Abgrenzung zu Max Webers Diktum vom „Schein­
konstitutionalismus“. Auch BUTLER Civil Rights, S. 7, spricht von der Transformation in eine konstitu­
tionelle Monarchie.
84 ENGELSTEIN Revolution, S. 315–357, schlägt einen Bogen vom späten 18. Jahrhundert (Pugačev-Auf­
stand) bis zur Revolution 1905. Zu den Traditionslinien und Spannungsfeldern auch SCHRAMM Staat,
S. 1300–1304.

25

OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN Mitteilung Nr. 56

wachsen.85 Innenpolitische Konsequenzen waren unabdingbar. Die von Peter I. erstmals
in aller Deutlichkeit aufgeworfene Frage von Russlands Verhältnis zum westlichen Eu­
ropa stellte sich auch jetzt. Peter hatte sie mit brachialer Gewalt und dem Symbol St. Pe­
tersburg zugunsten der Öffnung nach Westen vermeintlich beantwortet. Der „aufge­
klärte Absolutismus“ Katharinas II. war beeinflusst durch westliche politische Theorien,
auch wenn sich davon letztlich sehr wenig in der russischen Wirklichkeit niederschlug.86
Auch die Reformen Alexanders I. hatten das Imperium nicht wirklich westlicher ge­
macht; auf sie folgte vielmehr eine reaktionäre Periode.87 In ständiger Ausein­
andersetzung mit Restriktion und Reaktion unter Nikolaus I. hatte eine oppositionelle
intelligencija nach neuen Antworten gesucht. „Russland und Europa“ wurde zum be­
stimmenden Topos einer intellektuellen Diskussion ab dem ersten Drittel des 19. Jahr­
hunderts. Die einen plädierten für eine konsequent nach Westen ausgerichtete An­
passung, die andern für einen russischen Sonderweg; es bildeten sich „Westler“ und
„Slavophile“ heraus. Zum zentralen Kritikpunkt entwickelte sich die Leibeigenschaft
der Bauern, die mit dem Aufbruch in die Moderne nicht vereinbar war und beträchtliche
soziale Sprengkraft besaß.88
Westeuropa war auch diesmal der Bezugspunkt für die Monarchie. Nachdem schon
unter seinem Vater Nikolaus I. das Strafgesetzbuch 1845 erneuert und die bis dahin
grundlegende Körperstrafe stark eingeschränkt worden war,89 rang sich Alexander II. im
Laufe der 1860er Jahre zu bedeutsamen Reformschritten durch; diese betrafen die Auf­
hebung der Leibeigenschaft, das Justiz-, Polizei- und Gefängniswesen, aber auch die im
vorliegenden Kontext weniger relevante lokale Selbstverwaltung (zemstvo) sowie Bil­
dungs- und Verwaltungsfragen.90
2.2.1. „Bauernbefreiung“ und Justizreform
Der vordergründig spektakulärste Bruch mit der Vergangenheit erfolgte am 19. Februar
1861 mit der „Bauernbefreiung“, durch welche die bisher leibeigenen Bauern ihre per­
sönliche Freiheit erlangten. Das Ende der Leibeigenschaft in Russland blieb aber unvoll­
ständig, das Wort von der „Befreiung“ letztlich eine Hülse. Da der gutsbesitzende Adel
vor dem Ruin bewahrt und die Mobilität unterbunden werden sollte und die Steuer­
85 Vgl. STÖKL Geschichte, S. 536f.
86 Diese Ansicht vertritt STÖKL Geschichte, S. 404; vgl. generell, S. 399–407, zu Katharina II.
87 Überblick bei STÖKL Geschichte, S. 454–456, detailliert zu den Reformschritten im Rechts-, Bildungsund Finanzwesen STÖKL Geschichte, S. 456–463, und zur Reaktion S. 463–467.
88 Zur intellektuellen Gegnerschaft vgl. HAUMANN Geschichte, S. 332–341. „Das Leibeigenschaftssystem,
von dem sie lebten, kritisierten sie scharf“, heißt es ebd., S. 332, über die Aushängeschilder der unter
anderem an westlichen Philosophen (Schelling, Fichte, Hegel) geschulten Intellektuellen – Michail
Bakunin, Konstantin Aksakov, Jurij Samarin, Aleksandr Gercen (Herzen), Nikolaj Ogarev. Sie gingen
später ganz unterschiedliche Wege, Bakunin als Anarchist, Aksakov und Samarin als „Slavophile“.
Gercen und Ogarev publizierten im Londoner Exil von 1857 bis 1868 die Zeitschrift „Kolokol“ („Die
Glocke“) als wichtiges oppositionelles Sprachrohr, auch für das spätere narodničestvo, die Bewegung
der Volkstümler (narodniki) (vgl. weiter unten).
89 Vgl. DALY Punishment, S. 341, sowie umfassend zur Bedeutung und zur Abschaffung der Kör­
perstrafen in Russland SCHRADER Branding the Exile, S. 19–40. Vgl. auch Kap. 3.1 (S. 35).
90 Zur zemstvo-Einführung vgl. STÖKL Geschichte, 543–648, HAUMANN Geschichte, S. 358–361, und Hil­
dermeier, Revolution, S. 47f.; zu den weiteren Reformen STÖKL Geschichte, S. 549–552.

26

2.2. Die „Großen Reformen“ und die ersten Phasen des Terrors

abgaben sichergestellt werden mussten, bestanden weiterhin Verpflichtungen gegenüber
dem Adel einerseits und der Dorfgemeinde (mir, obščina) anderseits.91 Im Rahmen die­
ser Ausführungen ist es nicht möglich, die Aufhebung der Leibeigenschaft angemessen
zu würdigen. Sie war jedoch bei aller Unzulänglichkeit für die weitere Entwicklung des
Zarenreiches grundlegend. Denn wenngleich die Bauern an ihrer Scholle haften blieben
und damit ihre Abwanderung in die Städte mit allen ihren Folgen verhindert werden
sollte, war die Entstehung der „sozialen Frage“ unabwendbar. Sie ergab sich zweifach –
auf dem Land, wo viele Bauern sich nur eine geringe Nutzfläche leisten konnten und
nun erst recht in der Armut versanken, und in der Stadt, wohin es die Verlierer von 1861
trotz allem zog und wo diese eine hybride Bevölkerungsschicht bildeten. Die bäuerli­
chen Industriearbeiter waren Bauern und Städter zugleich.92
Auf den ersten Blick von geringerer Tragweite war die Justizreform (sudebnaja re­
forma) von 1864. Für das politische Verständnis der Autokratie und damit für das aus­
gehende Zarenreich insgesamt mag ihre grundsätzliche Bedeutung jedoch kaum zu über­
schätzen sein.93 Anstelle einer mit dem administrativen Apparat verflochtenen Justiz, de­
ren Verfahren intransparent und manipulierbar sowie von der ständischen Ordnung be­
einflusst gewesen waren,94 hielt die Gewaltenteilung in Russland Einzug; die Verwal­
tung hatte nichts mehr mitzubestimmen. Auf den oberen und unteren Ebenen des zwei­
gliedrigen Systems wurden die Verfahren vereinheitlicht und, mit Ausnahme der Bau­
erngerichte (volost’-Gerichte), standesunabhängig; im Senat, der obersten Instanz, wur­
den Kassationshöfe eingerichtet. Auf der unteren Ebene waren die Justizbezirksgerichte
(okružnoj sud) zuständig. Die Berufung erfolgte an den Gerichtshöfen (sudebnaja pala­
ta).95 Neben den regulären Gerichten wurden Friedensgerichte geschaffen, deren Richter
von der lokalen Selbstverwaltung auf Verwaltungsbezirkebene (uezd) gewählt wurden
und welche die kleineren Strafsachen zu beurteilen hatten, die nicht ans Justizbezirks­
gericht gingen. Besondere Aufmerksamkeit wurde den neugeschaffenen Geschwo­
renengerichten zuteil; diesen oblag die Rechtsprechung bei schweren Verbrechen, nicht
aber bei politischen Delikten. Hierfür zuständig waren die Appellationshöfe (sudebnaja
palata).
Die Justizreform orientierte sich in ganz besonderem Masse an westeuropäischen
Vorbildern. Der spezifisch russische Kontext und mithin die Fähigkeit von Staat und
Gesellschaft, die Reform zu tragen, fanden aber zu wenig Berücksichtigung. Das führte,
worauf Jörg Baberowski hingewiesen hat, umgekehrt auch bei der Beurteilung von de­
91 Ausführlicher, aber konzis zur Aufhebung der Leibeigenschaft HAUMANN Geschichte, S. 352–358, so­
wie STÖKL Geschichte, S. 536–543. Haumann hält, aus plausiblen Gründen, die hier nur angedeutet
werden, den Begriff „Bauernbefreiung“ im Grunde für irreführend; daher wird er auch in dieser Ar­
beit stets in Anführungszeichen gesetzt.
92 Vgl. dazu den Abschnitt „Mir und Stadt“ bei GOEHRKE Alltag 2, S. 281–284, sowie HAUMANN Ge­
schichte, S. 371–379.
93 Rabe spricht von der entscheidenden Zäsur in der Rechtsgeschichte des ausgehenden Zarenreiches,
RABE Justiz, S. 1531. Als Überblick zur Justiz im ausgehenden Zarenreich grundlegend ist das ent­
sprechende Kapitel im Handbuch der Geschichte Russlands, RABE Justiz, S. 1528–1576, sowie spezie­
ll zur politischen Justiz das umfassende Werk von BABEROWSKI Autokratie; vgl. auch Fußnote 96.
94 Für die „Kardinalfehler“ der russischen Justiz vor 1864 die Zusammenfassung bei RABE Justiz,
S. 1528–1530.
95 RABE Justiz, S. 1531–1533.

27

OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN Mitteilung Nr. 56

ren Umsetzung, vor allem in der rechtshistorischen Forschung, zu einer Verzerrung. 96
Die Grundlagen für das ambitionierte Vorhaben waren nicht mit jenen Westeuropas ver­
gleichbar, weshalb die Umsetzung vor dem Hintergrund der tatsächlichen Machbarkeit –
also kontextgebunden – gewürdigt werden muss (Rechtswirklichkeit statt Rechtsideal).
Als besonders problematisch erwiesen sich alsbald die Geschworenengerichte, die zu­
erst euphorisch begrüßt wurden, dann aber zu einer Ernüchterung führten, weil die
Rechtsprechung durch die völlig überforderten Geschworenen desavouiert wurde.97 Ba­
berowskis These, dass die „Gegenreformen“ im Zuge der härteren Politik Zar Alex­
anders III. in den 1880er Jahren auch als Korrektiv fehlgeleiteter Reformbemühungen zu
verstehen sind, leuchtet ein. Die grundlegenden Veränderungen von 1864 blieben in
Kraft, wurden aber, vor allem im Bereich der Geschworenengerichte, modifiziert.98
Die Bedeutung der Geschworenengerichte und der unabhängigen Justiz generell lag
darin – und daran vermochten auch die „Gegenreformen“ nichts zu ändern –, dass das
Gewaltmonopol des Autokraten nun beschnitten war – mit weitreichenden Folgen.99 Der
Zar und seine Beamten konnten nicht mehr nach Belieben in Gerichtsverfahren ein­
greifen und Urteile nach Wunsch herbeiführen; mit den Geschworenengerichten lag die
Schuldfindung gar in den Händen der Gesellschaft. Darüber hinaus wurde der Gerichts­
saal zur Keimzelle einer „Öffentlichkeit“100, weil die Verhandlungen teilweise zugäng­
lich waren, die Verhandlungsprotokolle publiziert werden mussten und oppositionelle
Anwälte ein Forum für ihre politischen Meinungen fanden. Der Anwaltsberuf erlangte
eine eminent politische Bedeutung, die zunehmend von linken Kreisen erkannt und zu
Propagandazwecken genutzt wurde.101 Das, aber auch relativ milde Urteile in politischen
Prozessen war Munition für die Gegner des erneuerten Justizwesens. Dieses entsprach
keinem Ideal; es war fehlerhaft, erfasste nicht alle rechtlichen Bereiche und nicht das
ganze Imperium.102 Problematisch blieb die politische Justiz, da die Appellationshöfe
keine Berufungsinstanz kannten. Auch konnten Sonder- und Militärgerichte eingesetzt
96 Eindringlich hat Jörg Baberowski diese Zusammenhänge in seinen Beiträgen zur Justiz im ausge­
henden Zarenreich herausgearbeitet, vgl. seine Dissertation zur politischen Justiz im ausgehenden Za­
renreich, BABEROWSKI Autokratie, bes. S. 3–6, sowie BABEROWSKI Justizwesen, S. 157–159, und DERS.
Konstitution, S. 370–376.
97 Vgl. BABEROWSKI Justizwesen, S. 160, der in diesem Zusammenhang von einer „Farce“ spricht. RABE
Justiz, S. 1535, hebt hervor, dass die Geschworenengerichte von Anfang an in der Bevölkerung auf
wenig Rückhalt gestoßen seien; die Geschworenen, die auf der Stufe der Selbstverwaltung ausgewählt
wurden, erhielten keine Entschädigung und waren unzureichend auf ihre Aufgabe vorbereitet.
98 BABEROWSKI Justizwesen, S. 160–162, BABEROWSKI Konstitution, S. 376f., und RABE Justiz, S. 1536.
Vgl. zur Gegenposition, die in der sowjetischen und auch in der älteren westlichen Historiographie
vorherrschend war, ZAIONCHKOVSKY Autocracy, S. 137–153.
99 Vgl. BABEROWSKI Justizwesen, S. 162. DALY Punishment, S. 346, schreibt in diesem Zusammenhang:
„Russia ceased to be an autocracy and became a species of semiabsolutist monarchy.“
100 Der Begriff der „bürgerlichen Öffentlichkeit“ im Sinne von Jürgen Habermas (vgl. HABERMAS Struk­
turwandel, bes. S. 69–85), die kontrollierende Wirkung entfaltet hätte, lässt sich nicht ohne weiteres
von den westeuropäischen Kontexten, innerhalb derer er entwickelt wurde, auf die russische Gesell­
schaft übertragen; eine „bürgerliche Gesellschaft“ gab es im ausgehenden Zarenreich noch nicht im
vergleichbaren Muster, auch wenn sich zivilgesellschaftliche Strukturen vor allem in der letzten Phase
nach 1905 erkennen lassen. Vgl. dazu die Ausführungen bei HILDERMEIER Zivilgesellschaft, S. 128–
132, auch vor dem Hintergrund der Errungenschaften der Justizreform. Hildermeier orientiert sich be­
züglich der entstehenden „Öffentlichkeit“ ebenfalls nicht an Habermas.
101 BABEROWSKI Justizwesen, S. 163, und RABE Justiz, S. 1539.

28

2.2. Die „Großen Reformen“ und die ersten Phasen des Terrors

werden.103 Die faktische Gewaltenteilung im autokratischen Staat, die zu einer ständigen
Konfrontationslinie wurde,104 bedeutete dennoch einen Meilenstein für Russland.
2.2.2. Terror und Neuorganisation der staatlichen Sicherheit
Die Reformen der 1860er Jahre verschärften den Anachronismus der Staatsform. Eine
sich weiterhin absolutistisch gebende Spitze existierte nun neben einer weitgehend un­
abhängigen Justiz und selbstverwalteten Land- und Stadtgebieten; der kritische Geist
der intelligencija bzw. der raznočincy105, überhaupt die Partizipation der Gesellschaft im
Reich, waren nicht erwünscht.106 Die wirtschaftliche und technische Entwicklung107
machte große Fortschritte und setzte ihrerseits Kräfte frei, die ins Leere liefen – mehr
Menschen erwarben eine gute Ausbildung und suchten dementsprechend nach Ent­
faltungsmöglichkeit. Gleichzeitig waren soziale Verschiebungen, vor allem im Zuge der
Industrialisierung, zu beobachten. Die Arbeiterschaft wuchs gegen Ende des Jahr­
hunderts immer stärker an.108
Der Unmut und der Wille zum Aufbruch ließen sich jedoch nicht mehr länger unter­
drücken. Im Zuge der Agrarreformen kam es 1863/64 zu Studentenunruhen und zur
kurzzeitigen Bildung der oppositionell-revolutionären Bewegung „Zemlja i volja“
(„Land und Freiheit“).109 1866 wurde ein Attentat auf den Zaren verübt, das aber miss­
lang.110 In der Folge erhielt zunächst der friedliche Weg vor dem terroristischen den Vor­
102 In den baltischen Provinzen, in Sibirien und in Mittelasien wurde die Reform erst sehr viel später und
unvollständig (Verzicht auf Geschworenengerichte) umgesetzt, vgl. BABEROWSKI Konstitution, S. 388–
390.
103 Dies vor allem während der Terrorkampagnen Ende der 1870er und Anfang der 1880er Jahre sowie
nach 1905. Vgl. RABE Justiz, S. 1533, BABEROWSKI Justizwesen, S. 164f., und DALY Punishment, S.
347.
104 Vgl. BABEROWSKI Autokratie, S. 9, und BABEROWSKI Justizwesen, S. 165f.
105 Die Bezeichnung raznočincy („Verschiedenrangige“) fasst die sich im Zuge der gesellschaftlich-poli­
tischen Emanzipation immer stärker artikulierenden Gruppe von Personen zusammen, die nicht im
traditionellen, auf Peter I. zurückgehenden Ständewesen verortet werden konnten; darin fanden sich
Adlige, kleine Beamte, Publizisten, Professoren, Schriftsteller, Rechtsanwälte. Vgl. HAUMANN Ge­
schichte, S. 335.
106 Einer der „Urnihilisten“, N. G. Černyševskij, der sich am radikalen Materialismus vor allem deutscher
Gelehrter orientierte und sich als Publizist und Schriftsteller hervortat (u.a. mit dem im Gefängnis ge­
schriebenen, sozialutopischen Roman „Čto delat’?“ – „Was tun?“), wurde 1864 in die Katorga ge­
schickt (bis 1872 im Kreis Nerčinsk) und anschließend in die Ansiedlung nach Viljujsk (Jakutien). In
der traditionellen (sowjetischen) Katorga-Forschung gilt er als einer der Prototypen des politka­
toržanin in Ostsibirien. Vgl. STÖKL Geschichte, S. 567–570, DVORJANOV V sibirskoj, S. 70–82, und
bes. für die Katorga-Zeit Skripilev, N. G. Černyševskij, S. 61–82.
107 Abgesehen von der Industrialisierung ist auch an die Transsibirische Eisenbahn zu denken, vgl.
MARKS Road.
108 Vgl. ROGGER Russia, S. 132f. sowie den Überblick bei Hildermeier, Revolution, S. 24–33, zur Indus­
trialisierung und wirtschaftlichen Modernisierung, zu Städtewachstum und Arbeiterschaft bes. S. 27;
vgl. auch BABEROWSKI Konstitution, S. 399, zur ökonomisch und sozial bedingten Instabilität, die in­
stitutionell nicht aufgefangen werden konnte.
109 Zur revolutionären Bewegung vgl. die Übersicht bei HAUMANN Geschichte, S. 379–388, und bei Hil­
dermeier, Revolution, S. 33–46. Vgl. auch ROGGER Russia, S. 134–140.
110 Vgl. DALY Autocracy, S. 4. Es war dies der erste Anstoß für eine polizeiliche Neuordnung, vgl. weiter
unten.

29

OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN Mitteilung Nr. 56

zug. Im Sommer 1874 schlossen sich Schüler, Studierende und liberale Bürger dem
narodničestvo, dem „Gang ins Volk“, an und wollten die Bauern in den Dörfern aufklä­
rerisch aufrütteln. Es blieb beim Versuch; das Misstrauen der dergestalt Heimgesuchten
war so groß, dass sie die narodniki („Volkstümler“) oft dem nächsten Gendarmen über­
antworteten. Als Konsequenz aus dem fehlgeschlagenen friedlichen Ansinnen, mit dem
„Gang ins Volk“ einen letztlich revolutionären Umbruch von der bäuerlichen Basis her
zu erwirken, wurde nicht mehr Massenagitation betrieben, sondern erfolgte die Bildung
eines neuen Sammelbeckens für die revolutionäre Bewegung, wiederum unter der Be­
zeichnung „Zemlja i volja“. Deren Mitglieder schieden sich aber Ende der 1870er Jahre
an der Frage des Gewalteinsatzes; die militanten Kräfte, die den Zaren ins Visier nah­
men, formierten sich in der terroristischen Gruppierung „Narodnaja volja“ („Volks­
wille“ bzw. „Volksfreiheit“). Der die Gewalt ablehnende Flügel („Černyj peredel“:
„Schwarze Umverteilung“) verschwand rasch wieder.111 Zwischen 1878 und 1881 kam
es zu einem vorläufigen Höhepunkt der Terrorkampagne, die in der Ermordung des „Re­
formzaren“ Alexander II. am 1. März 1881 in St. Petersburg gipfelte. Entgegen den
Hoffnungen der Terroristen erhob sich das Volk nicht, sondern blieb gleichgültig bis be­
stürzt. Wie schon 1874, so zeigte auch die kapitale Tat den fehlenden Rückhalt der Re­
volutionäre in der Bevölkerung, deren Befreiung sie sich auf die Fahnen geschrieben
hatten.112 Zwar versuchten sechs Jahre später einige Verschwörer, auch den Nachfolger,
Alexander III., zu töten, aber das misslungene Attentat bewies, dass die harte Hand un­
ter dem Schutz des 1881 eingeführten Ausnahmezustands Wirkung gezeigt hatte. Die
„Narodnaja volja“ war nach dem Zarenmord zerschlagen worden; ihre Mitglieder wur­
den in großen Prozessen zu Verbannung und Zwangsarbeit verurteilt.113
Obgleich in der Regierungszeit Alexanders III. die liberaleren Kräfte an Gewicht ver­
loren und die Ausnahmegesetze die zaghaft gewährten Freiheitsrechte wieder beschnit­
ten, konnten die Errungenschaften der Reformära nicht mehr rückgängig gemacht wer­
den.114 Das betraf auch die seit den sechziger Jahren in immer wieder neuen Kommissio­
nen geführten Diskussionen um das Gefängniswesen. Mit der Einrichtung der Gefäng­
nishauptverwaltung (Glavnoe upravlenie tjur’my, GTU) 1879 im Innenministerium
(Ministerstvo vnutrennich del, MVD) und ab 1895 im Justizministerium (Ministerstvo
justicii, MJu) wurde der Strafvollzug modernisiert und besser organisiert. Die zentralen
Strafvollzugsmodelle blieben unangetastet.115
111 Der Begriff peredel war die gebräuchliche Bezeichnung für die Landneuverteilung, wie sie in den rus­
sischen Dorfgemeinden periodisch durchgeführt wurde. Da die Enteignung der Großgrundbesitzer
und die Verteilung des Landes an die 1861 befreiten Bauern zu den vordringlichen Zielen der revolu­
tionären Bewegung zählten, wurde dies auch – in einem weiterreichenden Sinn – zum Schlagwort,
dessen sich Pavel Aksel’rod und Georgij Plechanov für die Bezeichnung ihrer (allerdings kurzlebi­
gen) Organisation bedienten, vgl. HAUMANN Geschichte, S. 382f.
112 Vgl. ROGGER Russia, S. 137f.
113 Vgl. dazu HAUMANN Geschichte, S. 383.
114 Vgl. auch die Einschätzung bei HILDERMEIER Revolution, S. 49f. Ein gesetzloser Polizeistaat sei nicht
entstanden. Dies vor allem in Abgrenzung zu Pipes, Old Regime, S. 311f., der dem ausgehenden Za­
renreich „alle Elemente eines Polizeistaats“ zuspricht und von entstehendem „Totalitarismus“ spricht.
Als Beispiel für Verschärfungen sei auf die Presse verwiesen, vgl. ZAIONCHKOVSKY The Russian Auto­
cracy, S. 154f.
115 ADAMS Punishment, S. 199, schreibt dazu: „Considering the obstacles in the way of their work, the
GTU’s achievements were impressive. The GTU modernized Russia’s prisons and made them into a

30

2.2. Die „Großen Reformen“ und die ersten Phasen des Terrors

Der sich ausbreitende Terror hatte auch Folgen für die Organisation der staatlichen
Sicherheit. Mitten in der Terrorkampagne der „Narodnaja volja“ wurde 1880 die nach
dem Dekabristenaufstand 1826 gegründete „III. Abteilung“ – die erste, direkt der Kanz­
lei des Zaren unterstellte Sicherheitspolizei – aufgelöst und ihre Aufgabe einem dem In­
nenministerium zugeordneten Polizeidepartement übertragen. Diesem unterstand eine
Sicherheitspolizei (unter dem Begriff ochrana bekannt) mit Büros in Moskau, St. Pe­
tersburg und Paris sowie die Gendarmerie.116 Obwohl es der neu strukturierten Staatspo­
lizei nach dem Attentat auf Alexander II. gelang, die Terrorgruppe zu sprengen, war sie
noch in den 1880er Jahren völlig unzureichend auf die zunehmenden Gefahren einge­
stellt.117 Im Laufe der 1880er und 1890er Jahre gelang es aber, die Sicherheitspolizei zu
professionalisieren und die revolutionäre Bewegung trotz geringen Mitteln in Schach zu
halten.118 Das Moskauer Büro unter dem ideen- und trickreichen Sergej Zubatov entwi­
ckelte sich zum eigentlichen Zentrum der staatlichen Sicherheit. Zubatov verfolgte zur
Hauptsache eine „weiche Repression“, indem er die Revolutionäre vielfältig beobach­
ten, ihre Post abfangen („Perlustration“) und die Zirkel durch Informanten aushorchen
oder mit geeigneten Personen infiltrieren ließ.119 Die Zunahme der revolutionären Um­
triebe ab den neunziger Jahren rief allerdings nach neuen Methoden. Die Verstrickung
des Staates mit der revolutionären Bewegung und ihrer Terrorszene war – wie zu Be­
ginn dieses Kapitels anhand des 9. Januars 1905 bereits dargelegt – der bittere Preis da­
für.
2.3. Politische Gegnerschaft und der Niedergang der Staatsmacht
Wenn die „Großen Reformen“ eine Beruhigung der inneren Lage des Russischen Rei­
ches bewirken sollten, verfehlten sie ihr Ziel. Die Spannungen wurden größer und nah­
men vielerlei Gestalt an. Auf dem Land und in Kleinstädten, zwischen der Bauernschaft
und dem dominierenden Adel, entluden sie sich in Aufruhr und in Pogromen gegen Ju­
den. In der Stadt wuchs das Protestpotential unter den Arbeitern, die sich angesichts des
coherent system […]“. Auf die lange Zeit in der Forschung wenig thematisierte, vor allem den Straf­
vollzug für Kriminelle betreffende Gefängnisreform kann hier nicht eingegangen werden. Vgl. auch
DETKOV Tjur’my, bes. S. 55–61.
116 Jonathan Daly, der mit einer Reihe neuerer Untersuchungen zur Geschichte der Sicherheitspolizei des
ausgehenden Zarenreiches hervorgetreten ist, bezeichnet die Zeit der Terrorkampagne 1878–81 als
„Wasserscheide“ in der Polizeiorganisation (DALY Security Police, S. 217). Daly sowie Dominic Lie­
ven in einem schon einige Jahre früher erschienenen Aufsatz (LIEVEN Police) behandeln das sehr wich­
tige Thema ausführlich, was im Rahmen dieser Arbeit nicht möglich ist.
117 Der für das Zarenreich symptomatische Kleinkrieg innerhalb der Behörden schwächte die staatliche
Sicherheit. Mit der Sicherheitspolizei und der Gendarmerie prallten zwei unterschiedliche Welten auf­
einander. Letztere verstand sich als Dienerschaft des Zaren; ihre Offiziere entstammten verarmten
Adelsgeschlechtern und waren oft über Beziehungen zur Truppe gelangt, wo sie dann den ruhigen
Dienst entlang der Eisenbahn, deren Bewachung der Gendarmerie oblag, hektischeren Arbeitsfeldern
in der Stadt vorzogen. Vgl. DALY Autocracy, S. 54–62, und DALY Security Police, S. 219. Das galt vor
allem bis in die 1870er Jahre, LIEVEN Police, S. 252. Die Voraussicht und die Fähigkeit zur Analyse
der politischen Lage – für die Arbeit und zumal unter unruhigen Umständen eigentlich Voraussetzung
– war bei vielen Gendarmen unzureichend ausgebildet, vgl. LIEVEN Police, S. 249.
118 Um 1900 gab es nur gerade rund 10.000 Gendarmen für das ganze Reich (DALY Autocracy, S. 53).
119 DALY Autocracy, S. 64, DALY Security Police, S. 220, und LIEVEN Police, S. 243f.

31

OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN Mitteilung Nr. 56

sozialen Elends und wegen ihres Ausschlusses von der politischen Mitgestaltung zuse­
hends radikalisierten.120
Eine Hungersnot mit Seuchenfolge 1891/92 offenbarte die Unfähigkeit des Staates
und seiner überforderten Bürokratie, mit einer kritischen Situation umzugehen. Nach ei­
nem Jahrzehnt der Desorientierung war dies auch ein Signal an die oppositionellen Krei­
se. Aber dem Versuch der sich in den Provinzen neu formierenden Revolutionäre, den
Unmut auf dem Land gegen die Regierung in ihre Bahnen zu lenken, war erneut wenig
Erfolg beschieden.121
Auf politisch-theoretischem Feld deuteten sich, im Nachhall zur fehlgeschlagenen
und politisch kontraproduktiven ersten Terrorwelle, seit der zweiten Hälfte der achtziger
Jahre zwei miteinander verknüpfte Linien an. Die Arbeiter und überhaupt die indus­
trialisierte Wirtschaft erlangten die Aufmerksamkeit der revolutionären (und der links­
liberalen) Denker, und zugleich setzte die Rezeption des Marxismus ein, verbunden mit
der Frage nach dessen Adaptation auf die russischen Verhältnisse.122 Die Zusammen­
arbeit zwischen der intelligencija, der Trägerin der revolutionären Bewegung, und den
Arbeitern war mehrfach kompliziert; es galt das Vertrauen der Massen zu gewinnen und
den Widerspruch zwischen den kurzfristigen Zielen der Arbeiter und den langfristigen
marxistisch-theoretischen der Revolutionäre aufzulösen oder zumindest zu re­
lativieren.123 Über den Weg dorthin bestand in der sozialdemokratischen Bewegung aber
Uneinigkeit, die auch mit der Gründung der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiter­
partei (RSDRP, kurz SD) 1898 nicht ausgeräumt wurde und jeweils von den beiden füh­
renden Köpfen, Vladimir I. Ul’janov (Lenin) und Julij O. Cederbaum (Martov)124, ver­
körpert wurde. Auf dem Parteikongress 1903 in London spalteten sich die Sozialdemo­
kraten in „bol’ševiki“ („Mehrheitler“) und „men’ševiki“ („Minderheitler“). Erstere, un­
ter Lenin, hielten eine straff geführte, zentralisierte und auf Berufsrevolutionäre ge­
gründete Parteistruktur für unabdingbar, während Martov und seine Fraktion eine de­
zentralisierte, demokratischere und also näher bei den Massen stehende Organisation
befürworteten.125 Die schärfste Konkurrenz erwuchs den Sozialdemokraten in der Partei
der Sozialrevolutionäre (PSR, kurz SR) unter der Führung von Viktor M. Černov. Die
Partei, die sich auf die ländlich-bäuerlichen Schichten konzentrierte, lehnte den Terror
als Mittel zum Zweck nicht ab. Die terroristischen Aktionen in den Jahren vor 1905 gin­
gen zur Hauptsache auf das Konto einer Minderheit der Sozialrevolutionäre und fanden
unter Studenten einigen Widerhall.126 Eine sehr heterogene, teils auf bürgerlicher, aber
120 Zur industriellen Entwicklung vgl. auch STÖKL Geschichte, S. 561–565, zur sich verändernden Stadt
und der Lebenswelt der Fabrikarbeiter GOEHRKE Alltag 2, bes. S. 290–302; zu den Pogromen ROGGER
Russia, S. 204f.
121 So GEIFMAN Introduction, S. 4. Vgl. auch ROGGER Russia, S. 140–142.
122 Die Agrarfrage stand im Zentrum der Debatten. Vgl. HAUMANN Geschichte, S. 384f., HILDERMEIER Re­
volution, S. 39f., ROGGER Russia, S. 141–144, STÖKL Geschichte, S. 582–585. Eine ausführliche Pro­
blematisierung kann an dieser Stelle nicht geleistet werden.
123 Insbesondere ROGGER Russia, S. 144–146, weist auf dieses Dilemma hin.
124 Zu Cederbaum und Ul’janov vgl. STÖKL Geschichte, S. 585–591.
125 Vgl. HAUMANN Geschichte, S. 385–387, und ROGGER Russia, S. 147–150. Auf programmatische Unter­
schiede kann hier nicht eingegangen werden.
126 ROGGER Russia, S. 151, und HAUMANN Geschichte, S. 387. GEIFMAN Introduction, S. 4, schreibt, dass
der terroristische Kampf der Revolutionäre nicht der Stimmung im Volk entsprochen habe. Gleichzei­

32

2.3. Politische Gegnerschaft und der Niedergang der Staatsmacht

wirklichkeitsfremder Intelligenz und teils auf dem an den zemstva beteiligten Adel grün­
dende politische Gruppe bildeten die Liberalen. Ihr Kampf galt dem herrschenden Sys­
tem und den terroristischen Umtrieben, aber ihr Vorgehen blieb inkonsistent.127
Mit der Revolution von 1905, deren Chance die Sozialdemokraten erst zu spät er­
kannt hatten, weil sie noch mitten in ihrem Selbstfindungsprozess steckten, veränderte
sich das Zarenreich noch einmal.128 Aber trotz dem Grundgesetz von 1906 und der darin
festgeschriebenen Einrichtung eines Parlaments (Duma) blieb das Spannungsfeld be­
stehen; es verschärfte sich sogar. Durch die Modernisierung in der Wirtschaft war die
Gesellschaft einem Wertewandel und zunehmender sozialer Polarisierung unterworfen.
Das Zartum, das in Nikolaus II. den Höhepunkt der Schwäche erreicht hatte, war – seit
der Justizreform – im Grunde keine „Selbstherrschaft“ mehr, aber das autokratische
Selbstverständnis blieb bestehen.129 Das offenbarte nur umso mehr die Ohnmacht, die als
Macht ausgegeben wurde. Staat und Gesellschaft fanden längst nicht mehr auf einen
Nenner; aber die gesellschaftlichen Eliten fürchteten zugleich die Macht der Masse,
auch wenn sich die Zahl derer aus dem Kreis der Gebildeten, die sich auf die Seite der
Opposition schlugen, zusehends vergrößerte.130 Die Reformen waren zwar auch an der
Bürokratie als einer der zentralen „Gewalten“ im Reich nicht spurlos vorübergegangen,
aber diese war gleichzeitig ein Hort der Korruption und ein Bollwerk der Traditionalis­
ten. Rogger schreibt von einer „bürokratischen Anarchie“.131 Das Zarenreich wurde nicht
straff von der Neva aus geführt; die Bürokratie verselbständigte sich in den Weiten des
Imperiums und war in der Provinz, außer in den Städten, oft gar nicht präsent.132
Nicht zuletzt traf dies auf die politische Polizei zu. Deren Ressourcen waren be­
grenzt, und ihr Wirken konnte dadurch gar nicht ubiquitär sein. Im Zusammenspiel mit
den Ausnahmegesetzen von 1881, die – nur in einzelnen Provinzen in Kraft – es dem
Staat durch die Ausweitung der administrativen (also behördlich, nicht gerichtlich ange­
ordneten) Strafmaßnahmen erleichterten, gegen politische Gegner mitunter nur schon im
Verdachtsfall vorzugehen, unterdrückte die Sicherheitspolizei zwar die revolutionäre
tig betont sie den inneren Wandel der terroristisch aktiven Revolutionäre, die zusehends abgehobener
von der Masse gewirkt und dabei gerade jene, die sie zu retten vorgegeben hätten, vergessen hätten.
Dem neuen Typus des Revolutionärs sei jedes Mittel recht gewesen; die Grenzen zwischen gewöhnli­
cher Kriminalität und Terrorismus seien fließend geworden, was die Skrupellosigkeit begünstigt habe,
vgl. S. 8–13. Vertiefend dazu Anna Geifmans umfassende Studie (GEIFMAN Thou shalt kill). ROGGER
Russia, S. 152, zitiert Lenin, der den Terror auch deshalb ablehnte, weil er zu kräfteraubend sei. Zu
den Studentenunruhen und den SR vgl. FIGES Tragödie, S. 181.
127 STÖKL Geschichte, S. 592–595. Petr B. Struves Journal „Osvoboždenie“ („Befreiung“) war das publi­
zistische Sprachrohr der russischen Liberalen; es erschien ab 1902 in Stuttgart und später in Paris.
128 ROGGER Russia, S. 149. Die Masse ließ sich nun, anders als noch zehn Jahre zuvor, mobilisieren. Die
Ereignisse von 1905 waren von den russischen liberalen Kräften getragen, die nicht eine bestimmte
Schicht, sondern die ganze Nation im Auge hatten, obwohl sie selbst, wie alle Parteien, sich zumeist
aus der intelligencija rekrutierten, vgl. dazu und zur russischen Spielart des Liberalismus die Über­
sicht bei HILDERMEIER Revolution, S. 45f.
129 Vgl. ROGGER Russia, S. 19 und 132 sowie STÖKL Geschichte, S. 560f. (zu Nikolaus II.).
130 Vgl. LIEVEN Police, S. 261, und DALY Political Crime, S. 97.
131 ROGGER Russia, S. 13 und 64. Zur Bürokratie vgl. auch den Überblick bei HILDERMEIER Revolution, S.
46–50.
132 Vgl. BABEROWSKI Autokratie, S. 770–772.

33

OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN Mitteilung Nr. 56

Bewegung.133 Aber ihr Vorgehen war oft inkonsistent.134 Die Repression äußerte sich vor
allem als Willkür, was ihre Härte im jeweiligen Fall keineswegs relativierte, wohl aber
die Macht des Polizeiapparats.135 Am Beispiel Zubatovs, des Chefs der Moskauer Si­
cherheitspolizei bis 1904, und seiner Eindämmungsversuche lässt sich die schillernde
Dimension der polizeilichen Arbeit im Spannungsfeld von Staat und Gesellschaft illus­
trieren; Polizeiarbeit war mehr als Repression. Anderseits zeigten die Jahre vor und
nach 1905 auch die Fähigkeit zum brachialen Vorgehen. Nur mehr zur Schau gestellte
Härte vermochte in den Augen der Herrschenden die Entladung des bis ans äußerste
strapazierten Spannungsfelds zu verhindern. Der Erste Weltkrieg verschob das Schwer­
gewicht an die Grenze und entspannte die Situation im Innern – für einen trügerischen
Moment, bis die Kraft, zurückgeschleudert, dem Reich den letzten Stoß verpasste und
mit der Februarrevolution 1917 das morsche Gebälk zusammenbrach.

133 Zu den Ausnahmegesetzen vgl. RABE Justiz, S. 1544f. BABEROWSKI Justizwesen, S. 164, spricht von
Hilflosigkeit, die sich in den Gesetzen gespiegelt habe.
134 Vgl. dazu DALY Autocracy, S. 10f., LIEVEN Police, S. 257–259, und DALY Political Crime, S. 87f. und
94. Der ökonomische und soziale Status des Verfolgten war für die Behandlung durch die Polizei oft
von Bedeutung, worauf auch ROGGER Russia, S. 56f., hinweist. Richard Pipes’ These von der an „To­
talitarismus“ gemahnenden Polizeimacht im ausgehenden Zarenreich (PIPES Old Regime, S. 311f.) ist
vor diesem Hintergrund eindeutig zu verwerfen. Sie ist Teil einer Überhöhung der Omnipotenz der
ochrana; LAUCHLAN Separate Realm, bes. S. 70–83, schreibt zum „Mythos ochrana“. ROGGER Russia,
S. 55, betont, sie sei kein Staat im Staat gewesen und ihre Opfer seien nicht einfach verschwunden.
135 Ein Beispiel dafür ist die Zensur, vgl. ROGGER Russia, S. 57. Beispielsweise konnte Lenins in der Ver­
bannung geschriebenes Werk „Die Entwicklung des Kapitalismus in Russland“ ohne weiteres publi­
ziert werden.

34

3. Sibirien – „Die andere Welt“: Topographie der Katorga

3. Sibirien – „Die andere Welt“: Topographie der Katorga
Gustaw Herling-Grudzińskis Erinnerungen an seine anderthalbjährige Lagerhaft in den
1940er Jahren im nordrussischen Gulag-Ableger von Vorkuta sind im polnischen Origi­
nal mit „Inny świat“ überschrieben – „andere Welt“.136 Die „andere Welt“ – das ist das,
was Aleksandr Solženicyn den „Archipel“ genannt hat; die Welt des sowjetischen La­
gers, die sich über das ganze Land verteilte, selbst vor den Metropolen nicht endete und
doch einer anderen Wirklichkeit entsprach. Lager gab es überall im Sowjetimperium,
und mit ihnen die „andere Welt“. Auch Sibirien erscheint, aus Moskauer oder Pe­
tersburger Perspektive, als eine „andere Welt“ – als das „andere Russland“. 137 Aber es ist
zugleich ein geographisch fassbarer Raum, mit welchem darüber hinaus auch der russi­
sche Ferne Osten (Dal’nij vostok) samt der Insel Sachalin zu denken ist.138 Zu Zeiten des
sowjetischen Gulag waren diese „anderen Welten“ – jene des Gulag und jene hinter dem
Ural – nur partiell deckungsgleich; in der politischen Katorga des späten Russischen
Reichs aber nahezu ganz. Die Vollzugsstätten der Zwangsarbeit für politische Häftlinge
befanden sich – von einzelnen, namentlich in der allerletzten Phase des Zarenreichs ein­
gerichteten Ausnahmen abgesehen – in Sibirien und auf Sachalin.139
3.1. Die Katorga im russischen Verbannungs- und Strafsystem
3.1.1. Ssylka und Katorga
Die Topographie der Katorga ist zunächst eine geographische, nicht weniger aber
eine historische und politisch-rechtliche. Das russische Verbannungssystem bildete ih­
ren Rahmen. Seit dem ausgehenden 16. Jahrhundert wurden Personen, die sich nach An­
sicht der Dorfgemeinschaft vergangen hatten, deportiert und ab 1649 – nicht nur, aber in
zunehmendem Maß – nach Sibirien verbracht.140 Immer wieder wird in diesem Zu­
sammenhang die Glocke von Uglič als das ins Extreme gewendete Beispiel einer der
frühesten Verbannungen angeführt; zusammen mit renitenten Dorfbewohnern hatte Zar
Boris Godunov das Klangwerk 1591 nach Westsibirien deportieren lassen, nicht ohne
136 Das Werk ist auf Deutsch unter dem Titel „Welt ohne Erbarmen“ im Jahr 2000 neu aufgelegt worden.
Über die Sinnfälligkeit dieser Titelgebung lässt sich streiten; sie ist auf eine andere Dimension aus­
gerichtet als die vieldeutigere Originalüberschrift, an die sich im übrigen auch die englische Fassung
anlehnt („A World Apart“).
137 Vgl. GOEHRKE Das „andere Russland“, wo die Stellung Sibiriens in der russischen Geschichte unter­
sucht wird, sowie BASSIN Imperialer Raum, wo es um Projektionen auf und Vorstellungen von Sibirien
im (europäischen) Russland des 19. Jahrhunderts geht. Zur kulturellen Grenzziehung vgl. FIGES Na­
tasha’s Dance, S. 378f.
138 Zur geographischen Definition Sibiriens vgl. WEIN Sibirien, S. 15–17. Die Abgrenzung des Fernen
Ostens als geographisch und territorial von Sibirien geschiedenes Gebiet erfolgte demnach erst im
Laufe des 20. Jahrhunderts. Die Grenze verläuft geographisch entlang der Wasserscheide zwischen
den Einzugsgebieten des Nördlichen Eismeers und des Pazifiks. Die politisch-territoriale Grenzzie­
hung folgt dem aber nur partiell.
139 Vgl. DALY Punishment, S. 351.
140 Vgl. KONSTANTINOV Katorga, Sp. 575f. Die Ssylka wurde im Gesetzbuch von 1649 als Strafe festge­
schrieben. DVORJANOV V sibirskoj, S. 23, erwähnt gar Strafaktionen Ivan Groznyjs Mitte des 16. Jahr­
hunderts als erste Formen der Ssylka. Vgl. auch die Übersicht bei RABE Widerspruch, S. 16–22, und
MARGOLIS Sistema, S. 126–134.

35

OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN Mitteilung Nr. 56

vorgängige „körperliche“ Züchtigung.141 Verbannung und körperliche Bestrafung (teles­
noe nakazanie) gehörten bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts in Russland zusammen;
die Verschickung nach Sibirien, das sich durch die Eroberung und allmähliche Erschlie­
ßung als Deportationsort – als „andere Welt“ – anbot, bedeutete stets eine Ergänzung zu
einer Prügelstrafe. Überdies wurden Sträflinge je nach Grad ihres Verbrechens im Ge­
sicht verstümmelt und, bis 1863, gebrandmarkt.142 Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts
fand schrittweise eine Reduzierung der Körperstrafen statt. 1785 war der Adel von ih­
nen ausgenommen worden, und unter Alexander I. wurden die Folter und die grausams­
ten Praktiken der körperlichen Eingriffe abgeschafft. Das war auch dem Blick nach dem
westlichen Europa geschuldet, wo im Zuge der Aufklärung und des aufkommenden Li­
beralismus das Strafwesen rationalere und vordergründig weniger körperhafte Züge an­
zunehmen begonnen hatte.143 Die „milderen“ Formen der Prügelstrafe blieben in Russ­
land aber erlaubt, und mit dem Verbannungssystem stand in Russland bis 1917 eine
Form der Bestrafung im Zentrum des Strafsystems, die im europäischen Vergleich
längst zum Auslaufmodell geworden war und selbst stark körperhafte Züge trug.144
Wichtige Reformen des Verbannungssystems hatte zu Beginn des 19. Jahrhunderts der
1819 von Zar Alexander I. zum Generalgouverneur für Sibirien ernannten Michail M.
Speranskij vorgenommen. Er schuf 1822 ein Regelwerk für das Verbannungssystem
(ustav o ssyl’nych), in dem vor allem die Aufteilung des Weges an die Verbannungsorte,
aber auch die Arbeitsleistungen und die Organisation der Haft festgelegt wurden.145 Die
Verbannung wurde zwar auch im spätzarischen Russland als überholte Strafform wahr­
genommen, aber die Abschaffungsversuche blieben erfolglos und die wiederkehrenden
Reformbemühungen ohne Durchschlagskraft.146 Das System passte in das „Macht und
Ohnmacht“-Schema der Zeit: Die Effizienz war gering, die Willkür und die daraus re­
sultierende Macht bedeutend größer.
Dieser Umstand war auch in der komplizierten Struktur des Verbannungswesens mit
seinen zahlreichen Spielarten begründet und darin, dass dieses im Laufe des 19. Jahr­
hunderts immer größere Dimensionen annahm.147 Im Strafgesetzbuch von 1845 wurde
die Unterscheidung in „Besserungs-“ und „Erziehungsstrafen“ vorgenommen. Erstere
141 Vgl. WOOD Crime, S. 218–220, GENTES Siberian Exile, S. 205, und SCHRADER Branding the Exile, S.
19f.
142 WOOD Crime, S. 220. Bedeutsam war 1845 die Abschaffung der Knutenstrafe; die Knute (knut) be­
stand aus einem schneidend harten Lederriemen, der die Haut bis auf die Knochen aufriss. Als Ersatz
dienten die „mildere“ plet’ genannte Peitsche mit drei kleinen, in Knoten auslaufenden Enden, und die
rozga, eine (Birken-)Rute. Offiziell abgeschafft wurde die Prügelstrafe erst 1893, aber bis zuletzt
noch angewandt. Bei WOOD Crime, S. 224, heißt es, die Rute sei 1871 abgeschafft worden, während
die plet’ noch weiterbestanden habe. Allerdings ist in den Quellen aus der Zeit danach oft von der
rozga die Rede. Vgl. auch KODAN Katorga, S. 529f.
143 WOOD Crime, S. 221f. Für die westeuropäische Entwicklung vgl. FOUCAULT Überwachen, S. 16–34.
144 Vgl. RABE Widerspruch, S. 32, zum Vergleich mit Westeuropa.
145 Vgl. DALY Punishment, S. 341, SCHRADER Languages, S. 82, KODAN Katorga, S. 530, THOMAS Ge­
schichte, S. 73, WOOD Crime, S. 222–224, WOOD Introduction, S. 9f., und SEROŠEVSKIJ Ssylka i kat­
orga, S. 209f. SCHRADER Languages, S. 103, merkt an, dass die Reformen zu Beginn des 19. Jahr­
hunderts das Strafwesen grundsätzlich zwar leicht entschärft hätten, dass aber innerhalb des Ver­
bannungssystems die Strafhärte zugenommen habe.
146 Zur Diskussion um das Verbannungssystem vgl. die Kurzübersicht bei DALY Punishment, S. 356.
147 Vgl. WOOD Crime, S. 225.

36

3.1. Die Katorga im russischen Verbannungs- und Strafsystem

umfassten die schwereren, letztere die leichteren Vergehen, für beide Formen konnten
Verbannungsstrafen verhängt werden. Die Spitze der Besserungsstrafen führte die Kat­
orga als Verbannung zu Zwangsarbeit an, gefolgt von lebenslänglicher Ansiedlung
(ssylka na poselenie) und Ansetzung (ssylka na vodvorenie) bzw., speziell für religiöse
Vergehen, Verbannung in den Transkaukasus.148 Verbannung zum Wohnen (na žit’e) mit
entsprechend kürzer bemessener Frist fiel in die Kategorie der Erziehungsstrafen. Die
Besserungsstrafen waren ausschließlich gerichtlicher Beurteilung vorbehalten; daneben
existierten der administrative Weg, der von behördlichen Instanzen ausging, und eine
gesellschaftliche Form, die Verbannung durch die Dorfgemeinde. Die Begleitung durch
die Familienangehörigen war erlaubt; allerdings durften diese bis zum Tod des Verur­
teilten nicht vom Verbannungsort in die Heimat zurückkehren.149 Auch die geographi­
sche Komponente spielte hinein; unterschieden wurde zwischen Verbannung in entfern­
tere (zunehmend der Osten Sibiriens, besonders Transbaikalien und Jakutien) und weni­
ger entfernte Gebiete (Nordrussland, Uralgebiet, Westsibirien).150 Die Kategorisierung
von 1845 war in der Folge mehrfachen Anpassungen unterworfen, im Zuge der Justizre­
form 1864 und durch die Ausnahmegesetze, die Ende der 1870er Jahre während der
Phase des Terrors und dann verschärft nach dem Attentat auf Zar Alexander II. in Kraft
waren. Vor allem die administrative Verbannung erfuhr eine Aufwertung.151 Einen Ein­
schnitt stellte die gemeinhin als „Gesetz vom 12. Juni 1900“ bezeichnete Reform der
Verbannung dar, welche die gerichtliche und gesellschaftliche Ssylka für allgemeine
Straftatbestände (also nicht politische) sehr stark einschränkte.152 Die Todesstrafe war
dagegen in Russland nur für ganz wenige Verbrechen vorgesehen, etwa Verschwörung
gegen den Staat oder Gewalt gegenüber dem Zaren.153 Mörder und Räuber, denen in
Westeuropa die Kapitalstrafe drohte, wurden in die Verbannung geschickt; ab dem 18.
Jahrhundert etablierte sich die Zwangsarbeit als zweithöchste Strafe.154
Zar Peter I. hatte als erster Zwangsarbeiter im Schiffsbau und bei der Erbauung St.
Petersburgs und Asovs eingesetzt; danach wurde der Begriff „Katorga“ gebräuchlich.155
Bis 1845 wurde die Zwangsarbeit als Teil des Verbannungssystems in mehreren Schrit­
ten systematisiert; die Häftlinge waren in der Bergwerksarbeit in Sibirien, aber auch in
der Festungs- und Fabrikarbeit eingesetzt. Mit der Erneuerung des Strafgesetzbuches
148 Vgl. das Strafgesetzbuch von 1845, 1. Abteilung, 2. Kapitel, Art. 21–24 (Uloženie, S. 177f.). In der
Literatur zum Thema werden zum Teil verwirrende Aussagen gemacht, auf die hier detailliert einzu­
gehen wenig Sinn hätte. Vgl. WOOD Crime, S. 222f., aber auch KACZYNSKA Gefängnis, S. 27 und 31–
36, und DALY Punishment, S. 342 und 352. KENNAN Siberia I, S. 79, führt vier Kategorien an: Zwangs­
arbeiter, Ansiedler, einfache Verbannte sowie Freiwillige (Angehörige von Verbannten).
149 Vgl. KODAN Katorga, S. 529.
150 Vgl. das Strafgesetzbuch von 1845, 1. Abteilung, 2. Kapitel, Art. 35 (Uloženie, S. 180f.).
151 Vgl. bes. WOOD Crime, S. 223f., und KACZYNSKA Gefängnis, S. 31f.
152 Zusammenfassung bei MARGOLIS Sistema, S. 140. Vgl. RABE Widerspruch, S. 50f., und WOOD Crime,
S. 233.
153 Vgl. DALY Political Crime, S. 69. Oft wurden Todesurteile in eine lebenslange Katorga-Strafe umge­
wandelt. Diese smertniki (von russisch smert’ – Tod) bildeten stets eine große Gruppe in der poli­
tischen Katorga.
154 Vgl. dazu WOOD Crime, S. 220–222, und DALY Punishment, S. 341–343. Verordnungen (ukazy) von
1753 und 1754 verfügten für kriminelle Straftäter die Zwangsarbeit als Höchststrafe, vgl. KODAN Kat­
orga, S. 529.
155 Zur Etymologie der Bezeichnung „Katorga“ vgl. Fußnote 10.

37

OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN Mitteilung Nr. 56

1845 wurde für die Katorga in einem eigenen Abschnitt eine differenzierende Klassifi­
zierung vorgenommen. Unterschieden wurde zum einen nach der Härte des Vollzugs;
Bergwerksarbeit galt als die schwerste Strafe, danach folgten Festungs- und Fabrikar­
beit. Zum andern wurden sieben Stufen des Strafmaßes – von unbegrenzter Bergwerks­
arbeit (was in der Praxis eine zwanzigjährige Katorga-Strafe bedeutete) bis zu vier- bis
sechsjähriger Katorga in Fabriken – festgelegt, die (außer bei Adligen) um eine eben­
falls variierende Anzahl Peitschenhiebe (mit dem plet’) sowie um die Brandmarkung
mit den Buchstaben „KAT“ auf Wangen und Stirn ergänzt wurde. Zehn Monate zählten
als ein ganzes Katorga-Jahr. Mit der Katorga-Strafe erloschen überdies sämtliche Rechte
des Verurteilten (lišenie prav sostojanija), was einem „zivilen Tod“ gleichkam.156 Ver­
bunden war damit lebenslängliche Ansiedlung (poselenie) in Sibirien nach Verbüßung
der Strafe. Niemand musste die gesamte Haftzeit auch tatsächlich im Gefängnis an den
Vollzugsorten verbringen. Nach der Verbüßung eines Teils der Strafe konnten (und
mussten) sich die Häftlinge in der Umgebung der Gefängnisse in Hütten ansiedeln, un­
terlagen aber weiterhin ihrer Strafe („Freies Kommando“).157 1863 wurde die zwingend
mit der Katorga einhergehende Körperstrafe aufgehoben; 1869 verschob sich die Kator­
ga definitiv zur Hauptsache ins östliche Sibirien und, neuerdings, zusätzlich auf die In­
sel Sachalin.
3.1.2. Die politische Katorga: Die Schauplätze Ostsibirien und Sachalin
Eine eigene Gruppe innerhalb des Verbannungssystems bildeten die aus politischen
Gründen verurteilten Personen. Politische Delinquenz war im 19. Jahrhundert in Russ­
land breit definiert; jegliche Äußerungen und Handlungen gegen die Autokratie, ja blo­
ße Verdachtsmomente, galten als subversiv und waren harten Strafen – mitunter, wie im
Fall der Todesstrafe, härteren als für „gewöhnliche“ Verbrechen – unterworfen. Im Zuge
der Justizreform von 1864 wurden Verbrechen gegen den Staat gar als gefährlicher als
andere Vergehen gewertet; sie waren, wie erwähnt, auch nicht den neugeschaffenen Ge­
schworenengerichten zugeordnet. Mit der Revision des Strafgesetzbuches 1903 wurde
der Katalog der unter Strafe stehenden, im weiteren Sinn politischen Tätigkeiten ausge­
weitet, nachdem der Spielraum des Sicherheitsapparats bereits durch die Aus­
nahmegesetze von 1881 größer geworden war.158 Als bedeutsames Instrument des Regi­
mes zur zeitweiligen Ausschaltung politischer Gegner erwies sich die administrative, al­
156 Für die vorangegangenen Ausführungen vgl. Strafgesetzbuch von 1845, 1. Abteilung, 2. Kapitel, Art.
21 (Stufen der Katorga-Strafe), Art. 27 (plet’), Art. 28 (Brandmarkung, russ. klejma), Art. 24–26
(lišenie prav sostojanija) (Uloženie, S. 177–179). Letzteres wirkte sich je nach Stellung in der Gesell­
schaft unterschiedlich aus. Es bedeutete den Verlust des Ranges, der persönlichen Rechte und die
Auflösung der Rechtsbeziehungen wie etwa der Ehe; diese blieb nur bestehen, wenn die Angehörigen
dem Sträfling an den Ort der Katorga folgten; die Gattin und die Kinder verloren die Rechte aber in
keinem Fall, vgl. Art. 26 und die Zusammenfassung bei KODAN Katorga, S. 529.
157 KACZYNSKA Gefängnis, S. 90f., WOOD Crime, S. 222–224, DALY Punishment, S. 343 und 351, und
KODAN Katorga, S. 529f. Das „Freie Kommando“ kam auch den Gefängnisverwaltern entgegen, die
froh waren, wenn sie nicht mehr für die Häftlinge sorgen mussten, vgl. KACZYNSKA Gefängnis, S. 96f.
Vgl. auch Kap. 4.5. (S. 102).
158 Vgl. DALY Political Crime, S. 69–72. Vgl. die Ausführungen in den vorangegangenen Kap. 2.2. (S.
25) und 2.3. (S. 31).

38

3.1. Die Katorga im russischen Verbannungs- und Strafsystem

so durch eine Behörde verhängte, politische Verbannung; ihr unterlag der größte Teil
der aus politischen Gründen nach Sibirien Verschickten.159
Zumindest bis zur Gesetzesanpassung 1900 prägten die Kriminellen das Ver­
bannungssystem;160 die Zahl der politischen Verbannten war, relativ dazu, gering. In be­
sonderem Maß traf das auf die politische Katorga zu. Ebenso wie bei der Ssylka in ihren
verschiedenen Formen praktisch von Anbeginn an stets auch eine politische Kompo­
nente mitgespielt hatte – das Beispiel von Uglič aus Boris Godunovs Zeiten steht auch
dafür –, diente die Katorga als zweithöchstes Strafmaß zur Ahndung etwa der Be­
teiligung an Aufständen.161 Ein Einschnitt erfolgte mit der Verurteilung von 124 am De­
kabristenaufstand von 1825 beteiligten Personen aus dem russischen Adel zu langjäh­
rigen Zwangsarbeitsstrafen. Das Jahr 1826, das Datum der Ankunft der Dekabristen in
Ostsibirien, wurde in der sowjetischen Historiographie als der eigentliche Beginn der
politischen Katorga als Repressionsinstrument beschrieben – entsprechend der hohen
Bedeutung, die dem Dekabristenaufstand innerhalb der „Befreiungsbewegung“ (osvobo­
ditel’noe dviženie) des 19. Jahrhunderts zugemessen wurde.162 Wenngleich das zu einem
Übergewicht an Forschungen darüber geführt hat, ist unbestritten, dass das Regime die
Zwangsarbeit zunehmend als geeignetes Mittel zur Ausschaltung politischer Gegner be­
trachtete und der Osten Sibiriens als Vollzugsort in den Vordergrund rückte.
Die Hochrangigsten der zu Katorga-Strafe verurteilten Dekabristen waren 1826 als
erste offizielle politische Sträflinge in den Kreis Nerčinsk (Nerčinskij gornyj okrug) ge­
kommen.163 Zu Beginn des 18. Jahrhunderts war in dem an Silbervorkommen reichen,
abgelegenen Gebiet jenseits des Baikalsees (Transbaikalien) mit der Ausbeutung be­
gonnen worden.164 Zwangsarbeiter, zwangsverschickte Bauern und zur Mitarbeit ver­
pflichtete lokale Siedler betrieben unter harschen Bedingungen Bergwerke und Silber­
schmelzanlagen, die Kabinettsbesitz waren und dadurch direkt dem Zaren unterstanden;
unter den Gefangenen sollen sich bereits einige „geheime“ politische Häftlinge be­
funden haben, über deren Existenz aber kaum etwas bekannt ist.165 Bis zu Beginn der
1870er Jahre entwickelte sich der Silberminendistrikt (Hauptort: Nerčinskij Zavod) mit
den Gefängnissen von Akatuj, Algači, Aleksandrovskij Zavod und Pokrovskoe zum be­
vorzugten und berüchtigten Vollzugsort für politische Katorga-Häftlinge. Bereits 1838
waren nördlich des Kreises Nerčinsk, im Tal der Kara, eines in die Šilka mündenden
Flusses, Goldvorkommen entdeckt worden. Das Interesse der Kabinettsverwaltung ver­
159 Vgl. RABE Widerspruch, S. 149f., und für die Zeit nach 1905 ŠČERBAKOV Iz istorii, S. 85.
160 Vgl. Fußnote 152.
161 In diesem Zusammenhang sind auch die religiösen Auseinandersetzungen der zweiten Hälfte des 17.
Jahrhunderts zu erwähnen (Kirchenspaltung – raskol); der Protopope Avvakum, der Sprecher der Alt­
gläubigen, wurde nach Sibirien verbannt. Vgl. WOOD Crime, S. 228.
162 Vgl. dazu DVORJANOV V sibirskoj, S. 10f. sowie das entsprechende Kapitel ebd., bes. S. 37–59. Eben­
falls GORJUŠKIN Predislovie, S. 9.
163 Vgl. die Karte im Anhang (S. 159).
164 Vgl. dazu und zur folgenden räumlichen Entfaltung des Katorga-Gebiets in Ostsibirien das Kartenma­
terial im Anhang. Jener Teil Ostsibiriens östlich des Baikalsees bis zur heutigen russisch-chinesischen
Grenze am Amur heißt auf Russisch Zabajkal’e und wird im Deutschen mit „Transbaikalien“ über­
setzt.
165 Vgl. PLESKOV Nerčinskaja katorga, Sp. 740f., GORJUŠKIN Predislovie, S. 9, und KACZYNSKA Gefängnis,
S. 107.

39

OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN Mitteilung Nr. 56

lagerte sich daraufhin allmählich nordwärts. Von der Mündung der Kara in die Šilka
wurden bis an den Oberlauf des Flusses insgesamt fünf Ortschaften mit Katorga-Ge­
fängnissen errichtet, jeweils bei einer Mine (Ust’-Kara, Nižnjaja Kara als Zentrum,
Srednjaja Kara, Verchnjaja Kara, Amurskij). Ab 1873 wurden erste politische Häftlinge
an die Kara geschickt, ab Ende der siebziger Jahre wurde das Kara-Tal für etwas mehr
als eine Dekade zum alleinigen Zielort für politische Zwangsarbeiter.166 Sie blieben auch
hier in der klaren Minderheit gegenüber den Kriminellen, waren aber ab 1882 in einem
eigenen Gefängnis in Nižnjaja Kara untergebracht und, als Sicherheitsmaßnahme, der
Gendarmerie (und nicht der Gefängnishauptverwaltung) unterstellt.167 Für die weiblichen
„Politischen“ existierte ein gesondertes Gebäude. 1890 kehrte die politische Katorga in
den südlichen Nerčinsker Distrikt zurück; die Gleichbehandlung und Zusammenführung
der politischen und der kriminellen Häftlinge sollte, nach Meinung besonders des zu­
ständigen Generalgouverneurs Korff, das Protestpotential der „Politischen“ verringern.
Diese wurden vorerst im neugebauten Gefängnis von Akatuj konzentriert, das als Mus­
terstrafanstalt geführt werden sollte, und später auf weitere Gefängnisse der Region ver­
teilt, namentlich auf Gornyj Zerentuj, Algači, Kutomara, Kadaj und das Frauengefängnis
Mal’cevskaja.168
Organisatorisch bildete die Nerčinsker Katorga eine Einheit. Die Unterstellung unter
die Kabinettsadministration des Bergwerksrayons endete 1869 mit der Überführung in
den Verantwortungsbereich des Innenministeriums, das durch den in Čita residierenden
Militärgouverneur von Transbaikalien vertreten wurde;169 dieser gehörte bis 1884 zum
Generalgouvernement Ostsibirien (Hauptstadt: Irkutsk) und danach zum neu eingerich­
teten Generalgouvernement Priamurskij (Hauptstadt: Chabarovsk).170 1879 wurde die
Katorga-Oberaufsicht in die neugeschaffene Gefängnishauptverwaltung (Glavnoe up­
ravlenie tjur’my, GTU) als dritte Abteilung eingegliedert.171 Im selben Jahr (1895) über­
nahm eine eigene Verwaltung für die Nerčinsker Katorga mit Sitz in Gornyj Zerentuj
die Aufgaben, die bisher dem Militärgouverneur oblagen. Die Aufstände in den großen
Nerčinsker Gefängnissen 1910 bis 1912 führten abermals zu einer Reorganisation, in
deren Folge die Katorga-Verwaltung mit der Administration der oblast’ von Čita verei­
nigt wurde.172
166 PLESKOV Nerčinskaja katorga, Sp. 743, MOŠKINA Katorga, S. 19f., und PRIBYLEV Karijskaja katorga, Sp.
553. Laut KENNAN Siberia II, S. 206, saßen „Politische“ bis 1879 hauptsächlich in Petersburg oder
Char’kov ein.
167 Vgl. KLER Organy, S. 145f. Die Gendarmerie war sowohl gegenüber der Irkutsker Gendarmeriever­
waltung als auch gegenüber dem Militärgouverneur von Transbaikalien verantwortlich. Dadurch ent­
stand eine Doppelstruktur, die als „Privilegierung“ der politischen Katorga beargwöhnt wurde. Vgl.
auch FOMIN Katorga, S. 16.
168 Vgl. PLESKOV Nerčinskaja katorga, Sp. 743f., ŠČERBAKOV Iz istorii, S. 83, sowie Nerčinskij kraj, S. 16f.
169 Vgl. KLER Organy, S. 143. Die Bergwerksarbeit für Häftlinge war (zu jener Zeit) davon nicht berührt,
weil zu wenige andere Arbeitskräfte zur Verfügung standen.
170 KLER Organy, S. 148f., bezeichnet diese Zuordnung als künstlich, da sich Čita und Umgebung viel
eher nach Irkutsk als nach Chabarovsk orientiert hätten. Vgl. auch AMBURGER Geschichte, S. 332.
171 Vgl. ADAMS Politics, S. 122 und 130. Die GTU war anfangs dem Innen-, ab 1895 dem Justizministeri­
um zugehörig (vgl. Kap. 2.3. S. 31). Nach dem Wechsel der GTU ins Justizministerium blieb jedoch
das Innenministerium weiterhin für die „Politischen“ zuständig; die Koordination der Geldmittel für
die Gefängnissanierung wurde aber verbessert, vgl. KLER Organy, S. 149f.
172 Dazu KLER Organy, S. 156f.

40

3.1. Die Katorga im russischen Verbannungs- und Strafsystem

Seit seinen Anfängen hatte sich der Schwerpunkt des Verbannungssystems – und mit
ihm die Katorga – aus straf- und raumerschließungstechnischen Gründen immer weiter
ostwärts verlagert. Die westsibirischen Katorga-Gefängnisse, etwa in Tobol’sk (Zentrale
der Verwaltung des Verbannungssystems) waren sukzessive aufgegeben oder ver­
kleinert worden. Neben dem Schwerpunkt im Nerčinsker Kreis saßen auch im KatorgaZentralgefängnis von Aleksandrovsk bei Irkutsk politische Häftlinge ein. Der östlichste
Vorposten befand sich seit 1869 bzw. 1886 (für „Politische“) auf der Insel Sachalin im
Fernen Osten.173
3.1.3. Die politische Katorga: Phasen und Dimensionen
Die Entwicklung der politischen Katorga korrelierte seit den Dekabristen mit den poli­
tischen Ereignissen im Zarenreich. Die Kadenz, mit der wellenweise „Politische“ nach
Ostsibirien geschickt wurden, erhöhte sich zumal ab den 1860er Jahren, als die Span­
nungen in der Gesellschaft, wie sie im vorangegangenen Kapitel dargestellt wurden, an
Virulenz stetig zunahmen. Im Zuge des ersten Höhepunkts des Terrors Ende der sieb­
ziger und zu Beginn der achtziger Jahren kamen hauptsächlich Mitglieder der „Narod­
naja volja“ in die Katorga nach Ostsibirien; ab Mitte der neunziger Jahre handelte es
sich um eine heterogenere Mischung aus Aktivisten der neuen politischen Grup­
pierungen (Sozialdemokraten, Sozialrevolutionäre, auch weiterhin Anarchisten und an­
dere), die ihre Mitglieder eher im Arbeitermilieu rekrutierten.174 Anhand der sozialen
Herkunft der katoržane lässt sich die politische Katorga in drei zeitliche Etappen glie­
dern: Die erste umfasste demnach zwischen 1826 und 1861 vorwiegend russische Ad­
lige (und andere bessergestellte Personen), die an Verschwörungen gegen die Zarenherr­
schaft beteiligt waren; die zweite betrifft die Zeit zwischen 1861 und 1895, in der sich
raznočincy und intelligenty gegen die Staatsmacht auflehnten; in der dritten und letzten
ware die Hauptbetroffenen Proletarier (Arbeiter, einfache Soldaten und Matrosen).175 Al­
lerdings berücksichtigt diese Periodisierung nicht beispielsweise die große Zahl der pol­
nischen Aufständischen, die nach dem gescheiterten Aufstand 1863 nach Ostsibirien
173 Vgl. KACZYNSKA Gefängnis, S. 56. Das ebd. angegebene Jahr 1879 als Anfangspunkt der Sachaliner
Katorga ist falsch. KODAN Katorga, S. 530, DE WINDT Siberia, S. 52, und vor allem GENTES Sakhalin
Policy, S. 1–5, nennen 1868 bzw. 1869 als Startdaten des Strafkolonie-Vorhabens auf der fernöstli­
chen Insel. Zu den Anfängen der Sachaliner Katorga äußert sich auch ČECHOV Ostrov Sachalin, S.
140–142 (Anmerkung), und bemerkt, mit Sachalin sei in den sechziger Jahren angesichts der Miss­
stände im Verbannungssystem die Hoffnung auf einen effektiveren Strafvollzug verbunden worden –
unter anderem wegen der Insellage (Fluchtgefahr gebannt und Hoffnung auf Rückkehr geraubt) und
wegen des Kolonisierungsaspekts.
174 Die überwältigende Mehrheit bestand nach 1905 aus Sozialdemokraten und Sozialrevolutionären, mit
stark abnehmender Tendenz des Anteils der letzteren. Vgl. RABE Widerspruch, S. 321–325a, und
GORJUŠKIN Predislovie, S. 12. Gleichwohl ist auffällig, dass vor allem die spätere sowjetische For­
schung zu Ssylka und Katorga regelmäßig beim Leser den Eindruck zurücklässt, die RSDRP sei da­
mals die einzige maßgebliche Kraft gewesen; die PSR wird gar nicht erwähnt oder abschätzig kom­
mentiert, vgl. etwa ŠČERBAKOV Iz istorii, S. 84. Der ideologische Bannstrahl der frühen Sowjetunion
auf die PSR wirkte bis zuletzt.
175 Diese Periodisierung nimmt GORJUŠKIN Predislovie, S. 9, vor. Zur Herkunft der „Politischen“ an der
Kara die Tabellen bei MOŠKINA Katorga, S. 92–94, und MARGOLIS Analiz, S. 186f. (vgl. Anhang zu die­
ser Arbeit S. 166).

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OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN Mitteilung Nr. 56

und auch in die Katorga deportiert wurden.176 Sie ist, wie aus der Argumentation des No­
vosibirsker Historikers Leonid M. Gorjuškin hervorgeht, eng an die Entwicklung der re­
volutionären Bewegung angelehnt, die in der sowjetischen und sowjetisch geprägten
Geschichtsschreibung zum Maßstab für die Katorga-Forschung genommen wurde. Sinn­
voller ist es allerdings, neben der sozialen und politischen Zusammensetzung der Häft­
lingsgesellschaft auch Veränderungen in der Organisation des Strafvollzugs bei der Pe­
riodisierung zu berücksichtigen. Frühe sowjetische Beiträge zur Katorga tun dies auch.177
Wichtige Einschnitte in der ausgehenden Zarenzeit bilden unter diesem Gesichtspunkt
die Konzentration der politischen Zwangsarbeiter im Laufe der 1870er Jahre bei den
Goldminen des Kara-Tals, die Aufhebung des Sonderstatus der „Politischen“, ihre
Gleichstellung mit den Kriminellen und ihre Überführung zurück in den Nerčinsker Sil­
berminen-Distrikt 1890 sowie die massive Ausweitung der Katorga durch den Zustrom
nach der Revolution von 1905, der mit einer zeitweiligen Verschärfung der Haftbedin­
gungen, der Verteilung der „Politischen“ auf verschiedene Gefängnisse im Kreis
Nerčinsk und der Aufhebung der eigenen Verwaltung für die Nerčinsker Katorga einher­
ging.
In jedem Fall gilt es bei der Behandlung der politischen Katorga stets zu berück­
sichtigen, dass es sich um eine mehrfache Sonderkategorie innerhalb des Verbannungs­
systems handelte. Grundsätzlich schon war die Zahl der aus politischen Gründen Betrof­
fenen um ein vielfaches geringer als jene der Kriminellen; innerhalb des Verbannungs­
systems wiederum war die Zahl derer, die zu Verbannung zur Zwangsarbeit verurteilt
wurden, bedeutend kleiner als jene, die unter eine andere Kategorie der Verbannung fie­
len. Mithin waren die katoržane eine marginale Gruppe. Aussagekräftige Zahlen anzu­
führen ist insofern nicht einfach, als in den Statistiken zum Verbannungssystem oft die
verschiedenen Kategorien gemischt sind.178 Der Gesamtbestand der Katorga im letzten
Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts schwankte zwischen rund 14.500 Personen 1892 und
rund 10.700 Häftlingen 1898. Die Zahl der „Politischen“ betrug aber nur einen winzigen
176 Vgl. dazu KACZYNSKA Gefängnis, bes. S. 167, sowie den Aufsatz von GENTES Political Exile, S. 197–
217, bes. 203–215. Die Periodisierung nach sozialen Verhältnissen, die KACZYNSKA Gefängnis, S. 178,
vornimmt – vermutlich bezogen auf die Gesamtheit der Verbannten (Ssylka und Katorga) –, lässt die
russischen Terrorwellen des ausgehenden 19. Jahrhunderts unverständlicherweise außer Acht; unter­
schieden wird nur zwischen folgenden drei Kategorien: Aufständische 1826–1848 – polnische Auf­
ständische 1863 – Deportationen 1905–1908.
177 Vgl. FOMIN Katorga, S. 25, und in der Sibirskaja sovetskaja ėnciklopedija (Anfang 1930er Jahre)
PLESKOV Nerčinskaja katorga, Sp. 743, wo es zur Phase nach 1905 heißt: „Die Katorga veränderte ihr
Gesicht, wurde umfangreicher und stärker organisiert.“ – Zur Nerčinsker Katorga 1903–05 vgl. auch
TAGAROV Uzniki, S. 86–98.
178 Die Erstellung einer aussagekräftigen Statistik nur zu den politischen Häftlingen der Katorga er­
forderte die systematische Auswertung der Rechenschaftsberichte der Gefängnishauptverwaltung über
den Zeitraum des ausgehenden Zarenreichs. Für die achtziger Jahre (Kara) gibt es aber dank MOŠKINA
Katorga, S. 68, auf die politische Katorga bezogene Auswertungen. Demnach gelangten zwischen
1880 und 1893 insgesamt 215 „Politische“ nach Transbaikalien; zwischen 1880 und 1884 war die
Zahl der jährlichen Neuzugänge am höchsten (1880: 55, 1882: 47, 1884: 25), danach sank sie rasch.
Darin spiegelt sich die harte Hand des Regimes nach der ersten Terrorwelle. Kaczynskas Statistik-Ka­
pitel, KACZYNSKA Gefängnis, S. 43–62, mischt – wohl der eher misslichen Datengrundlage geschuldet
– Zahlenmaterial von verschiedenen Ssylka-Kategorien und der Katorga wild durcheinander und
deckt überdies einen viel größeren Zeitraum ab, als es diese Untersuchung im Sinn hat. Zahlen der
GTU zum ausgehenden 19. Jahrhundert finden sich auch bei DVORJANOV V sibirskoj, S. 99–101.

42

3.1. Die Katorga im russischen Verbannungs- und Strafsystem

Bruchteil davon, nämlich – beispielsweise – 1901, bei einem Gesamtbestand von rund
11.000 Katorga-Insassen, 180 Personen oder 1,6 Prozent.179
Während im ausgehenden 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Zahl der Kat­
orga-Häftlinge stetig abnahm und sich die schon zuvor bestehende, deutliche Differenz
zwischen dem Umfang der (vor allem administrativen) Ssylka und der Katorga weiter
zu Ungunsten der letzteren vergrößerte,180 schwoll die Zahl der katoržane nach der Re­
volution von 1905 noch einmal bis 1911 gewaltig an, vor allem wegen der aufstän­
dischen Soldaten und Matrosen.181 Danach reduzierte sich die Zahl bis zum Ausbruch
des Ersten Weltkriegs, um nach 1914 wieder anzusteigen. Die Zunahme wird in der Re­
gel mit den Verschärfungen im Justizwesen in Zusammenhang gebracht; die Mili­
tärgerichte, die zur raschen Aburteilung der Aufständischen eingesetzt wurden, fällten
härtere Strafen als die normalen Gerichte.182 Der Anstieg der Häftlingszahlen vernichtete
nicht nur den Erfolg, den die Gefängnisreform bis in die 1890er Jahren erreicht hatte –
die sanfte Modernisierung bestehender Bauten (die stets durch Geldknappheit in Frage
gestellt war), vor allem aber die Beseitigung der Überbelegung durch den Neu- oder
Umbau von Gefängnissen.183 Er zwang die Regierung dazu, im europäischen Russland
neue Gefängnisse für die Verbüßung der Katorga-Strafen einzurichten.184 Der Charakter
der Strafe änderte sich nicht zuletzt dadurch noch einmal stark – Katorga war nicht
mehr, wie in den Dekaden zuvor, mit Sibirien und dem russischen Fernen Osten gleich­
zusetzen. Die politische Katorga hatte zudem schon seit dem letzten Drittel des 19. Jahr­
hunderts ihren eigentlichen Zwangsarbeitscharakter verloren, weil es an Arbeits­
179 Alle Zahlen bei DALY Punishment, S. 351, u.a. auf der Grundlage des Rechenschaftsberichts der Ge­
fängnishauptverwaltung für 1901 (otčet po Glavnomu tjuremnomu upravleniju za 1901g.).
180 Vgl. GORJUŠKIN Predislovie, S. 12. Vgl. auch MOŠKINA Katorga, S. 19f., für die Zeit Anfang der 1870er
Jahre und PLESKOV Nerčinskaja katorga, Sp. 743, zur Lage um die Jahrhundertwende.
181 Vgl. DVORJANOV V sibirskoj, S. 271 (tablica 10): Zahl der „Politischen“ in den Katorga-Gefängnissen
des Nerčinsker Kreises 1907–1912. Demnach saßen 1907 insgesamt 189 politische Häftlinge, 1908
bereits 399 und 1909 554 in den verschiedenen Gefängnissen ein. 1912 waren es 451.
182 RABE Widerspruch, S. 150–155 und 353, und GORJUŠKIN Predislovie, S. 13f. BABEROWSKI Konstitution,
S. 398, berichtet allerdings von Strafverteidigern, die genau das Gegenteil davon beobachtet zu haben
glaubten. Die Zahlen sprechen eher eine andere Sprache: Zwischen 1906 und 1909 wurden jährlich
zwischen 961 (1909) und 1723 (1908) Personen aus politischen Gründen hauptsächlich durch Mili­
tärgerichte zu Katorga-Strafen verurteilt, was zu einem deutlichen Anstieg der Häftlingszahlen führte,
vgl. ŠČERBAKOV Iz istorii, S. 84. DALY Political Crime, S. 85, relativiert: Zwischen 1906 und 1912 sei­
en nur 13,8 Prozent der wegen politischer Vergehen Verurteilten mit Ansiedlung oder Katorga be­
straft worden (insgesamt 3485 Personen).
183 ADAMS Politics, S. 130–133. Adams legt Wert darauf, dass es der GTU gelang, den Strafvollzug in
den Gefängnissen durch deren bauliche Anpassungen jenem im westlichen Europa stark anzugleichen,
trotz chronischem Geldmangel und der Tatsache, dass das russische Strafsystem erst im Laufe des 19.
Jahrhunderts das Gefängnis als Vollzugsort richtig entdeckt hatte. ŠČERBAKOV Iz istorii, S. 81, der von
einem „riesigen Gefängnisapparat“ spricht, ist, mit DALY Punishment, S. 358f., entgegenzuhalten, dass
Russlands Gefängniswesen umfangmäßig (relativ zur Bevölkerung) stets im Verhältnis zu Westeuropa
unterentwickelt blieb.
184 ŠČERBAKOV Iz istorii, S. 83, zählt Vollzugsorte der Katorga im europäischen Teil Russlands nach
1905/10 auf (Katorga-Zentralgefängnisse): Cherson, Moskau, Warschau, Saratov, Vologda, Smo­
lensk, Nikolaevsk, Vladimir, Char’kov, Orel, Jaroslavl’, Pskov, Riga, Schlüsselburg (bei St. Peters­
burg). In Sibirien finden wir Tobol’sk zusätzlich zur Nerčinsker Katorga und dem Zentralgefängnis
Aleksandrovsk bei Irkutsk gemäß EROŠKIN Katorga, S. 536.

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OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN Mitteilung Nr. 56

möglichkeiten oft fehlte. Katorga bedeutete daher primär lange Haftstrafen unter stren­
gem Regime in abgelegenen (sibirischen) Gefängnissen.185
3.2. Der Weg nach Osten – Bewältigung des Raumes und Konstituierung
der Katorga
Jede Verbannungsstrafe, ob Ssylka oder Katorga, begann mit der Reise nach Osten. Die
Metapher vom Ort des Strafvollzugs als der „anderen Welt“ offenbarte ihre wahre Be­
deutung in der Bewältigung der Wegstrecke von den Metropolen des europäischen
Russland – Moskau, St. Petersburg – in die west- und ostsibirischen und fernöstlichen
Verbannungsgebiete. Der Blick auf die Karte des Russischen Reiches vermittelt nur eine
unzureichende, wenngleich beeindruckende Vorstellung von der räumlichen Dimension,
die in ihrer Ungeheuerlichkeit erst dann richtig zutage trat, wenn die Häftlinge sie
durchmaßen: zu Fuß, mit der Eisenbahn, per Schiff auf Flüssen und auf hoher See. Der
riesige russische Raum, der sich zwischen Moskau und dem Enisej, dem Nerčinsker Sil­
berminendistrikt, der Mündung des Amur erstreckt, wurde erlebt, erfahren, erlaufen – in
allen Facetten: Wechselnde Landschaften, andere Sitten, unbekannte, indigene Völker
konfrontierten den Häftling mit einer neuen Realität.
Der Transport von der Heimat in die ferne Ungewissheit nimmt in den Erinnerungen
an die Gefängnis- und Lagerwelten des 20. Jahrhunderts einen zentralen Stellenwert ein,
worauf Karl Schlögel in der Beschreibung der Raumerfahrung der „Topographien des
Terrors“ hingewiesen hat – denn „Zwischen Berlin und Lodz sind es nur rund 400 Ki­
lometer, aber in Wahrheit überschritt der Transport eine Grenze der Zivilisation.“186
Wenngleich die Ausmaße an Grausamkeit auf dem Weg in die „Maschinen des Terrors“
(Gerhard Armanski) des vergangenen Jahrhunderts, nach den Quellen zu urteilen, ande­
re waren,187 fehlte der Reise im geschlossenen Eisenbahnwagen jedoch die unmittelbare,
augenscheinliche Wahrnehmung der gewaltigen Distanz. Denn nicht nur die Strapazen
der Reise an sich machten im zarischen Verbannungssystem den Einstieg in die Verbü­
ßung der Strafe aus, auch der demonstrative Eintritt in eine tatsächlich „andere Welt“,
die sich durch die Bewältigung der Distanz und die Durchstreifung des Reiches auftat,
trug seinen Teil dazu bei. Gleichzeitig konstituierte sich auf dem Weg nach Osten eine
weitere Dimension dieser „anderen Welt“: der neue soziale Raum, der auf das Leben im
Katorga-Gefängnis vorbereitete.188 Waren nach der Verhaftung und während der Zeit des
185 Vgl. auch ŠČERBAKOV Iz istorii, S. 82.
186 SCHLÖGEL Im Raume, S. 432; ebd. auch zur Sowjetunion: „Zwischen Leningrad und den Solowetzker
Inseln im Weißen Meer ist es nur eine Nachtfahrt, aber es ist eine Fahrt hinaus in die Weiten des Ar­
chipel Gulag.“ Vgl. auch APPLEBAUM Gulag, S. 160, wo die Autorin zum Transport der Häftlinge in die
Lager schreibt: „In some senses, it was the most inexplicable aspect of life in the Gulag.“
187 In der Gulag-Literatur wird oft – in nur unzureichender Differenzierung – die Situation der Verbann­
ten des Zarenreichs, besonders der katoržane, mit derjenigen der Gulag-Häftlinge verglichen.
APPLEBAUM Gulag, S. 159f., bedient sich dieser Vergleichsmöglichkeit bei der Darstellung des Trans­
ports ins Lager ebenso wie Aleksandr Solženicyn, der die Schilderungen Petr F. Jakubovičs (L.
Mel’šin) zitiert und mit der Bemerkung „Was für eine unglaubwürdige Zeit!“ kommentiert,
SOLSCHENIZYN Archipel Band 1, S. 454f.
188 Zur Distinktion im sozialen Raum und zur Konstitution (sozialer) Räume generell vgl. den hervor­
ragenden Überblick bei SCHROER Räume, S. 47–106 (u.a. Simmel, Bourdieu).

44

3.2. Der Weg nach Osten – Bewältigung des Raumes und Konstituierung der Katorga

Prozesses und des Wartens auf den Transport die politischen Sträflinge nicht immer,
aber zumeist unter sich gewesen, mischten sich nun – trotz privilegienbedingter Ein­
schränkungen – Kriminelle und „Politische“, wobei letztere erst versuchen mussten, mit
der Verbrecherwelt und deren Umgangsformen und Hierarchien, deren Sprache und Ge­
schichten, deren Klängen und Gerüchen fertig zu werden. Insofern ist die Reise vom
russischen Gefängnis in die sibirische oder fernöstliche Katorga ein eminent kulturge­
schichtliches Phänomen. Das „Unterwegssein“ ist technische und körperliche Bewälti­
gung einerseits und geographische, sozial- und ethnoräumliche Erfassung des Reiches
anderseits.189 Nicht nur chronologisch eignet sich daher der Weg an den Ort des Straf­
vollzugs als Einstieg in die Nahaufnahme der Katorga besonders gut; er ist auch inhalt­
lich sinnvoll, weil sich mit der Reise, individuell, für jeden einzelnen Betroffenen, die
Katorga zu konstituieren begann. Aus den individuellen Erfahrungen und Wahrnehmun­
gen, wie sie sich in ausgewählten Selbstzeugnissen ausdrücken, lässt sich, angereichert
mit den Beobachtungen Außenstehender (Kennan, Maksimov, De Windt), ein differen­
ziertes und zuweilen überraschendes Bild vom Weg nach Ostsibirien bzw. auf die Insel
Sachalin zeichnen.
Die technischen und organisatorischen Fortschritte treten dabei zutage; die Reise von
Moskau an die Kara war bis in die 1890er Jahre eine Kombination aus Eisenbahn- mit
Flussreise und Fußmarsch, während die späten Katorga-Häftlinge dank der Fertigstel­
lung der Transsibirischen Eisenbahn über den Baikalsee hinaus „nur“ noch die Strecke
von Sretensk in die Nerčinsker Gefängnisse zu Fuß zu bewältigen hatten. Anhand des
Transports der Sträflinge nach Osten lässt sich die verkehrshistorische Bedeutung des
Eisenbahnbaus für die Erschließung Sibiriens und des Fernen Ostens bestens illus­
trieren. Der sibirskij trakt, die unbefestigte Schneise durch die südsibirische Taiga, auf
der sich der gesamte Landverkehr seit dem 18. Jahrhundert bewegt hatte, verschwand,
und mit ihm wurden die unbeschreiblichen Strapazen Geschichte.190 Gänzlich anders ge­
langten die Sträflinge nach Sachalin – zumeist auf dem Hochseeweg, nach einer halben
Weltreise.
189 Die Reise der Katorga-Häftlinge lässt sich mithin in das Reisen, das in der neueren Forschung als kul­
turelle Praxis verstanden wird, einordnen. Besonders aufschlussreich ist dazu die Einleitung zum
Sammelband „Die Welt erfahren“: BAUERKÄMPER et al., Einleitung, S. 9–30. Hier wird diese Pro­
grammatik entfaltet – die „technisch-pragmatische Dimension“ (Aufbruch, Durchführung, Gegenden,
Verkehrssysteme und -mittel), die Dimension des Kulturkontakts und der Wahrnehmung des Frem­
den, die literarische Verarbeitung des Reisens sowie die Analyse des durch Reisen erfolgten Trans­
fers. Das Verständnis von der „Reise als Erfahrung“ (S. 14) gilt besonders auch für die „Reise nach
Osten“. Und auch im vorliegenden Fall müssen „Reisen gelesen“ werden (S. 23), erfordern doch die
Quellen – die Häftlingsberichte –, wie mehrfach dargelegt, hohes quellenkritisches Bewusstsein.
190 Zur Eisenbahnreise und der Veränderung der Wahrnehmung beim Reisen generell das Pionierwerk
von SCHIVELBUSCH Eisenbahnreise. Zur Erschließung Sibiriens auf dem Fluss- und Landweg und zur
Bedeutung des sibirskij trakt als Verkehrs- und damit Handels- und Postader bis zum Ende des 19.
Jahrhunderts vgl. STOLBERG Raumerschließungsprozesse, S. 321f., STOLBERG Pazifik, S. 294–296,
VOROB’EV Prozess, S. 21, sowie STADELBAUER Erschließung, S. 24f. Speziell zur Transsib STOLBERG Pa­
zifik, S. 296–306, und allgemein die Monographie von Steven G. Marks (MARKS Road). STOLBERG
Raumerschließungsprozesse, S. 321, formuliert das Desiderat einer Reflexion der sozial- und mentali­
tätsgeschichtlichen Folgen des Eisenbahnbaus in Sibirien. Überhaupt fehlt, besonders für den Flussund Landweg, eine breitere verkehrsgeschichtliche Untersuchung zu Sibirien.

45

OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN Mitteilung Nr. 56

3.2.1. Die Erfahrung des Gefängnisses
Der Antritt der Reise bedeutete einen großen Einschnitt. Aber die Zäsur war keine plötz­
liche; sie zeichnete sich ab – durch die Gewissheit über die Strafe, mitunter durch die
Verlegung von einer entfernteren westlichen Gouvernementshauptstadt oder aus St. Pe­
tersburg nach Moskau (meist in das Zentralgefängnis, die Butyrka) und am Ausgangsort
der Reise durch das Warten auf den Aufbruch und die Vorbereitungen unmittelbar da­
vor. Die Häftlinge hatten oft bereits eine halbe Odyssee oder wenigstens zermürbende
Monate oder Jahre in Gefängnis- oder Festungshaft hinter sich. Entsprechend unter­
schiedlich empfanden sie den Aufenthalt vor der Reise nach Osten. „In wenigen Tagen
verloren wir unsere Naivität“191, schreibt Irina Kachovskaja über die erste Zeit als Kat­
orga-Häftling im Jahr 1908 im Petersburger Transportgefängnis, wo sie zusammen mit
weiteren Revolutionärinnen auf die Weiterfahrt über Moskau in die Nerčinsker Katorga
wartete. Sie zielt damit auf die Gefängnisrealität ab, auf die unpraktische, hässliche
Kleidung192 und die straffe Ordnung, welche die Lektüre und den Briefkontakt ein­
schränkte, den Tagesablauf bestimmte und von einem derben Ton geprägt war, und sie
verweist implizit darauf, dass sie und ihre Mitstreiterinnen der Jugend eben entwachsen
waren.193 Dem ersten Eindruck folgte die Bestätigung im Moskauer Novinskaja-Gefäng­
nis, wo es barscher und restriktiver zuging, so dass die jungen Gefangenen die später in
der Katorga gepflegte Widerborstigkeit gegenüber der Verwaltung erprobten, indem sie
sich – erfolgreich, aber mit der Folge zeitweiliger Karzerhaft194 – mit Hungerstreiks eine
anständige (verbale) Behandlung und vor allem den Zugang zu Büchern erkämpften. Als
nicht weniger schwer erträglich empfand Kachovskaja die letzten Wochen vor dem
Transport, die sie in der Butyrka verbrachte; die Zellengenossinnen, die ihre KatorgaStrafe hier zu verbüßen hatten, ließen sie tagsüber allein zurück. Es herrschte Mono­
tonie, Freudlosigkeit und Dumpfheit. „Jede träumte von der Verschickung nach Sibirien
als dem letzten Ausweg aus diesem höllischen Dasein“, hält sie fest, und sie empfand
den Tag, an dem es „endlich“ auf die Reise nach Osten ging, als Erlösung.195 Die Beur­
teilung des Aufenthalts in Moskau war von den Umständen abhängig, mit denen die
Häftlinge konfrontiert wurden, und von deren Wahrnehmung. Bruce Adams’ Hinweis
darauf, dass die „Politischen“ in ihren Erinnerungen das russische Gefängnis stets so
düster gezeichnet hätten, weil sie verwöhnte Kinder gewesen seien, mag für die frühen,
aus den gutsituierten Schichten stammenden Revolutionäre durchaus gelten und hat vor
dem Hintergrund dessen, dass die Gefängnisrealität in Relation zur sie umgebenden
191 KACHOVSKAJA Iz vospominanij, S. 55.
192 Kleidung, „… um den Gefangenen einem Menschen möglichst unähnlich zu machen …“, KACHOVSKA­
JA Iz vospominanij, S. 54. Kachovskajas Mitgefangene erhielt überdies Fußfesseln.
193 KACHOVSKAJA Iz vospominanij, S. 55–57.
194 Karzerhaft bedeutete reduzierte Nahrung und Isolierung in einem kleinen, dunklen und oft feucht-kal­
ten Raum. Die „Politischen“ im Novinskaja-Gefängnis waren, bis ihr Widerstand gegen die Obrigkeit
eskalierte, gemeinsam mit Kriminellen in einer Zelle untergebracht. KACHOVSKAJA Iz vospominanij, S.
59–62.
195 KACHOVSKAJA Iz vospominanij, S. 64. Im Glockenturm der Butyrka, wo Kachovskaja einsaß, war das
Leben Moskaus fern – und doch so nah: „Wenige Schritte von uns entfernt lebte Moskau im lauten
Leben eines Sommerabends; manchmal drang durch das spaltartige Turmfenster das Klingeln der
Straßenbahn herein, über den Köpfen der Spaziergänger strahlten Sterne, es blühten Bäume in den
Gärten, auf den Boulevards spielte Musik.“, ebd., S. 63.

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3.2. Der Weg nach Osten – Bewältigung des Raumes und Konstituierung der Katorga

Wirklichkeit gesehen werden muss, seine Richtigkeit.196 Für spätere „Politische“, die
sich ab den 1890er Jahren vornehmlich aus der Arbeiterschaft rekrutierten, gilt er nur
mehr eingeschränkt. Gleichzeitig veränderte die Revolution von 1905 mit ihrer blutigen
Spur das Gefängniswesen und die Katorga, wie bereits angedeutet wurde, stark.
1906 erlebte Aleksandra (Sanja) Izmajlovič die Butyrka anders als Irina Kachovska­
ja. Sie war aus Minsk gekommen, wo sie für ein misslungenes Doppelattentat zu Kat­
orga verurteilt worden war, eine qualvolle Zeit voller Ungewissheiten verbracht hatte
und den Tod ihrer ebenfalls revolutionären Schwester (sie wurde hingerichtet) ver­
kraften musste.197 Zwar schildert sie die Zeit in Moskau als monoton und vom Bewusst­
sein geprägt, es handle sich nur um eine Zwischenstation – auf dem Weg in die Ssylka,
in die Katorga.198 Aber gleichzeitig gab es regen Austausch mit Mitgefangenen – die Bu­
tyrka war auch ein Treffpunkt, wo Revolutionäre sich wiedersahen, wo man auf Per­
sonen aus der Heimat stieß und vielleicht einen Brief eines Freundes erhielt. Beim Spa­
ziergang im Hof und an den Abenden ließ sich mit den männlichen Häftlingen in Kon­
takt treten – „wie Vögel in Käfigen“ (Izmajlovič) aus den Einzelzellen heraus. Da wur­
den Zeitungsnachrichten und Erzählungen aus neuen Journalen durchs offene Zellen­
fenster laut vorgelesen und Gesangskonzerte improvisiert.199 Ähnlich äußert sich der pol­
nische Revolutionär Feliks Kon, der 1885/86 in der Butyrka auf den Weitertransport
nach Kara wartete. Die Moskauer Gefängnisaufseher erschienen ihm, im Unterschied zu
jenen in Warschau, geradezu freundlich. Besonders vermerkt er, dass die Bestechlich­
keit der Beamten auch im Umgang mit politischen Gefangenen selbstverständlich sei.200
Kon und seine Mithäftlinge waren, ebenso wie die späteren „Politischen“, in Einzelzel­
len untergebracht, deren Türen aber tagsüber offen standen, so dass auch damals zwi­
schen den Häftlingen Austausch gepflegt wurde. Dieser beschränkte sich nicht nur auf
die Zellennachbarschaft; es gelang den katoržane sogar, eine Nacht mit den administra­
tiven Häftlingen, die in einem anderen Turm des Gefängnisses einsaßen, zu verbringen,
über Polen, Russland und den Terrorismus zu diskutieren und im Anschluss daran eine
Denkschrift über die polnische politische Bewegung „Proletariat“, der Kon angehörte,
zu verfassen.201 „Das Gefängnisregime jener Zeit war nicht hart – uns waren gemeinsa­
me Spaziergänge im kleinen Hof des Turmes gestattet“, 202 stellt Lev Frejfel’d auch für
den Winter 1890/91 in der Butyrka fest.
3.2.2. Vorbereitungen, Abschied und Aufbruch
Zur Ambivalenz des Aufenthalts kam, zumeist im Frühjahr, wenn das Eis auf den
großen Flüssen brach und der Schiffsweg frei wurde, die Ambivalenz des Aufbruchs.
Der Wunsch, die immer wieder beschriebene Eintönigkeit des Gefängnisalltags hinter

196 Vgl. ADAMS Politics, S. 5.
197 Darüber IZMAJLOVIČ Iz prošlogo [Teil 1], S. 142–187.
198 IZMAJLOVIČ Iz prošlogo [Teil 2], S. 147f.
199 IZMAJLOVIČ Iz prošlogo [Teil 2], S. 144f.
200 KON Pod znamenem, S. 201.
201 KON Pod znamenem, S. 204–207.
202 FREJFEL’D Iz prošlogo, S. 67.

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OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN Mitteilung Nr. 56

sich zu lassen, verband sich mit einer – auch der Jahreszeit angepassten – Aufbruch­
stimmung. Kon beschreibt es so:
„Wir waren zu Zwangsarbeit verurteilt worden. Deren Dauer zählte für uns vom Zeit­
punkt der Bestätigung des Urteils an. Es wäre ganz logisch gewesen, wenn wir danach
getrachtet hätten, die Abfahrt hinauszuzögern und so spät wie möglich am Ort einzu­
treffen … Aber dieser Gedanke kam uns nicht eine Minute in den Sinn. Im Gegenteil,
dieser ferne Norden zog uns zu sich, wir hatten es eilig, den uns bestimmten bitteren
Kelch auszutrinken. Dazu kam ein starker Wunsch nach einer Veränderung, nach dem
Austritt aus dem Gefängnis.“ 203

Die Reise nach Osten, die langwierige, beschwerliche Bewältigung einer riesigen Dis­
tanz, ist hier kein Thema. Ebensowenig tritt die andere Seite der Ambivalenz hervor: die
letzten Vorbereitungen, die Trennung von Bekannten und einstigen Mitstreitern, denen
andere Strafen zugedacht waren, und vor allem der Abschied von den Angehörigen. Für
viele war der Aufbruch in Moskau nicht der Abschied von der Heimat, die bereits in
Warschau, St. Petersburg, Minsk oder anderswo zurückgelassen worden war. Der An­
tritt der Katorga-Strafe – und das, was damit verbunden war – hatte bereits vorher statt­
gefunden. In Moskau bekam Aleksandra Izmajlovič zwar noch einmal Besuch von ih­
rem Vater, der eben aus dem russisch-japanischen Krieg zurückgekehrt war und nun mit
dem traurigen Schicksal zweier seiner Töchter konfrontiert wurde; „er war sehr traurig
und sichtlich niedergeschlagen angesichts meiner fröhlichen Stimmung“,204 schreibt sie.
Von ihren noch lebenden Schwestern hatte sie sich jedoch bereits in Minsk verabschie­
det, auch von ihrem ebenfalls inhaftierten Mitstreiter, der ihr zum Freund geworden
war.205 „Den größten Platz in unserem Gefängnisleben nahmen die Besuche ein. Sie wa­
ren sehr qualvoll – manchmal tragisch. Wir verstörten die Verwandten mit unserem un­
gewöhnlichen Aussehen, den schrecklichen Kleidern, den hohlwangigen Gesichtern“,
berichtet Irina Kachovskaja.206 Der Aufbruch und Abschied versetzte Petr Jakubovič
(Mel’šin) unmittelbar danach in einen apathischen Zustand. Die letzte Begegnung mit
seiner Mutter und deren verzweifeltes Bemühen darum, noch einmal einen Blick vom
Sohn zu erhaschen – sie beschrieb es ihm später in einem Brief in die Katorga –, ge­
winnen in seiner Schilderung tragische Züge, die allerdings auch der literarischen Ge­
staltung seiner Erinnerungen geschuldet sind.207
Diesem Abschied haftete immer etwas Endgültiges an. Hier schieden sich die Welten –
räumlich und sozial. Die Pein vergrößerte sich durch die physische Komponente der
Strafe, die der Katorga ohnedies inhärent war.208 Mit dem Anlegen der Fesseln, die vom
203 KON Pod znamenem, S. 208. Die drei Punkte sind Teil des russischen Originaltextes. Merkwürdiges
Detail am Rande ist die Charakterisierung von Transbaikalien als „dieser ferne Norden“ (ėtot dalekij
sever), die etwas über die mental map der Katorga-Häftlinge aussagt: Die Unwirtlichkeit und Abge­
schiedenheit des Kara-Tals – wohl Sibiriens und des Fernen Ostens überhaupt – erzeugte anscheinend
die Assoziation mit dem Norden, obwohl das Gebiet in Wahrheit sogar südlicher als Moskau liegt.
204 IZMAJLOVIČ Iz prošlogo [Teil 2], S. 148.
205 IZMAJLOVIČ Iz prošlogo [Teil 1], S. 187–189.
206 KACHOVSKAJA Iz vospominanij, S. 57.
207 MELSCHIN Im Lande 1, S. 7 und 10–12.
208 Zwangsarbeit komme ohne „physisches Element“ nie aus, sagt Foucault; aber bestraft werde zuneh­
mend nicht mehr der Körper, sondern die Seele, vgl. FOUCAULT Überwachen, S. 24f. Darin liegt zwei­
fellos auch der Sinn der „Brandmarkung“, ja die physische Bewältigung des Wegs nach Osten über­

48

3.2. Der Weg nach Osten – Bewältigung des Raumes und Konstituierung der Katorga

Gefängnisschmied vernietet wurden, und – bei den männlichen katoržane – dem Kahlra­
sieren der rechten Kopfhälfte, einem Relikt der Brandmarkung, wurde physische und
psychische Macht auf die Häftlinge ausgeübt. Mel’šin-Jakubovič hält es fest:
„Die Fesseln und das Rasieren des Kopfes haben zweifellos nur den einen Zweck – den
entrechteten Menschen zu demütigen. […] Wenn ich an meine eigene Erfahrung denke,
kann ich übrigens sagen, dass ich mich mit letzterem [gemeint sind die Ketten, M. A.]
viel leichter abfand als mit dem Rasieren: die Fesseln sind durch Legende und Volkslied
stark poetisiert worden; in den Augen eines Sträflings sind sie eher eine Ehrung als eine
Schmähung. Ein ganz anderes Gefühl überkam mich, als ich dem Soldatenbarbier bei den
Vorbereitungen zu seinem abscheulichen Geschäft zusah. Außer der psychischen Qual
empfindet man beim Rasieren des Kopfes rein körperlich Schmerzen; […]“209

Wenngleich andere den Vorgang einfach nur erwähnen, gleichsam als Initiationsritus,
schien er sich tief einzuprägen, und die „rasierten Köpfe“ (britye golovy) tauchen in den
Berichten immer wieder auf als Synonym für Katorga-Sträflinge.210 Auch die eisernen
Fesseln, die zwischen drei und acht oder mehr Kilogramm schwer waren,211 gehörten zur
Realität des Katorga-Häftlings. Gewöhnlich bestanden sie aus zwei Fußringen, die mit
einer Kette verbunden waren. Von dieser führte wiederum eine Kette zu einem ledernen
Gürtel.212 Sie wurden aber, wie aus den Quellen ersichtlich wird, relativ gleichgültig hin­
genommen. Das Klirren und Rasseln der Ketten begleitete jeden Häftlingszug. Kon und
seine Gefährten erzeugten das Geräusch beim Marsch von der Butyrka zum Bahnhof so­
gar bewusst, um die Moskauer Bürger zu irritieren, die ihren Weg kreuzten.213
Das letzte, äußerliche Distinktionsmerkmal bildete die Kleidung der Gefangenen.
Auch sie bezeichnete den Aufbruch in die Katorga und wurde, vor allem von den Frau­
en, als weiterer Akt der Demütigung empfunden. Nur die Unterwäsche durfte aus eige­
nen Beständen mitgenommen werden; mit besonderer Bitterkeit vermerkt Kachovskaja,
dass die von der Mutter gebrachte blütenweiße Wäsche von der Gefängnisaufsicht durch
Markierungen verunstaltet wurde, um sie als Häftlingskleidung zu kennzeichnen.214 Die
haupt.
209 MELSCHIN Im Lande 1, S. 9. Ähnlich äußert sich ERMAKOV Dva goda, S. 152. Die Rasur empfand er als
unangenehmer als das Anlegen der Fesseln, und nach vollendetem Werk des Barbiers wurde er mit
blutüberströmtem Kopf in die Zelle gebracht.
210 Vgl. etwa FREJFEL’D Iz prošlogo, S. 72, und MELSCHIN Im Lande 1, S. 14, beide Male als pars pro toto.
In einem Brief vom Februar 1882 an die Eltern, den R. M. Kantor in „Katorga i ssylka“ herausgege­
ben hat, schreibt A. A. Zubkovskij von der Kopfrasur. Diese sollte während des kurzen Aufenthalts
im Katorga-Zentralgefängnis von Irkutsk vorgenommen werden. Einzelne Gefangene, unter ihnen er
selbst, blieben davon ausgenommen, weil sie in privilegierter Stellung waren, was damals an­
scheinend auch für die Rasur von Belang war. Weiteren Häftlingen gelang es, sich der Prozedur zu
entziehen, indem sie sich krank meldeten. Der Arzt diagnostizierte „nervliche Zerrüttung“ und befrei­
te sie von der demütigenden Praktik. Vgl. KANTOR S puti, S. 233.
211 PIROGOVA Na ženskoj katorge, S. 147, nennt ein Gewicht von drei bis vier Kilogramm, MELSCHIN Im
Lande 1, S. 8, spricht von „zehnpfündigen Fesseln“, und KACZYNSKA Gefängnis, S. 77, erwähnt ein
Durchschnittsgewicht von acht Kilogramm, wenn die Gefangenen einzeln gefesselt und nicht anein­
andergekettet gewesen seien. Kaczynskas Angaben zur Ketten- und Kleidungspraxis (vgl. weiter un­
ten) sind allerdings, vielleicht weil sie sich mit einem langen Zeitraum beschäftigt, ungenau und zu­
weilen verwirrend.
212 MELSCHIN Im Lande 1, S. 8, und KACZYNSKA Gefängnis, S. 76f.
213 KON Pod znamenem, S. 209.
214 KACHOVSKAJA Iz vospominanij, S. 57.

49

OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN Mitteilung Nr. 56

übrigen Kleider wurden ausgegeben. Aleksandra Izmajlovič erhielt, schon in Minsk,
einen Rock aus Tuch, einen Kittel, einen Mantel aus Schafspelz und ein weißes Kopf­
tuch. Das Gewicht der Bekleidung habe die Bewegungsfreiheit eingeschränkt, merkt sie
an.215 Kon, rund zwanzig Jahre früher unterwegs, zählte, neben eigener Unterwäsche,
eine Pelzjacke, ein Paar Stiefel, ein Kissen und Bücher zu seinen Habseligkeiten für die
Reise.216 Der Kittel (chalat) und der Sack (mešok), in dem die wenigen Gegenstände
transportiert wurden, gehörten ebenso wie die Ketten und der halbrasierte Schädel zum
„Markenzeichen“ eines katoržanin. Mit den Kleidungsstücken wurde allerdings auch
Missbrauch getrieben. Jakubovič beklagt sich darüber, dass die Kleidung für die klima­
tischen Verhältnisse inadäquat und ihre Qualität mangelhaft gewesen sei.217
3.2.3. Die Bewältigung des Raumes und die Begegnung mit dem Imperium
Auf die Ambivalenz des Aufbruchs, der bei manchen Häftlingen angesichts des wenig
inspirierenden Gefängnisalltags letztlich positiv wahrgenommen wurde – Kon, Ka­
chovskaja oder auch Kovalik218 und andere belegen dies für verschiedene Umstände und
Zeiträume –, folgte die Ambivalenz der Reise nach Osten. Eine Ambivalenz, die sich in
positiven und negativen Eindrücken und Erlebnissen niederschlug, noch nicht aber in
Reflexionen über das Bevorstehende vor oder beim Antritt des Weges. Körperliche Stra­
pazen und das Gefühl, der Freiheit wieder ein Stückchen näher zu sein; eine ge­
wöhnungsbedürftige gesellschaftliche Umgebung und die Konfrontation mit dem viel­
fältig „Andern“ unterwegs; die Ungewissheit über das nur schemenhaft bekannte Ziel –
die Durchquerung des Russischen Reiches, von Europa nach Asien, weckte zwiespältige
Empfindungen. Jakubovič bilanzierte am Ende der Reise düster:
„Am Ende meiner Erinnerungen an die Reise sage ich es geradeheraus: Hätte ich einen
Todfeind und wollte ich ihn unbedingt zur erdenklich schlimmsten Strafe verurteilen,
würde ich einen drei- bis vierjährigen Marsch durch die Etappen wählen. Ihn zu einer
215 IZMAJLOVIČ Iz prošlogo [Teil 1], S. 188.
216 KON Pod znamenem, S. 208.
217 MELSCHIN Im Lande 1, S. 17f. Ähnliches berichtet KENNAN Siberia I, S. 404. Die blühende Korruption
im Verbannungssystem führte zu Unterschlagung von Gütern oder zur Lieferung wertloser, weil in­
nerhalb kürzester Zeit abgenutzter Gegenstände. Auch KACZYNSKA Gefängnis, S. 75f., geht auf diesen
Umstand ein. Ihre Bemerkung, gegen Ende des 19. Jahrhunderts seien die Deportierten in eigener
Kleidung transportiert worden, lässt sich an keiner der zu Rate gezogenen Quellen verifizieren. Einzig
MELSCHIN Im Lande 1, S. 17, erklärt, die sibirischen Behörden seien in dieser Frage weniger restriktiv
gewesen und hätten auch eigene Kleidungsstücke toleriert. Allerdings ist nicht klar, ob Jakubovič
selbst von dieser Regelung profitierte, denn er berichtet zugleich davon, dass er seine eigenen Kleider
im Deportationsgefängnis habe zurücklassen müssen. KENNAN Siberia I, S. 370, nennt als Sommerklei­
dung: Hemd und Hose aus grauem Leinen, quadratische Fußlappen anstelle von Socken, niedere
Schuhe, lederne Schoner für den Bereich der Fußfesseln, eine Mütze und einen langen grauen Mantel.
Frauen trugen einen Rock statt der Hose.
218 Kovalik „überwinterte“ 1880/81 im Gefängnis von Mcensk (Gouvernement Orel) unter, wie er berich­
tet, vergleichsweise angenehmen und freien Umständen, vgl. KOVALIK Revoljucionery-narodniki, S.
144–146, aber er war doch froh, als es im Mai 1881 auf die Reise in die Katorga von Kara ging. Er
fasst die mehrfach beschriebene Ambivalenz knapp zusammen, ebd., S. 147: „Ungeachtet der Be­
quemlichkeiten, von denen wir in Mcensk Gebrauch machten, verließen wir ohne jedes Bedauern das
Gefängnis, und allein die Notwendigkeit, von unseren täglichen Besuchern Abschied zu nehmen, be­
trübte uns.“

50

3.2. Der Weg nach Osten – Bewältigung des Raumes und Konstituierung der Katorga

längeren Frist zu verurteilen, brächte ich nicht übers Herz. Ja, für einen gebildeten Men­
schen kann man sich keine größere Strafe auf Erden ausdenken.“219

Gnädiger, versöhnlicher fiel Kons Urteil auf dem letzten Streckenabschnitt des Weges
in die Katorga von Kara aus:
„Noch etwa zwei Wochen, und wir würden am Ort sein. Wir waren zufrieden. Auf dem
ganzen Weg richteten sie uns nur einmal mit Gewehrkolben zu, niemand von uns er­
krankte auf dem Weg, niemand verlor den Mut, im Gegenteil, wir näherten uns dieser
Anlegestelle des Lebens mit dem Glauben in unsere Kräfte. Wie hätten wir da nicht zu­
frieden sein sollen?“220

Der Charakter des Weges nach Transbaikalien war zu Kons und Jakubovičs Zeiten ver­
gleichbar und hielt sich bis zur Wende zum 20. Jahrhundert. Wer von St. Petersburg
oder Moskau aufbrach, fuhr erst mit der Eisenbahn bis Nižnij Novgorod; von dort ging
die Reise im Schiff auf der Volga und der Kama weiter bis nach Perm’. Die Strecke von
Perm’ nach Tjumen’ wurde erneut mit der Eisenbahn bewältigt; Tomsk erreichten die
Häftlinge wiederum auf dem Schiff, nach einer Fahrt auf der Tura und dem Tobol bis
Tobol’sk und anschließend auf Irtyš, Ob’ und Tom.221 Tjumen’ und Tobol’sk ließ lange
Zeit kein Häftlingstransport aus, weil beide westsibirischen Städte für die Verwaltung
des Verbannungssystems bedeutsam waren. In Tjumen’ befand sich der prikaz o
ssyl’nych, das zentrale Amt des Verbannungswesens,222 wo die Verbannten in ein Regis­
ter aufgenommen wurden und den Zielort der Verbannung erfuhren, was zuweilen auch
bei Katorga-Häftlingen für Aufregung sorgte (etwa als nach der – den katoržane noch
nicht bekannten – Schließung von Kara 1890 plötzlich Akatuj als Vollzugsgefängnis ge­
nannt wurde223). An Tomsk schloss jenes Wegstück an, auf das Jakubovičs Verwün­
schung anspielt und das zur Legendenbildung rund um Katorga und Ssylka viel beige­
tragen hat: der Fußmarsch von „Etappe“ zu „Etappe“ auf der sibirischen Poststraße (si­
birskij trakt) von Tomsk über Krasnojarsk, Irkutsk, Čita und Sretensk in die Minen von
Kara oder des Nerčinsker Kreises. Die Strecke war gesäumt von „Etappengefängnissen“
(ėtapy), in denen die Häftlinge nachts untergebracht wurden, nachdem sie ein Tagespen­
sum von 25 bis 30 verst224 zu Fuß – oder, wenn es sich um Kinder, Kranke, Schwache
und Privilegierte („Politische“) handelte, auf einem Wagen – zurückgelegt hatten. Nach
der Hälfte der täglichen Strecke gab es eine Pause von 15 bis 30 Minuten; jeden dritten
Tag ruhte die Gruppe.225
219 MELSCHIN Im Lande I, S. 57.
220 KON Pod znamenem, S. 257.
221 Vgl. KON Pod znamenem, S. 213–219, MELSCHIN Im Lande I, S. 14f., FREJFEL’D Iz prošlogo, S. 69–71,
MELKOV Put’, 83f. Vgl. Karte im Anhang (S. 159).
222 Vgl. KACZYNSKA Gefängnis, S. 67, und MAKSIMOV Sibir’ tom 1, S. 23. In Maksimovs Fließtext heißt es,
der prikaz befinde sich in Tobol’sk. Aus einer Anmerkung geht jedoch hervor, dass sich der prikaz bis
1823 in Tjumen’ und danach in Tobol’sk befunden habe und später nach Tjumen’ zurückgekehrt sei.
Daran zeigt sich, dass Maksimov, der in den 1860er Jahren die Katorga besuchte, nicht ganz auf der
Höhe der Zeit war. Alle Angaben in den verwendeten Quellen sprechen für Tjumen’ als Sitz des pri­
kaz, vgl. auch KON Pod znamenem, S. 215. Tobol’sk lag auch geographisch ungünstig.
223 FREJFEL’D Iz prošlogo, S. 70. Von Tobol’sk ist keine Rede.
224 1 Verst entspricht 1,06678 km (vgl. HOFFMANN Einführung, S. 204).
225 Vgl. KON Pod znamenem, S. 227 und 235, MELKOV Put’, S. 88, und KENNAN Siberia I, S. 369f. Kennan
erwähnt auch „Halbetappen“ (poluėtapy), weniger große und ausgebaute Etappengefängnisse auf hal­
ber Wegstrecke zwischen zwei normalen Etappen. In den Häftlingsberichten taucht dieser Begriff nur

51

OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN Mitteilung Nr. 56

Die beschwerliche Bewältigung des ab Moskau mehr als 7000 Kilometer langen
Weges forderte ihre Zeit.226 Zwar verkürzte sich die Reise in den zwanzig Jahren zwi­
schen den ausgehenden 1870er Jahren und dem Ende des Jahrhunderts allmählich, aber
ein halbes Jahr dauerte sie auch noch in den neunziger Jahren. Die Dauer war individu­
ell sehr unterschiedlich, und sie selbst für einzelne, konkrete Reisen nach Osten anzuge­
ben, ist schwierig, weil die Autoren nur selten Daten nennen. Kon schreibt, er sei am 19.
Mai in Moskau aufgebrochen. Seine vorausgeschickte Feststellung, die Reise werde sich
ein halbes Jahr hinziehen, kam der tatsächlichen Dauer sehr nahe; Ende August erreich­
te sein Konvoi Irkutsk, und rund zwei Monate später, im November, traf er an der Kara
ein.227 Andere kamen in den tiefen sibirischen Winter, obwohl sie nicht wesentlich später
aufgebrochen sein konnten. Melkov berichtet von der Überquerung des Baikalsees bei
stürmischem Novemberwetter und von Hunger und Kälte auf dem Weg durch Transbai­
kalien. Seine Reise dauerte neun Monate.228 Frejfel’d erreichte Akatuj sogar erst Ende
Februar oder Anfang März, nach Märschen durch die Winterlandschaft bei 40 Grad Käl­
te – wenngleich er seinen Angaben zufolge kurz nach Ostern 1891 in Moskau die Reise
angetreten hatte, also kaum viel später als Mitte Mai.229
Die Logistik, welche die Verschiebung von Tausenden von Verbannten nach Sibirien
(und nach der Verbüßung der Strafe zurück in westliche Gebiete des Reiches) er­
forderte, lag im Grunde jenseits der Möglichkeiten der Administration des Ver­
bannungssystems. Winterwanderungen, unplanmäßige Aufenthalte und unzureichende
Ausrüstung zeugten von der Überforderung. Allein schon die klimatischen Bedingungen
– ganz zu schweigen von den menschlichen Leiden und den Kosten – hätten Effizienz
geboten. Die russischen, erst recht die sibirischen Winter sind lang und kalt, das Fenster
zwischen Frühjahr und Herbst eng. Der Eisbruch auf den großen Strömen im Frühjahr –
zwischen April und Juni – gab den Startschuss zum Aufbruch. Kennan schreibt, die
Strecke von Tjumen’ nach Tomsk sei zwischen Mai und Oktober befahren worden; die
Fahrten auf dem Dampfer dauerten zwischen sieben und zehn Tagen.230

bei Jakubovič-Mel’šin auf (etwa MELSCHIN Im Lande I, S. 30) auf; sonst ist stets nur von Etappen die
Rede.
226 KACZYNSKA Gefängnis, S. 69, gibt Streckenlängen an; für die Strecke Moskau-Irkutsk rechnet sie 6400
km aus; von Irkutsk nach Kara oder Nerčinsk waren es aber nochmals gegen 1000 km. Vgl. auch KON
Pod znamenem, S. 235, der für die Strecke Tomsk-Krasnojarsk 500 Verst (entspricht 530 km) nennt.
227 KON Pod znamenem, S. 208, 249 und 255–258 (Angaben über Daten).
228 MELKOV Put’, S. 96–98 und 100. Die Temperaturen erreichten Werte von minus 40 Grad Réaumur (1°
Réaumur entspricht 1,25° Celsius).
229 FREJFEL’D Iz prošlogo, S. 69 und 74–77. Ähnlich erging es Zubkovskij, der auf dem Schlitten durch
Transbaikalien unterwegs war und ebenfalls wahrscheinlich Ende Februar (1882) in Kara eintraf, vgl.
KANTOR S puti, S. 233f. KENNAN Siberia I, S. 399, hebt die Leiden der Marschierenden hervor, die
Wind und Wetter ausgesetzt waren, ohne dafür ausgerüstet zu sein. Ebd., S. 404, zitiert er einen „ho­
hen Offizier der Verwaltung des Verbannungssystems“, der dafür plädierte, die Transporte auf die
Sommermonate zu beschränken und die Verbannten in Wagen zu befördern. Mit seinem Vorschlag
sei er aber nicht durchgekommen. Die Humanität dieses Beamten, aber auch überhaupt die Tatsache,
dass er von den Umständen anscheinend doch ziemlich genaue Kenntnis besaß, ist bemerkenswert.
230 KENNAN Siberia I, S. 111. Demgemäß waren drei Dampfer im Einsatz, die pro Navigationssaison auf
dieser Strecke je sechs Fahrten unternahmen. Vgl. auch STOLBERG Pazifik, S. 295f., zur Dampfschiff­
fahrt in Sibirien.

52

3.2. Der Weg nach Osten – Bewältigung des Raumes und Konstituierung der Katorga

Die Wahrnehmung des Raumes und der Landschaft während der Fahrt auf einem
Flussdampfer ist ungleich tiefgreifender als während einer Eisenbahnreise. Nicht alle
hatten ein Auge für die Ufer der Volga und Kama – Jakubovič verkroch sich unter
Deck.231 Andere rühmten die Schönheit der Landschaft und ließen sich davon berühren.
Martynovskij, der einige Zeit in Einzelhaft in der Festung Schlüsselburg bei St. Peters­
burg verbracht hatte, schreibt:
„Gut erinnere ich mich an einen Abend auf der Kama; zum ersten Mal waren wir aus den
stickigen Käfig-Kajüten auf das Deck gelassen worden, das mit einer Bretterwand ver­
schlossen war, zur Flussseite hin aber mit einem Drahtgitter. Die Barke glitt lautlos und
langsam über das Wasser; […] Wir schwammen ganz am Ufer, das von Wald bedeckt
war; saubere Luft, das volle Aroma blühender Bäume erfüllte das ganze Schiff … Die
Brust atmet weit und leich t… Wieder möchte man in die Freiheit, wieder möchte man
leben …“232

Die Verbindung von Ergriffenheit über die Landschaft und dem Gefühl, der Freiheit nä­
her zu sein, findet sich immer wieder in den Berichten. Oft wurden die Sträflinge und
Verbannten – ähnlich, wie es Martynovskij schildert – in Gitterkäfigen auf Deck un­
tergebracht, wo sie erstmals seit langem wieder an der frischen Luft, außerhalb der Ge­
fängnismauern, waren und sich an Bergen, Wäldern und Wiesen satt sehen konnten.
„Nach dem Gefängnis war das Halbfreiheit“233, konstatiert Melkov, für den die Schiff­
fahrt auch Erholung bedeutete,234 und Kon meint, das Gefängnis auf dem Wasser sei in
jedem Fall besser als jenes zu Lande.235 Allerdings blieb auch die Schiffsreise von Unbill
keineswegs verschont. Der Dampfer, auf dem Frejfel’d bis Tjumen’ fuhr, war dreckig,
die Luft darin schrecklich, und unterwegs brach eine Krankheit aus, die fast alle Häft­
linge erfasste.236
Die Reise nach Osten brachte eine Begegnung mit dem Imperium. Der riesige Raum tat
sich auf, und mit ihm rückten nicht nur die Landschaften, sondern auch deren Bewohner
in den Blick der Katorga-Häftlinge. Die Fahrt auf den fünf Flussabschnitten von Tura,
Tobol, Irtyš, Ob’ und Tom (zwischen Tjumen’ und Tomsk) führte durch wenig durch­
drungenes, von indigenen sibirischen Völkern bewohntes Gebiet, die in den Berichten
als Ostjaken oder Samojeden bezeichnet werden.237 In direkten Kontakt traten die Ver­
bannten mit ihnen dann, wenn sie ihnen Fische abkauften – und wenn die Eingeborenen
um Brot oder Tabak bettelten. Wie aus einem Gemälde Il’ja Repins erschien Frejfel’d
231 MELSCHIN Im Lande 1, S. 13.
232 MARTYNOVSKIJ Na katoržnom položenii, S. 211.
233 MELKOV Put’, S. 84.
234 MELKOV Put’, S. 85. Die frische Luft, gutes Essen und Halbfreiheit hätten die vom Gefängnis fahlen
Gesichter wieder gesund aussehen lassen.
235 KON Pod znamenem, S. 213.
236 FREJFEL’D Iz prošlogo, S. 69f. Frejfel’d, vor der Verhaftung Student der Medizin, sah sich in die Lage
versetzt, als Arzt tätig werden zu müssen, als auch der mitreisende Feldscher darniederlag.
237 Die Bezeichnung Ostjaken ist heute nicht mehr gebräuchlich. Es handelt sich um das westsibirische,
ugrische Volk der Chanten. Der Begriff Samojeden beschreibt eine ganze Gruppe von subarktischen
Völkern, die zwischen den Ausläufern des Ural und dem Gebiet westlich des Enisej leben (Ural­
völker). Bei den bei KON Pod znamenem, S. 219, erwähnten Samojeden dürfte es sich um Selkupen,
Enzen oder Nenzen handeln, die im Gebiet zwischen dem nördlichen Ural und der Enisej-Mündung
leben, also auch rund um den Ob’ und seine Nebenflüsse. Zu den einzelnen Völkern vgl. FORSYTH His­
tory, S. 10–19.

53

OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN Mitteilung Nr. 56

eine Szenerie, als Ostjaken zugeworfene Stücke harten Brots aus dem Ob’ fischten und
aßen oder in Säcke steckten.238 Ausführlicher und zivilisationskritisch äußert sich Kon.
Er schildert die Begegnung mit einem Ostjaken, der den Begleitsoldaten offensichtlich
kein Unbekannter war und von diesen an Bord geholt wurde, wo er von den Häftlingen
Brot, Zwieback, Zucker, Tee und Tabak erhielt. Kon beschreibt den Mann mit dem
Auge des neugierigen Fremden, bewundernd und mitleidig, fasst die schwierigen, durch
das Vordringen der Russen im Gebiet zusätzlich erschwerten Lebensumstände dieses Jä­
gers und Fischers zusammen und beklagt ihn als „eines der Opfer unserer Kultur, un­
serer Zivilisation“.239 Weniger wohlwollend und bedeutend herablassender, ja verächt­
lich, äußert er sich in Transbaikalien über die Burjaten. Er bezeichnet sie als „Halbmen­
schen“ und „Wilde“, die schon deshalb, weil von ihnen bereits flüchtige katoržane und
Aufständische erschossen worden waren, bei den Sträflingen auf Ablehnung stießen.240
Doch nicht nur die indigenen Völker erheischten die Aufmerksamkeit der Durchzie­
henden, auch die russischen Siedler in der Taiga, am Rande der Poststraße nach Osten.
Mit der Landschaft und dem Raum veränderte sich auch die Bevölkerung. Melkov
scheint beides beeindruckt zu haben – die gewaltige Ausdehnung der Landstriche und
deren Wechsel: von Wasser zu Wald zu Steppen zu Bergen, in der sich die Dimension
des Reiches spiegelte, und die unterschiedliche Bevölkerung westlich und östlich des
Baikalsees.241 Die Empfindung, in eine „andere Welt“ vorzustoßen, drückte sich auf dem
Weg nach Osten, in der Veränderung der Umgebung, unmittelbar aus.
3.2.4. Die soziale Konstituierung: „Politische“ und Kriminelle
In einer „anderen Welt“ befanden sich die Verbannten – katoržane und ssyl’nye – seit
ihrem Aufbruch ohnehin. Auf der Reise nach Osten konstituierte sich nicht nur natur­
räumlich die „andere Welt“ der Katorga, sondern auch sozial. Jene, die zuvor in Einzel­
haft gesessen hatten, fanden sich in der Gruppe anfangs nur schlecht zurecht. 242 Oft ei­
238 FREJFEL’D Iz prošlogo, S. 71. Vgl. auch MELKOV Put’, S. 85.
239 KON Pod znamenem, S. 219f.
240 KON Pod znamenem, S. 254f. Kon schränkt seine negative Beschreibung dahingehend ein, dass er ein­
räumt, damals nichts vom erfolgreichen Kampf der Burjaten gegen die Russifizierung gewusst zu ha­
ben. Die Burjaten sind ein mongolischsprachiges Volk, das rund um den Baikalsee siedelt. Die östlich
des Sees lebenden Burjaten, mit denen die Sträflinge Kontakt hatten, sind seit dem 17. Jahrhundert
Buddhisten (zuvor Animisten), vgl. FORSYTH History, S. 84f. MELKOV Put’, S. 98, berichtet überdies
davon, dass es im Gebiet der Burjaten keine Almosen für die Verbannten mehr gegeben habe, so dass
Kälte und Hunger sie geplagt hätten.
241 MELKOV Put’, S. 96f. Während er die russischen Siedler westlich des Baikalsees eher abschätzig beur­
teilt (vgl. ebd., S. 87), ist aus der Schilderung der Bevölkerung in Transbaikalien mehr Wohlwollen
spürbar. Die transbaikalische Bevölkerung setzte sich demnach einerseits aus Altgläubigen (starovery;
ihre Ursprünge gehen auf die Kirchenspaltung in der russischen Orthodoxie im 17. Jahrhundert zu­
rück), die schon unter Katharina II. hierher gekommen waren und einen abgeschiedenen, sehr traditio­
nellen Alltag pflegten, und anderseits aus indigenen Völkern zusammen, hier vor allem Burjaten und
Tungusen. Letztere, die sich selbst Evenken nennen, gehören zur mandschurischen Sprachfamilie; ihr
südostsibirisches Siedlungsgebiet deckt sich teilweise mit dem der turksprachigen Jakuten und der
Burjaten. Vgl. FORSYTH History, S. 48f. Melkov hebt besonders hervor, dass unter den alten russischen
Siedlern weder der Tabakgeruch noch die Flüche allgegenwärtig seien (im Unterschied zum Gebiet
westlich des Baikal und zu den Kosakendörfern in Transbaikalien).
242 Vgl. MARTYNOVSKIJ Iz katoržnom položenii, S. 210.

54

3.2. Der Weg nach Osten – Bewältigung des Raumes und Konstituierung der Katorga

nigten sich die „Politischen“, die sich mitunter bereits im Gefängnis begegnet waren,
schon auf der ersten Wegstrecke im Eisenbahnwagen auf die Bildung einer Genossen­
schaft (artel’). Jeder stellte das, was er besaß, zur allgemeinen Verfügung; „wir fühlten
uns wie Brüder“, schreibt Kon.243 Die „Politischen“ stellten allerdings keine monoli­
thische Gruppe dar. Während Melkov vorwiegend soziale Unterschiede in klassen­
kämpferischer Manier festhält und sich über kurzzeitig mitreisende adlige Verbannte be­
schwert, die er als „Dreckskerle“ bezeichnet,244 verweist Kon auf die Generationenunter­
schiede und -konflikte innerhalb der revolutionären Bewegung. Ältere Verbannte, auf
die seine Gruppe in Tomsk stieß, bezeichnet er als „friedliche Propagandisten“; sich und
seine Gefährten zählt er dagegen zu den kämpfenden Revolutionären.245
Die politischen Katorga- und Ssylka-Verbannten blieben nicht unter sich. Auf dem
Schiff, zuweilen bereits im Zug, trafen sie auf die kriminellen Häftlinge (ugolovnye), die
eine zehn- bis hundertmal so große Gruppe bildeten. Die beiden Sphären waren aber
weitgehend getrennt, und meistens pochten die „Politischen“ auch darauf, wie Frejfel’d
beredt schildert. Nachdem er und vier weitere politische Katorga-Häftlinge, getrennt
von den administrativen politischen Verbannten, bereits auf der Strecke Nižnij Novgo­
rod – Perm’ mit 600 Kriminellen in einer Kajüte untergebracht worden waren, setzten
sie beim Begleitoffizier durch, für die nächste Strecke ab Tjumen’ eine getrennte Kabine
zu erhalten.246 Bemerkenswert ist jedoch, dass selbst dieses krasse Missverhältnis der
beiden Gefangenenkategorien anscheinend nicht zu groben Auseinandersetzungen führ­
te, wie sie in praktisch allen Gulag-Berichten als besonders traumatische Momente – be­
sonders für den Transport – geschildert werden.247
Der Gegensatz der beiden Welten brach vor allem während der langen Monate des
Fußmarsches auf, wenngleich dessen Organisation soziale Grenzen setzte. In Tomsk,
dem Ausgangspunkt, wurden die Verbannten in zwei Gruppen geteilt: Aus ledigen und
verheirateten Kriminellen, die ihre Familienangehörigen in Russland zurückgelassen
hatten, setzten sich die einen Gruppen („cholostaja partija“, „Ledigenreisegruppe“, ge­
nannt) zusammen, vorwiegend aus Familienvätern mit ihrer Gattin und ihren Kindern
sowie aus unverheirateten Frauen die andern („semejnaja partija“ – „Familienreise­
gruppe“). Die „Politischen“ wurden ungeachtet dieser Kategorien auf einzelne allge­
meine Reisegruppen verteilt, aber nie mehr als zehn von ihnen auf eine, weil sie als zu
renitent galten.248 Zu Kons und Jakubovičs Zeiten – also in der zweiten Hälfte der
243 KON Pod znamenem, S. 211; Pluralform: arteli. Die Katorga-Häftlinge wären, ergänzt Kon, eigentlich
privilegiert gewesen (wohl gegenüber den ssyl’nye), hätten diese Vorzugsbehandlung aber abgelehnt.
244 MELKOV Put’, S. 90. Er hält fest, dass er sich den Kriminellen näher gefühlt habe als diesen Adligen.
245 KON Pod znamenem, S. 222. Er konstatiert, wie wenig sich die beiden Generationen zu sagen hätten,
da die einen den Kontakt zu Russland praktisch abgebrochen, die andern jenen zu Sibirien noch nicht
aufgenommen hätten. Dies äußerte sich auch in heftigen Diskussionen über den revolutionären Kampf
zwischen den „jungen“ und „alten“ Verbannten im Gefängnis von Tomsk, vgl. ebd., S. 225.
246 FREJFEL’D Iz prošlogo, S. 69 und 71.
247 Exemplarisch dafür die Schilderung bei SOLSCHENIZYN Archipel Band 1, S. 456–460, mit dem Satz
über die Kriminellen: „Sie sind keine Menschen, das hast du im Augenblick erfasst.“, ebd., S. 457.
Ginsburg, Marschroute, S. 451–454, bes. 452, schreibt: „Damals, als der Laderaum von einer Menge
halbnackter, tätowierter Körper und affenartiger Fratzen überflutet wurde, dachte ich, man hätte uns
einer Schar tobender Irrer ausgeliefert.“
248 KON Pod znamenem, S. 227.

55

OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN Mitteilung Nr. 56

1880er Jahre – genossen sie allerdings das Privileg, sich auf einem Wagen befördern
lassen und im Etappengefängnis einen von den ugolovnye getrennten Raum erhalten zu
können.249 Jakubovič betont die Bedeutung dieser bevorzugten Behandlung mehrmals
und schreibt: „Wenn das alles nicht gewesen wäre, ich weiß nicht, wie ich alle Mühsal
des Weges in dem krankhaften Zustand, in dem ich mich damals befand, ertragen
hätte.“250 Schon wenige Jahre später galten für Melkov und Frejfel’d diese Privilegien
nicht mehr; denn die Einführung der gleichen Behandlung politischer und krimineller
Katorga-Sträflinge (1890) beschränkte sich nicht nur auf den Vollzugsort, wo sie sich in
der Aufhebung des politischen Gefängnisses an der Kara manifestierte.251
Bei vielen politischen Katorga-Häftlingen überwog die Neugier über die fremde Welt
der Verbrecher (zumeist Mörder) und der Landstreicher (brodjagi). „Mit den Kriminel­
len unterhielten wir sehr gute Beziehungen“, schreibt Melkov; er und seine Mit­
gefangenen hätten sich durch das Trenngitter auf dem Dampfer mit deren Sitten vertraut
gemacht.252 Die Derbheit der Sprache (mit einem weiten Spektrum an Mutterflüchen und
jeden erdenklichen anderen Schimpftiraden) und der Gesten war für die einen de­
zenteren Umgang pflegenden „Politischen“ ebenso gewöhnungsbedürftig wie die hier­
archischen Verhältnisse zwischen den ugolovnye. Viele von diesen waren bereits ein
halbes Dutzend Mal oder mehr den Weg in die Katorga oder Ansiedlung gegangen; sie
wurden „ivan“ (Pl. „ivany“) genannt und waren mit allen Wassern gewaschene, zu al­
lem bereite und fähige Häftlinge, aus deren Reihen oft der starosta, der artel’-Anführer,
stammte, dem unter anderem bei der Essensbeschaffung für das Kollektiv der Kriminel­
len eine wichtige Rolle zufiel.253
Der Blick der „Politischen“ grenzte mitunter an Verherrlichung und Idealisierung der
vierschrötigen Verbrechertypen. Jakubovič nennt sie, bezugnehmend auf den Führer ei­
nes Bauernaufstands im 17. Jahrhundert, „Stenka Razins von heute“ und spricht von ei­
ner „poetischen Welt“, räumt aber selber ein, sie lange idealisiert zu haben. Bereits sein
erster Versuch der Annäherung brachte eine große Enttäuschung.254 Kon beobachtet drei
unterschiedliche Wahrnehmungsmuster der „Politischen“ gegenüber den Kriminellen.
Die einen sahen in den Verbrechern ein Produkt der sozialen Bedingungen, das beson­
ders unglücklich leiden müsse; andere stilisierten sie zu Kämpfern wider die herr­
schende Ordnung, und dritte nannten sie den Abschaum der Gesellschaft und erkannten
bei ihnen keine menschliche Würde. Kon selbst empfand es als schwierig, mit ihnen in
249 MELSCHIN Im Lande 1, S. 6 und 12f, und KON Pod znamenem, S. 227.
250 MELSCHIN Im Lande 1, S. 13.
251 Vgl. MELKOV Put’, S. 87, und FREJFEL’D Iz prošlogo, S. 72f. Vgl. auch Kap. 4.3. (S. 86) und 4.4. (S.
95).
252 MELKOV Put’, S. 84.
253 KON Pod znamenem, S. 229f. Der „ivan“ wurde im Gulag „urka“ genannt, vgl. APPLEBAUM Gulag, S.
280–291. Über die Bedeutung, Funktionen und Sitten besonders der arteli der Kriminellen vgl.
KENNAN Siberia I, S. 390–394, sowie KON Pod znamenem, S. 245, und KACZYNSKA Gefängnis, S. 83f.
254 MELSCHIN Im Lande 1, S. 14f., beschreibt, wie er durch ein Loch in einer Segeltuchwand die Masse
der Kriminellen beobachten wollte; einer von ihnen drückte den Finger durch das Loch und verletzte
Jakubovič beinahe. „[…] das war meine erste Enttäuschung von diesen Menschen, mit denen ich so
viele Jahre zusammen leben sollte, der erste Beweis dafür, welch finstere Hölle diese geheimnisvolle
Welt darstellte, voll unnützer Bosheit und sinnloser Grausamkeit, wie fremd sie mir war und wie sehr
ich würde leiden müssen, wenn ich erst in ihr lebte.“, resümiert er bitter ebd., S. 15.

56

3.2. Der Weg nach Osten – Bewältigung des Raumes und Konstituierung der Katorga

Kontakt zu treten, pflegte aber nach einer Weile guten Umgang; auch bei ihm sind Ten­
denzen der Bewunderung und der „Verbrecherromantik“ für einzelne Gestalten – etwa
für einen Kirchendieb oder für eine „Robin-Hood-Figur“ – nicht zu überlesen.255 Die po­
litischen Katorga-Verurteilten genossen durchaus den Respekt der Kriminellen, denen
sie auch Unterstützung boten – sogar bei Fluchtvorhaben.256 Aber die Unterwürfigkeit,
mit der ihnen die ugolovnye begegneten – diese sahen in ihnen ungeachtet des Schick­
sals, das sie miteinander teilten, „Herren“ –, und die Erwartungshaltung irritierten Kon
und seine Gefährten, ebenso die mangelnde Würde und Moral besonders der unverheir­
ateten weiblichen Sträflinge.257
3.2.5. Etappengefängnisse als Kristallisationspunkte
Den Kristallisationspunkt der sich konstituierenden Katorga-Gesellschaft bildete der
Etappenort. Hier kamen die Privilegien der „Politischen“ und das Gewohnheitsrecht der
ugolovnye gleichermaßen zur Geltung und schieden sich die Sphären; hier rieben sich
beide, mehr noch als unterwegs, mit dem Bewachungs- und Gefängnisapparat. Die Ta­
gesmärsche waren auf den Moment ausgerichtet, da sich die Tore zum Etappenge­
fängnis öffneten.
„Bei der Annäherung an das Etappengefängnis beschleunigt die kobylka mehr und mehr
ihren Schritt, und in den letzten Momenten läuft sie Hals über Kopf davon. Die Stärks­
ten, Jüngsten schlagen sich nach vorn durch, die ganze Partie drängt und rückt zu­
sammen, wie ein Schwarm beim Einfliegen. Der Konvoi vermag deren Drang zum Tor
der Etappe kaum aufzuhalten. Aber nun öffnet sich das Tor, als die ganze Partie los­
stürmt und sich darum reißt, die besten Plätze im Etappengefängnis zu belegen.“258

Melkovs Schilderung entspricht den Erfahrungen Kons, der die Inbesitznahme des Etap­
pengefängnisses durch die in der Regel mehr als hundertköpfige Sträflingsgruppe als
eine exemplarische Szene des Existenzkampfs beschreibt.259 Die kobylka machte ihrem
Namen alle Ehre. Die „Politischen“ hatten dagegen nichts auszurichten; ihnen kam die
privilegierte Stellung zugute, die selbst nach 1890 in der einen oder andern Form weiter­
hin zum Tragen kam. Wenn die „Politischen“ nicht in einem abgetrennten Raum unter­
gebracht waren, zeigten sich die Kriminellen meist großzügig und überließen ihnen
Schlafplätze auf den nary, den Pritschen, die sich zuvor die durchsetzungsfähigsten und
in der Hierarchie am höchsten stehenden ugolovnye ergattert hatten. Die Mehrheit der
Verbannten mussten auf dem meist schmutz- und kotbedeckten Boden, zuweilen unter
den Pritschen und neben der paraša, dem Eimer für die Exkremente, schlafen.260 Die
Kriminellen breiteten sich sogleich über die gesamte, in ihren Ausmaßen meist für die
Zahl der Durchziehenden viel zu kleine Gefängnisanlage aus und ernährten sich von den
erworbenen Lebensmitteln; beim Gefängniseingang, aber auch unterwegs konnten die
255 KON Pod znamenem, S. 239f.
256 KON Pod znamenem, S. 242f.
257 KON Pod znamenem, S. 237.
258 MELKOV Put’, S. 89. Das Wort kobylka, eigentlich „Heuschrecken“ (Kollektivum), bezeichnet in der
Sprache der Kriminellen die Gefangenenpartie; synonym war španka gebräuchlich.
259 KON Pod znamenem, S. 236. In gewohnt dramatischen Worten stellt MELSCHIN Im Lande 1, S. 30f., die
Ankunft in der Etappe dar. Vgl. auch die Schilderung bei KENNAN Siberia I, S. 384.
260 MELKOV Put’, S. 89. Er und seine Mithäftlinge nahmen die Sonderbehandlung nur ungern in Anspruch.

57

OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN Mitteilung Nr. 56

Häftlinge mit den wenigen vom Staat dafür zur Verfügung gestellten Kopeken bei örtli­
chen Bauern Milchprodukte, Brot oder Gemüse erstehen.261 Für die „Politischen“ war es
daher von Vorteil, dass sie – zu Kons und Mel’šin-Jakubovičs Zeiten – die Gruppe in
ihren Wagen überholen konnten, um eher als diese am Etappenziel einzutreffen. Die
ugolovnye gingen damals voraus, gefolgt von den Wagen mit Gepäck und mit den Kran­
ken, Alten und Kindern sowie den Privilegierten.262 Später bildeten die „Politischen“ die
Vorhut des marschierenden Zugs, was Melkov sehr zu schätzen wusste, weil er dadurch
sein eigenes Tempo anschlagen, die Natur genießen konnte und sich nicht mitten in der
Masse bewegen musste.263 Gegen die alles in Beschlag nehmende kobylka hatten sie im
Etappengefängnis aber keine Chance – der Gefängnishof blieb den Kriminellen vorbe­
halten. Etwas sarkastisch nennt Kon die Szenerie eine „wahrhafte Gefangenenidylle“; er
und seine „politischen“ Mitreisenden mussten bis zur Dämmerung in ihrem stickigen
Raum auf das Ende dieses Treibens warten, bis auch sie noch den Hof vor der Nacht be­
treten durften.264 Selbst getrennte Schlafräume schützten die „Politischen“ nicht davor,
zumindest akustisch die wilden nächtlichen Orgien, an denen sich nicht selten auch Sol­
daten des Gefängnisses und der Begleittruppen beteiligten, mitverfolgen zu müssen.
Wenig erquicklich war vor allem das Los der alleinstehenden Frauen, auf die keine
Rücksicht genommen wurde – im Gegenteil: Sie galten gleichsam als „Freiwild“.265
In der Etappe prallten die unterschiedlichen Bedürfnisse der „Politischen“ und der
Kriminellen aufeinander und konstruierte sich ein gemeinsamer sozialer Raum, den nur
wenige, aber einprägsame Schnittstellen ausmachten. Eine weitere Schnittstelle, oft kon­
frontativer Art, existierte zu den Begleittruppen unterwegs und zur Wachmannschaft in
den Transportgefängnissen der größeren Orte und in den Etappengefängnissen. Mehr­
fach probten die „Politischen“ gegenüber der Gefängnisobrigkeit, die sie als unanständig
empfanden und von der sie sich ins Unrecht versetzt fühlten, den Aufstand und setzten
sich durch.266 An den Etappenorten ging es oft um haarsträubende Missstände – so fehlte
im Herbst und Winter Holz zum Heizen der Räume, oder es wurden den Frauen keine
eigenen Aborte zugestanden.267 Dazu kam die weit verbreitete Baufälligkeit der Gebäude
261 FREJFEL’D Iz prošlogo, S. 72, MELKOV Put’, S. 93, und KENNAN Siberia I, S. 384f. MAKSIMOV Sibir’ tom
1, S. 48f., schildert einen solchen „Basar“. (Zu berücksichtigen ist allerdings, wie immer bei Maksi­
mov, dass er mehr als ein Jahrzehnt vor Kon, Jakubovič oder Kennan den Weg in die Katorga beob­
achtet hat.).
262 KON Pod znamenem, S. 228, 231f. und 236. MELSCHIN Im Lande 1, S. 33, nennt Zahlen: „An Kostgeld
erhält jeder fast überall in Sibirien zehn Kopeken pro Tag, die Privilegierten fünfzehn. Im westlichen
Sibirien, wo alles so billig ist, wo ein Laib Weizenbrot fünf Kopeken und ein Topf Milch drei Kope­
ken kostet, reicht dies Geld vollauf, und die Sträflinge leben einen guten Tag. Viele von ihnen haben
auch in der Freiheit nicht besser gegessen. Doch überschreitet man die Grenze zum Jenissejschen und
besonders zum Irkutsker Gouvernement, werden die Nahrungsmittel teurer und teurer […]“ Das habe
regelrecht zu Hungersnöten geführt. Er plädiert für die Abgabe einer einfachen Nahrung durch die
Etappengefängnisse. Auch MELKOV Put’, S. 91, beklagt sich darüber, dass das Verpflegungsgeld
gleich blieb, die Preise für Lebensmittel aber in Ostsibirien kräftig anstiegen; ebenso KENNAN Siberia
I, S. 385f., und zusammenfassend KACZYNSKA Gefängnis, S. 82–84.
263 MELKOV Put’, S. 89. Dadurch war es auch möglich, noch Lebensmittel zu kaufen, ebd., S. 93.
264 KON Pod znamenem, S. 231.
265 MELSCHIN Im Lande 1, S. 24–26 und 36, und KON Pod znamenem, S. 245–247.
266 KON Pod znamenem, S. 216 und 223f. Vgl. auch FREJFEL’D Iz prošlogo, S. 71.
267 MELSCHIN Im Lande 1, S. 34f., und MELKOV Put’, S. 90.

58

3.2. Der Weg nach Osten – Bewältigung des Raumes und Konstituierung der Katorga

und deren ekelerregender Zustand (Dreck, Ungeziefer, schlechte Luft), den sogar höchs­
te staatliche Beamte wie der Generalgouverneur von Ostsibirien scharf rügten – ohne
dass sich allerdings daran im Laufe der Jahre viel geändert hätte, wie die Quellen nahe­
legen.268 Die Schwerfälligkeit der Bürokratie, vor allem aber die korrumpierte Beamtenund Wachmannschaft verhinderte dies. Jakubovič beklagt auch den moralischen Verfall
der Soldaten.269 Das Bild von den Begleit- und Wachtruppen, wie es sich in den Berich­
ten der katoržane spiegelt, bleibt aber widersprüchlich. Soldaten und Gefangene kamen
unterwegs oft ins Gespräch, und die Begleittruppen zeigten sich, gegenüber den „Politi­
schen“, durchaus hilfsbereit und freundlich; die Stimmung konnte etwa nach einem
Fluchtversuch jedoch plötzlich umschlagen.270 Die Willkür und Unberechenbarkeit, wie
sie generell das Verhalten der staatlichen Sicherheitsinstanzen des Zarenreiches kenn­
zeichneten, manifestierten sich hier exemplarisch. Rauere Töne und zuweilen grundlos
brutales Verhalten verstärkten sich, je näher die Gruppe den Nerčinsker Katorga-Ge­
fängnissen kam.271
Kon, ein differenzierender Beobachter, unterscheidet verschiedene Typen von Offi­
zieren in den Etappengefängnissen. Es gab solche, die nach dem Motto „vse rovno“
(„alles egal“) eher lustlos ihren Dienst versahen; andere kompensierten ihre Unsi­
cherheit mit Sturheit und Brüllen, womit sie oft erst recht für Aufruhr unter den Partien
sorgten; ferner skizziert er „Patrioten“, die zumal in den „Politischen“ persönliche Geg­
ner sahen, und „Mitfühlende“, die den katoržane sogar das Frühstück in ihren Raum
brachten.272
3.2.6. Leiden und Gefühle von Freiheit
Die beschwerliche Bewältigung des Wegs nach Osten war voller Widersprüche; ihre
Wahrnehmung variiert entsprechend. In düstersten Farben schildert Kennan den Marsch
der Sträflingsgruppen bei Sturm und Regen, schlammigen Straßen und bitterer Kälte.
„Deportation by étape in Siberia is attended by miseries and humiliations of which a
European or an American reader can form only a faint conception.“273 Jakubovičs Urteil
zielt in eine vergleichbare Richtung; die Berichte Kennans wie auch Jakubovičs über
Krankheit und Elend auf dem sibirskij trakt und die Mühsal im winterlichen Transbai­
kalien, von der Zubkovskij seinen Eltern schreibt, vervollständigen dieses Bild.274 In ih­
268 KENNAN Siberia I, S. 388, zitiert den Generalgouverneur Anučin, der die Verhältnisse in den Etappen­
gefängnissen als „lamentabel“ bezeichnete. Vgl. auch zusammenfassend KACZYNSKA Gefängnis, S. 80f.
269 MELSCHIN Im Lande 1, S. 25, bezogen vor allem auf den Umgang mit Frauen.
270 KON Pod znamenem, S. 228, MELSCHIN Im Lande 1, S. 229, und KACHOVSKAJA Iz vospominanij, S. 69–
72, die von einem Fluchtversuch auf der letzten Strecke, kurz vor Gornyj Zerentuj, und dessen Folgen
für das Verhältnis zu den Begleitsoldaten erzählt.
271 MELSCHIN Im Lande 1, S. 51, und MELKOV Put’, S. 95. Sibirische Begleitmannschaften galten als la­
scher, was das Tragen der Ketten oder das Rasieren der Köpfe anging, und KON Pod znamenem, S.
215, stellt auch eine geringere Aufmerksamkeit fest.
272 KON Pod znamenem, S. 232f.
273 KENNAN Siberia I, S. 397 (Zitat) und 399.
274 KENNAN Siberia I, S. 406f., MELSCHIN Im Lande 1, S. 36–40, und KANTOR S puti, S. 234. Vgl. auch
FREJFEL’D Iz prošlogo, S. 73; als einstiger Medizinstudent übernahm er zusehends die Rolle eines Arz­
tes und behandelte an den Etappen mitunter sogar Bauern aus den Dörfern der Umgebung.

59

OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN Mitteilung Nr. 56

rer Gegensätzlichkeit und Differenziertheit umso erstaunlicher sind Zeugnisse anderer
hier mehrfach zitierter katoržane. Melkov empfand den Etappenweg im Sommer durch
Westsibirien als „absolut angenehme, interessante Wanderung“, wäre er nicht zu oft mit
Beamten an den Etappenzielen aneinandergeraten; dennoch hebt er die gute Stimmung
unter den Gefährten hervor, sieht ein „neues Leben, neue interessante Begegnungen“ vor
sich und beurteilt, ziemlich abgeklärt, die bevorstehende Katorga als „wertvolle Stufe
auf der Treppe des Lebens, als meine politische Universität“.275 Nüchterner beschreibt
Kon die – zumindest anfängliche – Erfahrung auf dem Weg:
„Die ersten Tage der Etappenreise brachten einige Befriedigung: Du siehst eine neue
Welt, du siehst ein bisher vollkommen fremdes Leben, viel Vergnügen bereiten die klei­
nen Kinder, die sich zwischen den Erwachsenen herumtreiben und ‹Partie› spielen oder
deren Begleitsoldaten.“276

Während bei Kennans Einschätzung vielleicht gerade der Verweis auf die europäischen
oder amerikanischen Erfahrungen (die Kennans eigenen Hintergrund darstellen) die
Heftigkeit der Schilderung erklärt, wirft Melkovs Beschreibung die Frage auf, in wie­
weit sich die beim Niederlegen der Erinnerung bereits zurückliegende Katorga-Erfah­
rung im Text spiegelt. Mel’šin-Jakubovičs und Zubkovskijs Wahrnehmungen wiederum
könnten den Standesunterschied reflektieren, im Sinne von Bruce Adams’ – etwas pau­
schal – den politischen Sträflingen der Zarenzeit unterstellter Verzerrung der Wahrneh­
mung des russischen Gefängniswesens.277 Ohne das Elend, die Unbill und die physischen
Leiden relativieren und die Bewältigung des Raumes und die Konstituierung der Kat­
orga durch die Reise nach Osten verklären zu wollen, bleibt es doch erstaunlich, welche
differenzierten, die Umgebung würdigenden Beobachtungen und positiven Erlebnisse in
den Beschreibungen Platz finden. Es lässt sich nicht leugnen, dass zwischen Kennans
Außensicht und der Innensicht der meisten der hier zu Wort gekommenen katoržane
eine Wahrnehmungsdifferenz besteht.
Auch über die Jahrhundertwende hinaus, als sich die Reise nach Osten, in die „andere
Welt“ der transbaikalischen Katorga, grundlegend veränderte, blieben die Eindrücke der
Sträflinge vom Fußmarsch überraschend positiv. In vergleichsweise bescheidenen 22
Tagen, erst mit dem Schiff bis Čeljabinsk, anschließend mit der Eisenbahn – die Nächte
verbrachten die Verbannten meist in Gefängnissen größerer Städte –, erreichte Irina Ka­
chovskaja Sretensk; den Weg von dort durch die Etappengefängnisse zur Nerčinsker
Katorga schildert sie als relativ friedlich.278 Antonija Pirogova war froh, nach der wo­
chenlangen Zugfahrt die frische Luft einatmen und die freie Natur genießen zu kön­
nen.279 Die Eisenbahnreise – im Unterschied zu den Gulag-Transporten nicht in ver­
schlossenen (Vieh-)Waggons – brachte eine neue Begegnung mit dem Imperium. Als
Aleksandra Izmajlovič, die bekannte Terroristin Marija Spiridonova und andere poli­
tische Katorga-Häftlinge 1906, mitten in den auf die Revolution folgenden Wirren, von
275 MELKOV Put’, S. 88f.
276 KON Pod znamenem, S. 234.
277 Vgl. ADAMS Politics, S. 4–6.
278 KACHOVSKAJA Iz vospominanij, S. 66–70.
279 PIROGOVA Na ženskoj katorge, S. 148. IZMAJLOVIČ Iz prošlogo [Teil 2], S. 169, zeigt sich überrascht von
der Freundlichkeit der Begleittruppen. Überdies wurden ihnen zwei Wagen (tarantasy) zur Verfügung
gestellt.

60

3.2. Der Weg nach Osten – Bewältigung des Raumes und Konstituierung der Katorga

Moskau nach Sretensk gebracht wurden, säumten (und behinderten) an großen Halte­
bahnhöfen wie Kurgan und Omsk zeitweise größere Trauben von Demonstranten die
Schienen; diese begrüßten Spiridonova und ihre Genossinnen, die ihrerseits auf die
Plattformen der Wagen traten und ihre Parolen zum besten gaben.280 Wie viel davon Er­
innerung und wie viel Propaganda ist, lässt sich nachträglich nicht mehr eruieren.
Nicht nur die Bewältigung des Raumes und dadurch die Art des Eintauchens in die
„andere Welt“, auch die soziale Konstituierung der Katorga veränderte sich unter den
neuen Vorzeichen der verkehrstechnischen Errungenschaften. Auf dem Weg nach
Transbaikalien blieben die „Politischen“ weitgehend unter sich, nicht zuletzt deshalb,
weil durch die Neuordnung des Verbannungssystems 1900 die Zahl der Verbrecher, die
zu Katorga-Strafen verurteilt wurden, stark zurückgegangen war.281
3.2.7. Die „Weltreise“ nach Sachalin
Nicht in ihrer Funktion, wohl aber in ihrer Ausprägung noch einmal gänzlich anders ge­
staltete sich die Reise in die Katorga auf der fernöstlichen Insel Sachalin. Die Über­
führung in eine „andere Welt“ wurde den Betroffenen doppelt vor Augen geführt: Sa­
chalin als Insel bedeutete, zum einen, gleichsam eine Endstation und bildete innerhalb
der Katorga einen eigenen Kosmos; zum andern führte die Reise zumeist über die Welt­
meere ans andere Ende des russischen Imperiums.282 Von Moskau wurden die Häftlinge
im Zug nach der Hafenstadt Odessa am Schwarzen Meer gebracht, wo sie in der Qua­
rantäne auf die Weiterreise warten mussten. Diese führte anschließend via Suez, Colom­
bo, Singapur, Nagasaki und Vladivostok nach Sachalin.283 Anatolij Ermakov, der 1901
als „Politischer“ auf das fernöstliche Eiland geschickt wurde, empfand die zweimona­
tige Schiffsreise, ohne auf ihre Route einzugehen, als „langweilig“ und „nicht besonders
angenehm“:
„Wir saßen im Laderaum ein, und wir kribbelten dort herum, genau [wie] ein Fisch im
Fischernetz. Schwüle, Hitze, Schaukeln … Vergeblich erschreckte uns der Kommandant
des Dampfers […] damit, dass er, falls wir im Sinn hätten zu meutern oder eine Flucht
planten, uns bändigen könne und alle, wie Wanzen oder Kakerlaken, mit Dampf verbrü­
he[n würde].“284

280 IZMAJLOVIČ Iz prošlogo [Teil 2], S. 155–157. Die Armeeeinheiten griffen in Omsk nicht ein; vielmehr
bat der Kommandant die Frauen, sie möchten die Demonstranten auffordern, den Zug wieder frei­
zugeben. In der Folge schirmten Soldaten bei Haltebahnhöfen den Wagen mit den Gefangenen ab. Iz­
majlovič schreibt, dass sie und ihre Gefährtinnen die Soldaten bei dieser Gelegenheit „aus vollem
Herzen“ agitiert hätten, ebd., S. 158. Die Eisenbahnarbeiter hätten „allgemein oft von ihrem fak­
tischen Recht Gebrauch gemacht, Herr über die Schienen zu sein“, bemerkt sie (S. 161).
281 Vgl. MARGOLIS Sistema, S. 140, und die Bemerkungen dazu im Kap. 3.1.1. (S. 35).
282 Die Alternative dazu bildete die Verlängerung des Wegs von Sretensk nach Nikolaevsk-na-Amure;
von dort setzte die Reisegruppe mit Schiffen nach Sachalin über. Vgl. den Reisebericht Anton Če­
chovs „Iz Sibiri“, der den Prolog zu seinem Bericht „Ostrov Sachalin“ darstellt (ČECHOV Iz Sibiri, S.
7–42). Er reiste auf dem Landweg nach Nikolaevsk. Zum „Kosmos Sachalin“ vgl. die Ausführungen
im Kap. 4.7 (S. 166).
283 ERMAKOV Dva goda, S. 155, und DE WINDT Siberia, S. 10.
284 ERMAKOV Dva goda, S. 156.

61

OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN Mitteilung Nr. 56

Der englische Journalist Harry De Windt, der 1894 ein Schiff von Japan nach Sachalin
begleitete, zeigte sich zwar erstaunt darüber, wie viele Sträflinge in den vier Zellen Platz
fanden (797 von 802 Plätzen waren belegt), würdigte aber zugleich die Bedingungen für
diese. Für die Luftzirkulation sorgten große Ventilatoren, und die sanitären und anderen
Einrichtungen seien besser als in den Etappengefängnissen entlang des sibirskij trakt.285
Mit dem Etappenweg vergleichbar waren jedoch die Umstände der Konstituierung der
Katorga-Gesellschaft, zumal nach Sachalin auch nach 1900 zahlreiche ugolovnye ver­
schickt wurden. Dadurch, dass die auf dem Fußmarsch immer wieder als erfrischend ge­
schilderte Begegnung mit der Natur ausblieb, war auf dem Schiff die Vorwegnahme der
im Katorga-Gefängnis üblichen Verhältnisse sogar noch eindeutiger. Die Begegnung
mit dem russischen Imperium, wie sie die monatelange Zug-, Fluss- und Fußreise quer
durch den Doppelkontinent brachte, fehlte hingegen praktisch ganz.
3.2.8. Die letzte Strecke
Der Weg nach Osten war eine Reise in die Ungewissheit. Die langsame Annäherung an
die Katorga öffnete nicht nur geographisch die „andere Welt“; je weiter östlich die
Gruppen in größeren Städten für eine Woche oder länger Halt machten, desto eher tra­
fen die katoržane auf Ihresgleichen, welche mehr über die Verhältnisse an der Kara oder
im Nerčinsker Kreis wussten, und desto mehr verdichteten sich die Ahnungen und Ge­
rüchte von den Zuständen in der Katorga zu konkreten Vorstellungen. Die großen
Transportgefängnisse waren wichtige Kommunikationsorte, wo Neuigkeiten ausge­
tauscht, die „Novizen“ des Verbannungssystems instruiert und von wo Nachrichten über
ganz Russland und bis ins Ausland weitergetragen wurden.286 Das Wissen darum oder
auch nur die Gerüchte darüber, was sie erwarten sollte, machte das letzte Wegstück
durch Transbaikalien, das ohnehin als besonders beschwerlich beschrieben wird (spätes­
tens dort brach meist der Winter herein), nicht einfacher. Die Stimmung war, wie Mel­
kov berichtet, spätestens ab Čita gedrückt; auch Frejfel’d spricht von Anspannung auf
der letzten Strecke.287
Beim Übergang von Europa nach Asien am Ural hatte Kon, etwas enttäuscht, fest­
stellen müssen, dass sich nichts geändert habe: dieselben Gendarmen, dieselben Bahn­
höfe, dieselben Menschen.288 Viele tausend Kilometer, viele Monate später öffnete sich
eine neue, die „andere Welt“ der Katorga. An die Ambivalenz des Aufbruchs und der
Reise fügte sich eine weitere an: die Ambivalenz des Ankommens.

285 DE WINDT Siberia, S. 15–18.
286 Vgl. MELKOV Put’, S. 94f., der über die Begegnungen im Gefängnis von Irkutsk, wo sein Konvoi zwei
Wochen Pause machte, berichtet. Auch KON Pod znamenem, S. 249, betont, wie die Zusammenkünfte
mit anderen Verbannten ihn glücklich gemacht hätten. Dadurch wurde die Monotonie des Wegs von
Etappe zu Etappe aufgebrochen. Zeitschriften wurden ausgetauscht, und in den Transportgefängnissen
wartete Post auf die katoržane; vgl. auch ebd., S. 255f., und FREJFEL’D Iz prošlogo, S. 76. Zubkovskij
schildert in seinem Brief an die Eltern bereits, was ihn an der Kara erwarten werde, und stützt sich da­
bei auf Erlebnisberichte, vgl. KANTOR S puti, S. 235.
287 MELKOV Put’, S. 97, und FREJFEL’D Iz prošlogo, S. 76f.
288 KON Pod znamenem, S. 214.

62

4. Die Welt der Katorga

4. Die Welt der Katorga
Vom Lager des 20. Jahrhunderts gibt es eine Vorstellung. Man muss nicht die Gedenk­
stätte eines deutschen Konzentrationslagers oder die Ruinen eines sich selbst über­
lassenen sowjetischen Gulag-Lagers besucht haben, um mit ihnen Stacheldrahtzäune,
Wachtürme, Baracken und Todeszonen verbinden zu können. Akribisch sind sie be­
schrieben worden – in der Literatur, in der Forschung, in den Erinnerungsberichten;
Photobände dokumentieren die Schrecken von damals und die Begegnung mit der Ver­
gangenheit heute; eindrücklichstes Beispiel dafür ist das vor kurzem erschienene monu­
mentale Werk des polnischen Photographen Tomasz Kizny zum Gulag. 289 Die Bilder –
die imaginierten, die photographierten, die mit eigenen Augen heute am Schauplatz von
damals aufgenommenen – evozieren die Gewalt, die Macht und die Ohnmacht, die die­
sen Orten innewohnen. Aber sie bleiben immer nur Behelf für etwas, was sich dem Au­
genzeugen allein erschließt. Vom Lager gibt es eine Vorstellung, aber was sie bedeutet,
ist gleichzeitig unvorstellbar.
Die Katorga in den Minen Transbaikaliens und auf der fernöstlichen Insel Sachalin
ist von anderer Gestalt, anderer Dimension und aus einer anderen Zeit – aus einem lan­
gen Jahrhundert, dessen düstere Seiten sich nicht so sehr in die Erinnerung eingebrannt
haben wie die Schrecken des darauffolgenden. Sie hat nur ein vages Gesicht, und dieses
unterscheidet sich deutlich von den Lagerwelten. Auch aus dem ausgehenden Za­
renreich gibt es Photographien von den Schauplätzen, und in der frühen Sowjetunion
sind die Stätten von damals dokumentiert worden. Die Photos und Zeichnungen zeigen
steinerne Gefängnisbauten und hölzerne, einstöckige Blockhäuser, die von Palisaden
oder Mauern umgeben sind.290 Keine Wachtürme, keine Barackenstadt: Katorga-Strafe
bedeutete Gefängnishaft in einer entlegenen, der „anderen Welt“.
Die Welt der Katorga lässt sich nicht anhand von Photos aus vergangenen Zeiten re­
konstruieren, aber das Bild illustriert die Schilderungen der Selbstzeugnisse, ergänzt sie
und macht sie plastischer, gibt ihnen einen anschaulich gemachten Ort, und es erlaubt
ein zusätzliches Urteil.291 Zentral jedoch bleibt das, was photographisch nicht doku­
mentiert werden kann – weder an der Schwelle zum noch im 20. Jahrhundert: die Bezie­
hungsgeflechte zwischen verschiedenen Ebenen von Insassen einerseits und von Gefan­
genen und ihren Bewachern anderseits und die unterschiedlichen Wahrnehmungen von
den Lebens- und Arbeitsumständen, von Freiräumen und Unterdrückung, von Aufbe­
gehren und Ausbruch. Das Photo vom hölzernen Blockhaus, das in Transbaikalien als
289 Vgl. KIZNY Goulag. Das Buch stellt die wichtigsten Schauplätze des sowjetischen Gulag-Systems dop­
pelt vor: In zeitgenössischen Bildern, mit denen u.a. zu Propagandazwecken die Verhältnisse in den
Lagern festgehalten wurden, und in Photographien von heute, die, zusammen mit kurzen Texten, die
Begegnung mit dem Archipel Gulag und seinen Überresten dokumentieren. Wenngleich mit dem ka­
sachischen Gulag-Schwerpunkt Karaganda-Džezkazgan (Karlag/Steplag) ein zentraler Ort nicht vor­
kommt, ist das gewichtige Werk eine unabdingbare Ergänzung zu Anne Applebaums umfassender
Gulag-Monographie.
290 Vgl. eine Auswahl von Photos und Zeichnungen aus der ostsibirischen Katorga im Anhang S. 161ff.
291 KITTSTEINER „Iconic turn“, S. 159, verweist auf die Warnungen der Bild- und Photohistoriker vor ihrem
Medium – „die Versuchungen liegen geradezu im Medium selbst, bei dem Schein, Wahrheit und
Trugschluss dicht beieinander liegen.“ Vgl. generell ebd., S. 156–162, zum Bild als Quelle.

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OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN Mitteilung Nr. 56

Gefängnis diente, bildet nur den Rahmen dafür ab; im Unterschied zur plakativeren vi­
sualisierten Vorstellung von den Lagerwelten als dem Ort von Stacheldraht, Kälte und
Gewalt292 evoziert es eine eigentümliche Normalität.
Die photographische Annäherung an die Katorga Transbaikaliens (und Sachalins)
eignet sich für ein Ausleuchten dieser „anderen Welt“ jenseits der revolutionären Rheto­
rik deshalb besonders gut, weil bereits die Irritation über die suggerierte Normalität zur
differenzierten Betrachtung Anlass gibt. Vor dem Hintergrund des schriftlichen Quel­
lenkorpus, das zur Mehrzahl aus Selbstzeugnissen verurteilter Revolutionäre besteht, ist
der nüchterne Blick von besonderer Bedeutung. Kaczynska nimmt sich in ihrer Mono­
graphie zwar vor, den „Alltag der ‹Politischen› – jenseits der Legende – ein wenig le­
bendig werden zu lassen“.293 Aber weil sie zugleich die politische Verbannung für weit­
gehend „ausgeforscht“ hält und daher quellenmäßig an der Oberfläche bleibt, vermag
ihre Darstellung nicht viel Differenzierenderes zu leisten. Um den Charakter der Kator­
ga-Strafe zu verstehen und der Gefahr zu entgehen, der revolutionären Rhetorik, Stili­
sierung und Heroisierung der Erinnerungsberichte zu verfallen, lohnt es sich, die Texte
gleichsam „gegen den Strich“ zu lesen. Nicht die vielfältigen Fortsetzungen des revolu­
tionären Kampfs in der Katorga an sich interessieren primär, sondern die Umstände, in
denen sie ausgefochten werden, die Rückschlüsse, die sie auf den Strafvollzug zulassen,
und die überraschenden Facetten des Lebens in der Welt der Katorga, die im Vergleich
zu dem von der sowjetischen Forschung kolportierten Bild (Kaczynskas „Legende“) zu
Bedeutungsverschiebungen und neuen Einschätzungen führen. Ohne den Kampf und die
Leiden ausblenden und leichtfertig relativieren zu wollen, wird die einseitige Betrach­
tung aufgebrochen, um die Welt der Katorga als einen Ort der kommunikativen Wech­
selbeziehungen zwischen verschiedenen Häftlingsgruppen einerseits, zwischen diesen
und der Gefängnisobrigkeit anderseits und zwischen dem Gefängnis und der Außenwelt
drittens verständlich zu machen.294 Diese Beziehungsfelder bedingen sich gegenseitig
und lassen sich daher nicht strikt auseinanderhalten. Neben der aufschlussreichen Dar­
stellung wichtiger Alltagsfacetten geben überdies die unterschiedlichen Wahrnehmun­
gen und Verhältnisse in der Männer- und in der Frauen-Katorga Anlass, soweit es die
Erinnerungsberichte zulassen, auf Geschlechterdifferenz einzugehen, die bisher in der
Forschung keine Beachtung fand. Zahlen und andere statistische Erhebungen hingegen
sind in der Folge zweitrangig.295
292 Der Schutzumschlag der englischsprachigen Applebaum-Ausgabe zeigt genau dieses Bild: einen
Wachturm, eine Siedlung geduckter Häuser, senkrechte Pfähle, zwischen denen man Stacheldraht ver­
muten kann, in einer schneebedeckten Landschaft unter düsterem Himmel; darunter die Original-Bild­
unterschrift (kyrillisch geschrieben): „Zona OLP’a Ajač-Jaginskich šacht“. Die Abkürzung OLP steht
für obščii lagpunkt (Allgemeiner Lagerpunkt) – also: „Zone des Allgemeinen Lagerpunkts der Gruben
von Ajač-Jaginsk“. Vgl. Abb. 8 im Anhang (S. 165).
293 KACZYNSKA Gefängnis, S. 161.
294 Noch MOŠKINA Katorga, bleibt der sowjetischen Tradition der Ssylka- und Katorga-Historiographie
treu; bei ihr dominieren Zahlen und andere statistische Daten, und es stehen die traditionellen Themen
(Leiden, revolutionärer Kampf) klar im Vordergrund. Vgl. die forschungshistorischen Bemerkungen
dazu im Kap. 1 (Einleitung; S. 5).
295 Die sowjetische Forschung hat zwar viel mit Zahlen und statistischen Erhebungen gearbeitet, ohne
aber überzeugendes und verlässliches Material aufzuarbeiten; vgl. KACZYNSKA Gefängnis, S. 161, und
die Ausführungen im Kap. 3.1. (S. 35).

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4. Die Welt der Katorga

Chronologie, Örtlichkeit und Entwicklung der Katorga in Transbaikalien und auf Sa­
chalin bilden sich überlagernde Untersuchungsebenen; die bisherigen Ausführungen,
vor allem im vorangegangenen Hauptkapitel, haben bereits darauf verwiesen.296 Die Ge­
fängnisanlagen und die Bedingungen der Unterbringung der politischen Häftlinge kor­
relierten mit den verschiedenen Phasen der Katorga, und je stärker diese anschwoll, de­
sto mehr variierten die Umstände. Die politische Katorga zwischen 1880 und 1890 be­
schränkte sich auf das Kara-Tal und innerhalb dessen zunächst auf Ust’-Kara und Sred­
njaja Kara, ab 1882 ausschließlich auf Nižnjaja Kara. Ab 1890, dem Zeitpunkt der
Gleichstellung der kriminellen und der politischen Häftlinge, verteilten sich diese bis
zur Auflösung der Katorga 1917 auf mehr als ein Dutzend Standorte mit je eigener Cha­
rakteristik im Nerčinsker Kreis. Die Untersuchungen zu den Lebens- und Arbeitsum­
ständen lassen sich nicht von diesem Rahmen trennen, der die äußerlichen Bedingungen
festschreibt: Trennung von den Kriminellen oder Zusammenleben mit ihnen; Arbeits­
möglichkeiten oder erzwungener Müßiggang; Freiräume, deren Ausfüllung und deren
Einschränkung. Die Lebensumstände sind aber nicht isoliert voneinander zu betrachten,
sondern, unter Rücksichtnahme auf die zeitlichen Umstände, nebeneinander zu stellen;
erst dadurch entsteht ein Gesamtbild vom Leben und Arbeiten in der Katorga. Am Ort
des Strafvollzugs entfaltete und differenzierte sich der soziale Raum der Katorga, wie er
sich auf dem Weg nach Osten zu bilden begonnen hatte.
4.1. Ankommen im „Archiv der Revolutionäre“
Nichts wäre im Kontext der Katorga-Strafe unpassender als davon zu sprechen, der Weg
sei das Ziel. Mit dem Aufbruch in St. Petersburg, Moskau oder einer anderen großen
Stadt im Westen des Reiches begann auch der Prozess des Ankommens, und vielleicht
erleichterten die beschwerliche Bewältigung der Strecke mit allen positiven und nega­
tiven Sinneseindrücken und die allmähliche Konstituierung der Katorga-Gesellschaft
den Häftlingen die Ankunft. Sie rechneten bereits mit allem. Aber das Ziel zu erreichen
und anzukommen, bedeutete gleichwohl mehr als nur eine weitere Episode; die Gefäng­
nisse an der Kara und später im Nerčinsker Kreis signalisierten den endgültigen Eintritt
in die Welt der Katorga. Wiederum, wie schon vor dem Antritt der Reise nach Osten,
waren die Gefühle ambivalent, was sich in der bereits zitierten, mehrfach erinnerten
nachdenklichen Stimmung vor dem Ende des Etappenwegs und in den ersten Ein­
drücken bei und nach der Ankunft niederschlug.297 In der Ungewissheit über das, was die
Sträflinge erwartete, überwog im ersten Moment die Erleichterung darüber, die Strapa­
zen des Fußmarsches und des allnächtlichen Ortswechsels unter widrigen klimatischen
Bedingungen hinter sich gebracht zu haben. Feliks Kon schreibt:
„Der Gedanke daran, dass in wenigen Minuten die Gefängnistore für ganze Jahre hinter
uns zuschlagen [würden], kam uns auch nicht in den Sinn. Im Gegenteil. Wir waren bis
zu einem gewissen Grad zufrieden, dass wir, endlich, „das Ziel erreicht“ hatten.“ 298

296 Vgl. bes. Kap. 3.1.2. und 3.1.3.
297 Vgl. Fußnoten 286 und 287.
298 KON Pod znamenem, S. 259.

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Er geht sogar soweit festzuhalten, dass nach der vielfältigen, von ihm einlässlich be­
schriebenen Mühsal des Wegs „das ‹Totenhaus› an der Kara uns fast wie das irdische
Paradies erschien“,299 und Leo Deutsch (Lev Dejč), der ebenfalls Mitte der 1880er Jahre
nach Kara kam, empfand ein „wahres Wohlbehagen, endlich an einem Orte angelangt
zu sein, wo ich lange Jahre verbleiben sollte.“300 In die Erleichterung mischte sich die
Neugierde über die künftigen Lebensumstände und, besonders, über das menschliche
Umfeld – das Wiedersehen mit alten Kameraden aus den revolutionären Zirkeln und Be­
kanntschaften mit den Koryphäen jener Generation von Revolutionären, an denen sich
die neu eintretenden „Politischen“ orientiert hatten und denen sie entsprechend mit Ehr­
furcht begegneten. Kon spricht von einem „Archiv“ der Revolutionäre.301 Trotz den ban­
gen Fragen nach dem Regime im Gefängnis, bei aller Ungewissheit über das Funktio­
nieren des dauernden Zusammenlebens mit den revolutionären Wegbereitern (ein Punkt,
der bei Kon durchscheint) und trotz den zunehmenden politischen Differenzen innerhalb
der revolutionären Bewegung bedeutete die gemeinsame ideologische Basis und das ei­
nigende politische Ziel in der Häftlingsgesellschaft gerade beim Eintritt in die Welt der
Katorga viel – nämlich eine gewisse Vertrautheit. „Die Stimmung wird äußerst ange­
spannt, das Herz beginnt kräftig zu schlagen. Jetzt sehen wir, vielleicht, die Ge­
nossen“,302 schreibt Frejfel’d über die Erwartung kurz vor dem Öffnen der Gefängnistore
in Akatuj. Leo Deutsch begrüßte gar den damaligen Starosten der „Politischen“ in Kara,
Martynovskij, mit Namen, obwohl er ihn noch nie gesehen und nur von zurückkehr­
enden Verbannten auf dem Weg von ihm gehört hatte. Schon am ersten Abend fühlte er
sich wie in einem „intimen Familienkreis“.303 Die Ankunft in der Katorga glich einem
Einzug und vermittelte dem Neuankömmling sogleich erste Eindrücke vom sehr stark
durch die Häftlinge selbst geprägten Umgang im Gefängnis, auch wenn das eigentliche
Empfangskomitee durch den Gefängnisdirektor angeführt wurde, der gleich seine Prin­
zipien zum besten gab.304 Entwürdigende Szenen, wie sie aus den Erinnerungen an die
Lagerwelten des 20. Jahrhunderts bekannt sind,305 gab es beim Eintritt ins Katorga-Ge­
fängnis in der Regel keine. Die Neuankömmlinge mussten nicht erst in katoržane ver­
wandelt werden; entsprechende Vorgänge (Kopfrasur, Kleidung, Fesseln) hatten bereits
beim Antritt des Wegs nach Osten stattgefunden und wurden höchstens wiederholt. Je

299 KON Pod znamenem, S. 259. Mit dem Begriff „mertvyj dom“ („Totenhaus“) spielt er auf Dostoevskijs
berühmte Verarbeitung seiner Katorga-Erfahrung „Zapiski iz mertvogo doma“ („Aufzeichnungen aus
einem Totenhause“) an; gemeint ist natürlich das Katorga-Gefängnis an der Kara.
300 DEUTSCH Sechzehn Jahre, S. 198.
301 KON Pod znamenem, S. 258.
302 FREJFEL’D Iz prošlogo, S. 77. Seine Vorfreude galt insbesondere dem Zusammentreffen mit Petr Jaku­
bovič.
303 DEUTSCH Sechzehn Jahre, S. 197f.
304 Vgl. KON Pod znamenem, S. 259f., FREJFEL’D Iz prošlogo, S. 77, DEUTSCH Sechzehn Jahre, S. 196.
305 Im nationalsozialistischen Konzentrationslager und im Gulag waren mit der Ankunft im Lager zentra­
le, demütigende und traumatisierende Vorgänge verknüpft; dazu gehörten, als Ausgangslage, die oft
totale Orientierungslosigkeit nach dem Transport in geschlossenen Eisenbahnwaggons, sodann (in un­
terschiedlicher Reihenfolge) die „Hygienemaßnahmen“ (Entkleidung, Dusche, Rasur) und die „Selek­
tion“ zur Arbeit. Vgl. zum Gulag APPLEBAUM Gulag, S. 175–182; sie beschreibt die erwähnten Vorgän­
ge als Rituale.

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4.1. Ankommen im „Archiv der Revolutionäre“

nach Zeit, Ort und herrschendem Regime lockerten sich vielmehr die Formen und muss­
ten die „Politischen“ beispielsweise im Gefängnis keine Fesseln tragen.306
Oft bedeutete das Eintreffen neuer Häftlinge, dass das eingependelte Zusammenleben
sich neu fügen musste; das hatte auch für die bisherigen willkommene Seiten, weil da­
durch die Monotonie für einige Zeit aufgebrochen wurde. Entsprechend groß war die
Aufregung im Gefängnis, wenn ein neuer Transport angekommen war. Daran änderte
sich im Laufe der Jahrzehnte nichts; auch Irina Kachovskaja und Antonija Pirogova wa­
ren, zwanzig Jahre nach Kon und Deutsch, überwältigt vom warmen Empfang, der ih­
nen im Frauengefängnis Mal’cevskaja bereitet wurde.307 Eine Geschlechterdifferenz mag
sich in den konkreten Formen des Empfangs, nicht aber im Umstand selbst gezeigt ha­
ben. Jedesmal gab es neuen Stoff für politische und andere Diskussionen. Neuan­
kömmlinge brachten ersehnte Neuigkeiten vom Etappenweg und der Außenwelt – vor
allem: vom Gang der revolutionären Umtriebe – mit; nicht selten gelang es ihnen, ver­
botene Publikationen ins Gefängnis zu schmuggeln.308
Der Eintritt ins Gefängnis hatte aber auch seine Kehrseite. Das, woran Kon und seine
Gefährten explizit nicht dachten: nämlich dass sich nun die Tore zur Außenwelt für lan­
ge Zeit schlössen, trieb Irina Kachovskaja zu Beginn der Katorga-Haft stark um. Nach­
drücklich, aber feinsinnig beschreibt sie ihre Gefühle:
„Die erste Zeit der Haft ist immer die schwierigste. So auch jetzt – nach der Weite und
der Bewegung auf dem Weg fiel jedem auch die verhältnismäßig freie Haft sehr schwer.
Der Weg war zu Ende; die angespannte Erwartung des Neuen schlug um in das qualvolle
Gefühl der Untauglichkeit [dafür], eingekerkert zu sein, in das unerträgliche Bewusst­
sein, dass sich nun für den Verlauf einer langen Reihe von Jahren nichts ändern wird,
dass es für uns keine äußeren Ereignisse geben wird, und dass, wenn das Leben blüht und
in der Ferne lärmt, uns davon kein einziges Echo erreichen wird.“309

Die Wegstrecke, die Kachovskaja zu Fuß zwischen Sretensk und Mal’cevskaja zurück­
gelegt hatte, gewinnt im Rückblick einen zusätzlichen Wert. Nach den Gefängnisaufent­
halten in St. Petersburg und Moskau und der dreiwöchigen Eisenbahnreise quer durch
das Russische Reich bedeutete die Etappenstrecke in Transbaikalien eine Wiederbegeg­
nung mit der Landschaft und einen Geschmack von Freiheit. Ausführlich reflektiert sie
über die Eingewöhnung in die Welt der Katorga und über die Schwierigkeit, mit dem
Verlust der Natur und der Abwechslungen des Lebens aus ihrem Daseinshorizont um­
306 Vgl. DEUTSCH Sechzehn Jahre, S. 196. Zum Regime vgl. die Ausführungen weiter unten in diesem Ka­
pitel.
307 KACHOVSKAJA Iz vospominanij, S. 74, und PIROGOVA Na ženskoj katorge, S. 149.
308 Vgl. KON Pod znamenem, S. 261, der u.a. neue Nummern der Zeitschrift „Narodnaja volja“ mit­
brachte, und DEUTSCH Sechzehn Jahre, S. 198f. Das ganze Gefängnis sei in Aufruhr versetzt worden,
wenn ein neuer Transport angekommen sei, schreibt letzterer (S. 199). In seinem literarisierten Be­
richt stellt Jakubovič die Verhältnisse in „Schelai“ (Akatuj) so dar, als wäre er bis zum Eintreffen
„Schtejngarts“ (wohl Frejfel’d) allein unter ugolovnye gewesen. Das entspricht zwar nicht den in an­
deren Erinnerungen, die von Mithäftlingen Jakubovičs verfasst wurden, dargestellten Umständen (so
bei FREJFEL’D Iz prošlogo; FREJFEL’D Iz prošlogo (okončanie); ORLOV Ob Akatue; ČUJKO God). Es hebt
jedoch die positive Bedeutung, die ein Neuankömmling für die Häftlingsgesellschaft haben konnte,
umso stärker heraus. Vgl. MELSCHIN Im Lande 2, S. 60 (und folgende Abschnitte).
309 KACHOVSKAJA Iz vospominanij, S. 77.

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OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN Mitteilung Nr. 56

zugehen – „Die ganze Welt ist eingeschlossen in vier Wände.“310 Kraft schöpfte sie aus
dem Blick zurück in die Vergangenheit, aus dem Zusammenhalt unter den Genossinnen,
aus der Literatur, die ihr die verschlossene Außenwelt zumindest in Gedanken öffnete,
und aus den Träumen, die sie in die Freiheit entführten. Dennoch war es für sie anfangs
„eigentlich nicht zu glauben, dass es möglich ist, in dieser Eintönigkeit Jahre zu ver­
leben.“311 Ganz anders erlebte Feliks Kon den Anfang in der Katorga: „Die erste Zeit un­
seres Aufenthalts an der Kara machte auf uns einen unvergesslichen Eindruck. […] Es
war gut an der Kara …“,312 hält er fest. Der Unterschied in der Wahrnehmung war vor al­
lem ein psychischer, zutiefst individueller – oder, allenfalls, auch ein geschlechtsspe­
zifischer. Denn beide, Kachovskaja 1908 im Mal’cevskaja-Gefängnis und Kon 1886 im
Gefängnis für politische Häftlinge in Nižnjaja Kara, gelangten in vergleichsweise vor­
zügliche Umstände, sowohl hinsichtlich der sozialen Verhältnisse unter den Häftlingen
als auch bezogen auf das herrschende Regime, das – zumindest für die Anfangsphase –
von beiden als erträglich dargestellt wird.313
4.1.1. Die Welt der Katorga von außen: Landschaft und Gefängnisbauten
Anzukommen in der Katorga bedeutete zweierlei: eine von allen bekannten Gegenden
des Reiches ferne, „andere“ Welt zu erreichen, die sich in der ungewohnten Landschaft
Transbaikaliens und in den Gefängnisbauten den Häftlingen äußerlich offenbarte, und
im praktisch gleichen Augenblick hinter den Mauern einen höchstens durch die gesell­
schaftliche Konstituierung auf dem Weg nach Osten vorstellbaren Katorga-Alltag anzu­
treten. Mit letzterem haderte Kachovskaja. Die äußeren Bedingungen – die „andere
Welt“ – spiegelten sich im Innenleben insofern, als die landschaftliche Umgebung we­
der im Kara-Tal noch im südlich der Šilka gelegenen Nerčinsker Kreis Trost zu spenden
vermochte. Im Gegenteil: Die naturräumliche Gestalt der Region verstärkte den Ein­
druck, ans Ende der Welt gelangt zu sein. Alfred Graf Keyserling, der Ende der 1880er
Jahre in seiner Funktion als „Beamter zu besonderen Aufträgen“ im Dienst des General­
gouverneurs für das Amurgebiet, Baron Korff, als interimistischer Gefängnisoberver­
walter ins Kara-Tal entsandt worden war, schildert in den Erinnerungen an seine Zeit in
Sibirien die Gegend an der Šilka als „wild zerklüftetes bewaldetes Gebirgsland, durch­
schnitten von kleinen Flüssen und Flüsschen“, das nur dünn besiedelt ist. An der Mün­
dung der Kara in die Šilka öffnet sich ein breiter Taleingang mit der Siedlung Ust’-Kara,
der sich nach einigen Kilometern wieder verengt, bevor sich die Landschaft beim Ver­
waltungspunkt Nižnjaja Kara neuerlich weitet.314 Kennan beschreibt ein flaches Tal mit
Sand- und Kiesböden, einer Breite von rund einer halben Meile und flankierenden nied­
rigen Hügeln mit Lärchen- und Kiefernwald.315 Je nach Jahreszeit und Witterungsbedin­
310 KACHOVSKAJA Iz vospominanij, S. 77.
311 KACHOVSKAJA Iz vospominanij, S. 77.
312 KON Pod znamenem, S. 263.
313 KACHOVSKAJA Iz vospominanij, S. 76f., und KON Pod znamenem, S. 263. Ähnlich die Berichte von
Mithäftlingen, im Falle Kachovskajas etwa Pirogova, im Falle Kons Deutsch. Zum Verhalten der Ge­
fängnisobrigkeit vgl. Kap. 4.6. (S. 115)
314 KEYSERLING S. 28f. An beiden Orten befanden sich Gefängnisbauten, in Nižnjaja Kara ab 1880 das
spezielle Gefängnis für die politischen Häftlinge.

68

4.1. Ankommen im „Archiv der Revolutionäre“

gungen war das Gebiet praktisch von der Außenwelt abgeschnitten, was, zusätzlich zur
fast menschenleeren Landschaft, die Abgeschiedenheit verstärkte.316
Widersprüchlicher, aber im Gesamteindruck eher noch abschreckender erscheint in
den Schilderungen von Außenstehenden und Gefangenen das Gebiet des Nerčinsker Sil­
berminendistrikts. Die Landschaft zwischen Šilka und Argun, dem Grenzfluss zur Mon­
golei, ist durch eine Mischung aus Taiga im nördlicheren Teil, steppenartigen, kargen
Ebenen im Süden und sanften, meist unbewaldeten Hügeln geprägt. Dazwischen befin­
den sich die Ortschaften mit den Gefängnissen.317 De Windt zeichnet ein idyllisches Bild
von der Gegend als Ganzem:
„The distant mountains, wide stretches of thyme-scented moorland, pine forests carpeted
with fern and wild flowers, and pretty villages dotted ower the smiling landscape, quite
justify the name of ‹Siberian Switzerland› that has been given to this district.“318

In diese bewundernde Darstellung passt die Wahrnehmung Gennadij Čemodanovs, der
als Kommandant der (militärischen) Bewachungstruppen (konvojnaja komanda) in den
Katorga-Gefängnissen von Kadaja, Kutomara und Gornyj Zerentuj tätig war und in sei­
nem Erinnerungsbericht den Eindruck erweckt, es handle sich um einen lieblichen
Landstrich, etwa wenn er das Zusammenspiel eines Kranzes „sehr hoher Hügel“, eines
nicht allzu breiten Tals und eines gemächlichen Flusslaufs bei Kadaja hervorhebt. 319
Noch mehr würdigt er die Landschaft bei Kutomara: Die kahlen Hügel weichen kurz vor
dem Gefängnisort einer reichen Waldvegetation, hinter der hohe Berge aufsteigen. „Die
Umgebung von Kutomara ist bezüglich ihrer Natur die wertvollste und die malerischste
im ganzen Gebiet der Katorga“, schreibt Čemodanov, der sich besonders gern der Jagd
widmete und dafür wahrhaft paradiesische Zustände vorfand.320 Allerdings blieben diese
Vorzüge, wie Čemodanov selbst einräumt, jenen vorbehalten, die sich frei bewegen
konnten. Für die Gefängnisinsassen sei Kutomara sogar der „trostloseste Ort der ganzen
Katorga“, weil sich die Gefängnisanlage mitten in einer Sumpf- und Kanallandschaft
befinde, so dass es in den Gebäuden und um diese herum beständig feucht und unwirt­
lich sei.321
Noch öder erscheint allerdings das Tal von Akatuj. Die zwischen den kargen Hügeln
eingeschnittenen Täler und Talmulden des Nerčinsker Kreises wirkten auf Kennan be­
sonders düster, vor allem aber gilt dies für das Gebiet des – bei seinem Besuch im Win­
ter 1885 noch leer stehenden – Gefängnisses von Akatuj, das etwas abseits der Routen
315 KENNAN Siberia II, S. 138. „The road ran up the left bank of the Kará River through a shallow valley
averaging about half a mile in width, bounded by low hills that were covered with a scanty second
growth of young larches and pines [...].“ Kennan besuchte die Region im Winter.
316 KENNAN Siberia II, S. 131.
317 Die Schilderungen in den Erinnerungsberichten sind meist nur kurze Seitenblicke, etwa bei
RADZILOVSKAJA/ORESTOVA Katorga, S. 21, oder in der sehr trostlosen Beschreibung bei ŽUKOV Katorga,
S. 173.
318 DE WINDT Siberia, S. 243f.
319 ČEMODANOV Katorga, S. 15.
320 ČEMODANOV Katorga, S. 31.
321 ČEMODANOV Katorga, S. 32. Die unterschiedliche Wahrnehmung der äußeren Umstände zeigt sich hier­
in exemplarisch. Inwieweit der Einwand zugunsten der Gefangenen auch auf die unklar bleibenden re­
daktionellen Einflüsse bei der Herausgabe des Erinnerungsberichts zurückgeht, lässt sich höchstens
erahnen (vgl. die quellenkritischen Ausführungen im Kap. 1.4., S. 13).

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OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN Mitteilung Nr. 56

liegt. Nie habe er einen so einsamen, so trostlosen, von der übrigen bewohnten Welt so
isolierten Ort gesehen wie Akatuj, schreibt der amerikanische Journalist;322 die Winter­
landschaft verstärkte den Eindruck noch. „If there is in Siberia a more lonely, a more
cheerless, a more God-forsaken place than Kará, it is the snowy, secluded valley of
Akatúi“323 – Kara und Akatuj erscheinen bei ihm als Stätten am Ende der Welt. Ihm
schließt sich V. Čujko an, der zu jener Gruppe politischer Häftlinge aus Kara gehörte,
die Ende 1890 ins wiedereröffnete Gefängnis von Akatuj überführt wurden, um dort un­
ter verschärften Haftbedingungen und zusammen mit kriminellen Sträflingen ihre Kat­
orga-Strafe zu verbüßen. Auch er schildert es als enges, düsteres Tal. „Rechts vom Weg
hohe Hügel, links – eher abfallende. Das Tal von Akatuj erschien mir, warum auch im­
mer, stets düster, auch im Sommer an sonnigen Tagen.“324 De Windts Würdigung der
landschaftlichen Schönheit des Nerčinsker Kreises bezieht Akatuj nicht mit ein. Die ho­
hen Berge rundherum schlössen sich beim Eintritt in das verlassene Tal wie eine Falle
über einem, urteilt er eher deprimiert.325
Die Bewertung der landschaftlichen Umgebung mochte auch eine Frage des Stand­
punkts sein; Besucher auf Zeit und Vertreter der Gefängnisadministration urteilten
zwangsläufig aus einer anderen Position als Gefangene, für welche die Welt auf lange
Zeit an der Ummauerung der Anlagen endete. Für die Häftlinge war nicht nur die Karg­
heit der Hügellandschaft symptomatisch für die Abgeschiedenheit, sondern auch das
raue Klima mit seinen langen, sehr kalten Wintern und kurzen Sommern, das sich in den
kaum isolierten und schlecht gebauten Gefängnisgebäuden vor allem im Winter un­
angenehm bemerkbar machte – beispielsweise im Frauengefängnis Mal’cevskaja
(Nerčinsker Kreis).326 Die Temperatur in den Kammern sank, wie Irina Kachovskaja be­
richtet, auf nahezu null Grad Celsius, Böden, Ecken und Wände vereisten, und die Fens­
ter waren im Innern gar mit einer zentimeterdicken Eisschicht überzogen.327 Das lang an­
dauernde Winterkleid und der Frühling, der spät und stürmisch begann, aber die Natur
explodierend erwachen ließ und mit seinen Farben und Düften auf die Gefangenen aus
der Ferne betörend wirkte, spiegelten sich in den Empfindungen der Häftlinge.328
Diese Wechselwirkung bestand auch bei den Gefängnisbauten, unabhängig von ihrer
Lage und ihren klimatischen Bedingungen. Im Vergleich zu den blockhausartigen, ein­
stöckigen Bauten wirkten die steinernen Gebäude besonders mächtig und bedrohlich auf
die Häftlinge, so etwa das Gefängnis von Gornyj Zerentuj, in dessen unmittelbarer Nähe
sich ferner über längere Zeit auch die Verwaltung der Nerčinsker Katorga befand, oder
der weiße Steinbau von Akatuj. Das äußere Erscheinungsbild der Strafanstalt habe die
322 KENNAN Siberia II, S. 287. Er ergänzt: „It might have been a valley among the arctic hills of Greenland
near the Pole.“
323 KENNAN Siberia II, S. 289.
324 ČUJKO God, S. 105.
325 DE WINDT Siberia, S. 254.
326 RADZILOVSKAJA/ORESTOVA Katorga, S. 22. Im Winter sanken die Temperaturen auf bis zu 30 oder 40
Grad Celsius unter dem Gefrierpunkt.
327 KACHOVSKAJA Iz vospominanij, S. 78.
328 KACHOVSKAJA Iz vospominanij, S. 85. Auch DEUTSCH Sechzehn Jahre, S. 231, schildert die Gefühle
beim Anblick der Landschaft, die jenseits der Mauer lag: „Es war nur spärlicher Pflanzenwuchs auf
diesen sibirischen Höhen, aber im Frühling schienen sie uns aus der Ferne ein Paradies und lockten
unbezwinglich zu sich hin.“

70

4.1. Ankommen im „Archiv der Revolutionäre“

Stimmung hinter den Mauern geprägt, schreibt Vladimir Pleskov über Zerentuj um 1910
– eine durchaus suggestive Bemerkung vor dem Hintergrund der Auseinandersetzungen
zwischen den Gefangenen und der Administration in jener Zeit.329 Rund 15 Jahre zuvor
hatte De Windt, der dem Strafsystem ziemlich wohlwollend begegnete, aus seiner ande­
ren, außenstehenden Perspektive demselben Gefängnis Bestnoten ausgestellt: „It is the
best penal establishment from every point of view, that I have ever seen in Siberia.“ 330
Vorherrschend waren jedoch die Holzhäuser, die, nach den erhaltenen Bildquellen zu
urteilen, dem Erscheinungsbild eines typischen sibirischen Dorfes angepasst waren und
– wie eingangs angesprochen – keinen besonders bedrohlichen oder gespenstischen An­
blick boten.331
Die Gefängnisanlage bestand in der Regel aus mehreren (oft drei) einstöckigen Ge­
bäuden, die von einer hohen steinernen Mauer oder hölzernen Palisade umgeben waren,
so dass ein meist großzügiger Hof entstand.332 Im größten Gebäude befanden sich, ent­
lang einem relativ breiten Flur, die Gemeinschaftszellen (kamery) für die Häftlinge so­
wie ein Krankenzimmer. Die Anzahl der Zellen und deren Größe variierten je nach Ge­
fängnis und Haftregime. Ein kleineres Gebäude beherbergte die Küche (kuchnja) und
das Badehäuschen (banja); im dritten Gebäude, zuweilen vom Hof durch eine weitere
Mauer abgetrennt, waren Einzelzellen (odinočki) untergebracht. Da die Gefängnisse
größtenteils im Laufe des 19. Jahrhunderts errichtet und später, trotz Umnutzungen, nur
geringfügig angepasst worden waren, änderte sich an den Bautypen und auch an der
Bausubstanz nur wenig. Das Katorga-Gefängnis für politische Häftlinge in Nižnjaja Ka­
ra, mit dessen Bau 1880 begonnen wurde und das 1882 den Betrieb aufnahm, war sehr
ähnlich organisiert und eingerichtet wie beispielsweise das Mal’cevskaja-Gefängnis, in
dem zwischen 1907 und 1911 die weiblichen „Politischen“ konzentriert wurden.333 Ab­
gesehen vom verwehrten Ausblick in die Landschaft aufgrund der haushohen Umfrie­
dung, die für die beschriebene Wechselwirkung zwischen Gefängnisbauten, Landschaft
und innerer Verfassung der Häftlinge nicht ganz unerheblich gewesen sein dürfte, lobt
Kennan das politische Gefängnis von Nižnjaja Kara ausdrücklich als geräumiger, heller
und komfortabler als die für die gewöhnlichen Verbrecher benutzten Gebäude im KaraTal.334
329 PLESKOV V gody, S. 142. Vgl. weitere Ausführungen im Kap. 4.6. Zu Akatuj auch ČUJKO God, S. 105.
330 DE WINDT Siberia, S. 247.
331 Vgl. die Bilder im Anhang S. 169–174.
332 Vgl. KACZYNSKA Gefängnis, S. 99. Im Falle des politischen Gefängnisses von Kara war die Palisade
ebenso hoch wie die von ihr eingeschlossenen Gebäude. Dadurch war den Häftlingen der Ausblick
auf das Kara-Tal verwehrt, was KENNAN Siberia II, S. 223–225, heftig anprangert, weil allen andern –
gewöhnlichen – Katorga-Sträflingen die Sicht auf die Umgebung möglich sei. Vgl. die Skizze im An­
hang (Abbildung Nr. 3 S. 162).
333 RADZILOVSKAJA/ORESTOVA Katorga, S. 21, beschreiben die Anlage; dadurch ist ein Vergleich mit dem
bei KENNAN Siberia II, S. 225, und (in einer detaillierteren Form) im Sammelband „Kara i drugie tjur’­
my Nerčinskoj katorgi“, S. 8, abgedruckten Plan des politischen Gefängnisses von Kara möglich. Vgl.
Anhang S. 160.
334 KENNAN Siberia II, S. 223. MOŠKINA Katorga, S. 32f., ergänzt, das Gefängnis sei bewusst auch vom
Wald abgesetzt errichtet worden, auf einer gut überblickbaren Ebene, allerdings auf einem schlechten,
sehr feuchten Baugrund; unter anderem deswegen sei es auch im Haus feucht und kalt gewesen. Auch
Levčenko, Pobeg, S. 57, berichtet von der Lage des Gefängnisses im Verhältnis zu seiner Umgebung;
im Unterschied zum vorhergehenden Gefängnis in Srednjaja Kara, in dem politische Häftlinge un­

71

OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN Mitteilung Nr. 56

4.1.2. Im Katorga-Gefängnis
Die Wechselwirkung zwischen äußerer Gestalt der Lebensumgebung und innerer Ver­
fassung der Häftlinge spielte sich nicht allein zwischen den Sträflingen, der sie umge­
benden Landschaft und dem Anblick der Gefängnisgebäude ab; die Einrichtung der letz­
teren und deren Zustand waren ohne Zweifel noch bedeutsamer, weil sich hierin, ganz
besonders im Herzstück, den Gefängniszellen als dem Nukleus des sozialen Zusammen­
halts schlechthin, die Häftlingsgesellschaft organisierte. Irina Kachovskaja war nicht nur
überwältigt vom Empfang bei der Ankunft; fast noch stärker überwältigte sie der erste
Eindruck vom Gefängnisinnenleben in Mal’cevskaja:
„Irgendjemand stellte einen Samovar auf, irgendjemand spannte einen Bettlaken-Vor­
hang auf, damit ich mich von der Reise waschen konnte, sie schleppten eine kleine Wan­
ne an, holten aus irgendeinem Säckchen oder Körbchen frische Unterwäsche. Es regnete
mitfühlende Fragen, es blickten freundliche, neugierige Augen. Der Übergang von den
groben Zurufen, Flüchen, Schlägen bestialischer und blutverschmierter Personen zu die­
ser sauberen Atmosphäre der Zärtlichkeit und Fürsorge war so heftig, dass die nervliche
Anspannung der vergangenen Tage zusammenbrach.“335

Nicht anders erging es Antonija Pirogova, als sie in eine der drei Kammern, die den
„Politischen“ zustanden, geführt wurde. Zur angenehmen Aufnahme und zu den positiv
vermerkten Äußerlichkeiten wie dem Teppich im Flur kam nun die Überraschung über
die Atmosphäre und den Komfort in der Zelle. Da standen hölzerne Betten anstelle von
Schlafpritschen; in kleine Flaschen eingestellte Gartenblumen verschönerten den Raum,
auf dem Tisch wartete ein Samovar und rundherum stand eine ziemlich ausgelassene
Schar junger Frauen.336 Zu jedem Bett gehörten ein Hocker und ein Bücherbord an der
Wand, das aus einer hölzernen Kiste gefertigt war; eine weitere Kiste neben dem Bett
diente der Aufbewahrung der persönlichen Gegenstände.337 In den Räumen herrschte,
wie Kachovskaja bemerkt, nicht die Behaglichkeit des freien Lebens, aber auch nicht die
abweisend-kalte Stimmung eines gewöhnlichen Gefängnisses.338 Auch wenn es nach ei­
nem Klischee klingen mag: Die liebevolle Gestaltung des unmittelbaren Lebensraums
war ein Merkmal des Frauengefängnisses von Mal’cevskaja und lässt sich für die Zellen
der männlichen Gefangenen in den anderen Katorga-Gefängnissen nicht belegen. Das
laxe Regime in Mal’cevskaja – das Verhältnis zur (mehrheitlich männlichen) Gefängni­
sadministration war nahezu ungetrübt – leistete dem Gestaltungswillen und der Entfal­
tung der weiblichen Häftlinge sicherlich Vorschub; selbst Photoapparate und Musikin­
strumente, die Angehörige ins Gefängnis schickten, wurden geduldet.339 Aber der Ver­
gleich mit der Gulag-Forschung lässt darauf schließen, dass es ein geschlechtsspezifi­
tergebracht waren und das mitten in bewohntem Gebiet stand und von keiner Mauer umgeben war,
befand sich das neue, ausschließlich politische Gefängnis abseits der anderen Häuser der Siedlung in
Nižnjaja Kara.
335 KACHOVSKAJA Iz vospominanij, S. 74.
336 PIROGOVA Na ženskoj katorge, S. 149.
337 KACHOVSKAJA Iz vospominanij, S. 74f., und RADZILOVSKAJA/ORESTOVA Katorga, S. 23. Die Kisten
stammten von Paketen, welche die Häftlinge bekommen hatten.
338 KACHOVSKAJA Iz vospominanij, S. 74.
339 RADZILOVSKAJA/ORESTOVA Katorga, S. 45, und KACHOVSKAJA Iz vospominanij, S. 76, die ebd. auch be­
merkt: „Ein Regime gab es im Gefängnis keines.“ Die Gefangenen hätten innerhalb des lose gesetzten
Rahmens gemacht, was sie wollten. Ähnlich PIROGOVA Na ženskoj katorge, S. 149.

72

4.1. Ankommen im „Archiv der Revolutionäre“

sches Verhalten gab, gerade bezüglich der Sorge um den eigenen Körper und um die
Wohnstätte, und dies auch unter den harschesten Bedingungen, wie sie in den Lager­
welten des 20. Jahrhunderts zum Alltag gehörten.340 Diese Erkenntnis lässt sich, so un­
terschiedlich die Ausgangslage ist, auch auf die weiblichen (politischen) Katorga-Häft­
linge übertragen.
Die männlichen Häftlinge legten weniger Gewicht auf die Gestaltung der Räume; die
Bedeutung der Gemeinschaftszelle verminderte sich dadurch aber nicht. Kon würdigt
die Sauberkeit und die gute Ausstattung der Kammer, die über drei Fenster verfügte und
ziemlich hell war.341 Ähnlich positiv äußert sich auch Deutsch, der nur wenig früher als
Kon in Kara eintraf:
„Eine Tür wurde geöffnet, und ich betrat meine Kammer. Es war ein großer Raum; in der
Mitte stand ein langer Tisch mit Bänken, den Wänden entlang waren Pritschen und ein
gewaltiger Ofen, drei große Fenster spendeten Licht.“ 342

Wenngleich weder Kon und Deutsch noch, einige Jahre später im für sein hartes Regime
berüchtigten Gefängnis von Akatuj, Frejfel’d und anderen Betten zur Verfügung standen
– diese exzeptionellen Bedingungen sind nur aus Mal’cevskaja bekannt –, waren mitge­
brachte Matratzen oder ordentlich gefüllte Heusäcke und Kopfkissen zum Schlafen auf
den nary, den Pritschen, vorhanden, und die Zellen waren nur soweit belegt, dass die
Räume einigermaßen sauber und ordentlich gehalten werden konnten.343 Kakerlaken (ta­
rakany) waren aber unvermeidbar. Čujko und seine Gefährten trafen jedenfalls bei ihrer
Ankunft im noch leeren, eben erst erneuerten Gefängnis von Akatuj bereits auf diese un­
geliebten Mitbewohner.344 In Akatuj gab es für jede Zelle einen Abortraum, in Nižnjaja
Kara einen für alle vier Kammern. Weil die Türen nachts geschlossen wurden und den
Häftlingen der Zugang zu den Abtritten daher verwehrt war, kam auch hier – wie in den
Etappengefängnissen – die paraša zum Einsatz, der hölzerne Eimer für die Exkremente,
der ein ständiges Ärgernis und ein Paradies für das Ungeziefer darstellte sowie die Ver­
mehrung von Krankheitserregern beförderte. Die hygienischen Verhältnisse waren stets
prekär, wenn sie auch in den Katorga-Gefängnissen besser waren als unterwegs.345 So er­
staunt es nicht, wenn Deutsch den – nicht allzu häufigen – Besuch des Badehauses als
besonderen Genuss empfand; die Sauna gab in erster Linie das Gefühl der Sauberkeit
zurück und war darüber hinaus eine willkommene Abwechslung im Alltag. Danach
wechselten die Häftlinge die Kleider und genossen die Behaglichkeit, die es, wie
Deutschs Schilderungen nahelegen, selbst unter den Bedingungen der transbaikalischen
340 Bei STARK Frauen, S. 100, heißt es (im Unterkapitel „Baracken“): „Dennoch versuchten die Frauen
auch unter den Haftbedingungen, soweit irgend möglich, ihrer Umgebung eine gewisse Wohnlichkeit
zu verleihen.“ Die Männerbaracken waren, wie aus einer Erinnerung zitiert wird, kahl, während in den
Frauenbaracken Bilder und Fotos aufgestellt und, ähnlich wie in Mal’cevskaja, aus Kisten Möbel ge­
fertigt wurden.
341 KON Pod znamenem, S. 261.
342 DEUTSCH Sechzehn Jahre, S. 197.
343 DEUTSCH Sechzehn Jahre, S. 198, und FREJFEL’D Iz prošlogo, S. 78.
344 ČUJKO God, S. 105. Vgl. auch DE WINDT Siberia, S. 280.
345 Vgl. den Plan des Gefängnisses von Nižnjaja Kara im Anhang S. 160 sowie FREJFEL’D Iz prošlogo, S.
78, und die Ausführungen bei KACZYNSKA Gefängnis, S. 99. Auch KENNAN Siberia II, S. 227, lässt sich
über die sanitären Bedingungen 1882 im damals eben erst errichteten politischen Gefängnis negativ
aus.

73

OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN Mitteilung Nr. 56

Katorga-Haft geben konnte – bei erträglichem Regime und einigermaßen geordneten
Haftumständen.346
Das Hauptproblem des russischen Gefängniswesens, die überfüllten Strafanstalten,
wurde für die politische Katorga in Transbaikalien besonders ab 1905 virulent, als die
Zahl der Häftlinge sprunghaft anstieg.347 In der ersten Hälfte der 1880er Jahre, nach der
Zerschlagung der „Narodnaja volja“ im Zuge des Attentats auf Alexander II., war die
Überbelegung auch an der Kara ein Problem. Das politische Gefängnis von Nižnjaja Ka­
ra, für 80 Insassen vorgesehen, musste einige Zeit über 120 Sträflinge beherbergen. Und
im (zeitweiligen) Frauengefängnis für „Politische“ in Ust’-Kara, das im ehemaligen
Karzertrakt für die ugolovnye untergebracht war, hatten die weiblichen Sträflinge zu Be­
ginn der achtziger Jahre in den ohnehin völlig ungeeigneten, viel zu kleinen, dreckigen
und winters eisig kalten Einzelzellen in Mehrfachbelegung zu leben.348 Zwischendurch
und, je nach Ort auch nach 1905, waren die Verhältnisse in den Katorga-Gefängnissen
in der Regel deutlich besser als in den Deportations- und den Etappengefängnissen, 349
was ohne Zweifel auch dem Umstand geschuldet war, dass sich die Häftlinge nun über
längere Zeit in einer Zelle einrichten mussten und zwingend auch für ihre unmittelbare
Umgebung verantwortlich waren. Allerdings schränkte die Überbelegung ein derartiges
Mindestmaß an Ordnung und verhältnismäßiger Behaglichkeit, wie sie an der Kara in
der zweiten Hälfte der achtziger Jahre durchaus herzustellen war, stark ein oder verun­
möglichte sie ganz. So wurde Ivan Starodubcev 1915 in Gornyj Zerentuj in einer Zelle
untergebracht, die für 47 Personen vorgesehen war, nun aber 127 Häftlinge aufnehmen
musste. Schlafplätze gab es daher notgedrungen überall im Raum: auf und unter den
Pritschen, auf und unter dem Tisch. Kein Wunder, dass diese Bedingungen die Wanzen­
plage in besonderem Maß beförderten.350 Von Gestank, rußenden Lampen und einer dre­
ckigen Brühe auf dem Fußboden in den Zellen berichtet Pavel Vasil’ev, als er Ende
1909 via Algači und Kazakovo ins Bergwerksgefängnis Novotroick, im südlichen Teil
des Nerčinsker Kreises, kam.351 Im Frauengefängnis von Mal’cevskaja blieb die Ord­
nung zwar bis zur Überführung der Häftlinge nach Akatuj gewahrt, aber auch hier war
im Zeitraum von 1907 bis 1911 eine Zunahme von 14 auf 62 Gefangene zu bewäl­
tigen.352
4.2. Die Katorga-Gesellschaft: In der Kommune der „Politischen“
Der Eintritt in die Katorga-Gesellschaft fand stufenweise statt. Er begann bereits an den
Ausgangspunkten der Reise nach Osten, in den großen Gefängnissen des russischen
346 DEUTSCH Sechzehn Jahre, S. 237f.
347 Vgl. DALY Punishment, S. 357. Vgl. auch die vorangegangenen Ausführungen zu den Phasen und Di­
mensionen im Kap. 3.1.3 (S. 41).
348 Vgl. die Ausführungen bei MOŠKINA Katorga, S. 33, basierend auf einem Bericht Elizaveta Koval’ska­
jas, sowie ŽUKOV Iz nedr, S. 73, und PRIBYLEVA Moi vospominanija, S. 130f.
349 KACZYNSKA Gefängnis, S. 106.
350 STARODUBCEV Gornyj Zerentuj, S. 174f. Er fand das Katorga-Gefängnis keineswegs angenehmer als
das Gefängnis von Tobol’sk, wo er bereits die vorangegangenen acht Jahre verbracht hatte; er sei von
dort nicht an derart widerliche Umstände gewöhnt.
351 VASIL’EV Promysly, S. 196.
352 RADZILOVSKAJA/ORESTOVA Katorga, S. 20.

74

4.2. Die Katorga-Gesellschaft: In der Kommune der „Politischen“

Kernlandes und seiner westlichen Provinzen, und setzte sich, wie dargestellt, auf dem
beschwerlichen Weg nach Sibirien fort. Unterwegs konstituierte sich der soziale Raum
der Katorga insofern, als sich Grundmuster des Zusammenlebens der „Politischen“ un­
tereinander einerseits und der „Politischen“ und der Kriminellen miteinander anderseits
herausbildeten. Angekommen in der Katorga, öffnete sich noch einmal eine ganz neue
Welt. Die Landschaft an der Kara und im Nerčinsker Kreis, die Gefängnisanlagen und
die Einrichtung der Zellen steckten den Rahmen dieser Welt ab, stellten die Hin­
tergrundfolie dar für die Häftlingsgesellschaft, die durch die Ein- und Austritte einem
ständigen Wandlungsprozess unterworfen war, aber gleichwohl ihren spezifischen, kon­
tinuierlichen Regeln gehorchte. In den Gemeinschaftszellen formierten sich Unter­
einheiten dieses sozialen Raumes – einzelne Kerne der Gesellschaft, die in sich wieder­
um eine eigene Differenzierung kannten. Hier war jeder dem andern am nächsten; es
gab keine Privatsphäre und höchstens tagsüber, wenn, wie es oft der Fall war, die Zel­
lentüren zum Flur hin offen standen, eine räumliche Ausweichmöglichkeit. 353 Levčenko
schreibt dazu:
„Das Leben eines jeden verlief unter dem Blick aller und das [Leben] aller unter dem
Blick eines jeden. Als Folge davon musste sich jeder selbst disziplinieren, indem er auf
persönliche Bequemlichkeiten und Interessen zum Nutzen aller verzichten musste. Das
war unabdingbar hinsichtlich der Ordnung und Solidarität, und man muss einräumen,
dass das Gefängnis diese schwierige Aufgabe unter den unmenschlichen Bedingungen
glänzend erfüllte.“ 354

Die Katorga-Gesellschaft der politischen Häftlinge baute auf dieser gegebenen, uneinge­
schränkten Nähe ihrer Mitglieder zueinander auf. Diese Ordnung war sicherlich in erster
Linie aus der Not der Gefängnisbedingungen heraus geboren, wie es Levčenko an­
spricht; aber sie entsprach auch den gesellschaftspolitischen Vorstellungen der Sträf­
linge – der Revolutionäre – von Gleichheit und Solidarität. „In diesem Sinn stellte sich
unser Zusammenleben dar als eine kleine Ecke des zukünftigen gesellschaftlichen Le­
bens“, bemerkt Irina Kachovskaja.355 Bereits unterwegs hatten die Gefangenen eine „Ge­
nossenschaft“ (artel’) gegründet, um alles, was ihnen zur Verfügung stand, brüderlich
zu teilen.356 Nicht anders war die Gepflogenheit in der Katorga-Gesellschaft – in den Er­
innerungsberichten wird fast schon ein Ideal gezeichnet. Die katoržane konnten sich in
einer Kommune (kommuna) organisieren; Feliks Kon erklärt: „Aufgrund der ‹Konstitu­
tion› von Kara übergaben die Häftlinge alle materiellen Mittel, die sie von Verwandten
oder Bekannten bekommen hatten, dem allgemeinen Gebrauch.“357 Das bedeutete, dass
jedes Mitglied das gleiche Essen und denselben zusätzlichen, von der Gefängnisadmi­
nistration ausgegebenen und verwalteten Geldbetrag erhielt; dieser setzte sich aus Antei­
len des Staates und aus den Zuwendungen zusammen, die von Verwandten einiger Häft­
linge regelmäßig oder gelegentlich geschickt wurden. Die Summe belief sich zu Kons
Zeiten, je nach wirtschaftlicher Lage des Gefängnisses, auf einen Betrag von 75 bis 150
353 Die Türen wurden abends nach der Kontrolle (poverka) geschlossen, vgl. KON Pod znamenem, S. 261.
354 LEVČENKO Pobeg, S. 56.
355 KACHOVSKAJA Iz vospominanij, S. 84.
356 Vgl. Fußnote 243.
357 KON Pod znamenem, S. 268. DEUTSCH Sechzehn Jahre, S. 208, betont die Freiwilligkeit der Zugehörig­
keit zur Kommune.

75

OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN Mitteilung Nr. 56

Kopeken pro Monat und wurde zum Zukauf von Zucker, Tee, Butter, Fischen, Tabak,
Streichhölzern, Papier, Stiften und ähnlichem verwendet, also auch für die individuelle
Essensaufbesserung. Ausgaben für Post und Telegramme gingen in der Regel zu Lasten
der Kommune.358 Diese individuellen Ausschüttungen machten nur einen Teil – nämlich
ein Drittel – der Gesamtsumme aus, die den Häftlingen (zu Kons und Deutschs Zeiten)
zustand. Die Kommune verwendete die anderen zwei Drittel zum einen zur Aufbesse­
rung des allgemeinen Essens, indem etwa Fleisch für alle zugekauft wurde, und zum an­
dern zur Unterstützung freigelassener Genossen sowie für allgemeine Aufwendungen
zugunsten der Gemeinschaft.359
Nach welchen Regeln die Kommunen funktionierten, hing nicht allein von den Ge­
fangenen ab, sondern auch vom Rahmen dessen, was die Gefängnisleitung zuließ. Die
Auflösung des politischen Gefängnisses in Nižnjaja Kara mit seiner Sonderstellung ge­
genüber der allgemeinen (also „kriminellen“) Katorga und der neue Grundsatz der
Gleichbehandlung krimineller und politischer Häftlinge ab 1890 hatte auch für die Ver­
pflegung Konsequenzen. Im „Mustergefängnis“ Akatuj, wo die neue Ordnung umge­
setzt werden sollte und „Politische“ und Kriminelle daher in gemischten Zellen lebten,
war geregelt, welche Grundnahrungsmittel zugekauft werden durften.360 Eine individu­
elle Essensaufbesserung nach dem bei Deutsch erwähnten Muster (etwa durch Fische,
Butter und ähnliches) war nicht mehr möglich; hingegen spendeten die (gegenüber den
Kriminellen zumeist wohlhabenderen) „Politischen“ gelegentlich Sonderrationen für das
ganze Gefängnis – beispielsweise eine besonders schmackhafte Hammelfleischsuppe
oder Fleisch- oder Beerenpiroggen.361 Diese Großzügigkeit zum Wohle der gesamten
Katorga-Gesellschaft war erlaubt, bedeutete im Verhältnis zu den kriminellen Mitgefan­
genen jedoch eine stete Gratwanderung und führte zuweilen zu Friktionen, weil sich die
Kriminellen dadurch von den politischen Leidensgenossen „gekauft“ fühlten und ihnen
mit Misstrauen, bisweilen gar Hass gegenübertraten.362
4.2.1. Suppe und Brot: Essen in der Katorga
Die Nahrung in den Katorga-Gefängnissen war, über die gesamte behandelte Zeit be­
trachtet, zumeist eintönig, unausgewogen, wegen Mangels an Frischprodukten ungesund
358 KON Pod znamenem, S. 268, und DEUTSCH Sechzehn Jahre, S. 208. Der Geldbetrag blieb „virtuell“,
d. h. jeder Häftling besaß ein „Konto“ beim Kommandanten und konnte darüber die Sachwerte bezie­
hen, vgl. DEUTSCH Sechzehn Jahre, S. 209; ebd. gibt Deutsch auch an, während seiner Zeit habe die
monatliche individuelle Ausschüttung nie mehr als einen Rubel (100 Kopeken) betragen.
359 DEUTSCH Sechzehn Jahre, S. 208. Deutsch bemerkt, dass die Beträge stets gering und zugleich die Le­
bensmittel wegen den Transportwegen in Sibirien bedeutend teurer gewesen seien als im europäischen
Russland, vgl. ebd., S. 209.
360 Das Reglement ist im Beitrag von FOMIN Katorga, S. 20–24, in Auszügen abgedruckt; hier bes. S. 23
zur Verwendung privater Geldmittel.
361 FREJFEL’D Iz prošlogo, S. 79. Er betont die „österliche Stimmung“, die sich an solch wohligen Nach­
mittagen im Gefängnis ausgebreitet habe, wenn Tee getrunken wurde und feine Brötchen verspeist
wurden. Wohlhabender waren die „Politischen“ deshalb, weil sie oft von zu Hause unterstützt wurden,
was bei kaum einem Kriminellen der Fall war.
362 FREJFEL’D Iz prošlogo (okončanie), S. 97, und die literarisierte Umsetzung desselben Sachverhalts bei
MELSCHIN Im Lande 2, S. 136f. Weitere Ausführungen zum schwierigen Verhältnis zwischen den bei­
den Häftlingsgruppen im Abschnitt „‚Politische‘ und Kriminelle“ in diesem Kapitel (S. 95).

76

4.2. Die Katorga-Gesellschaft: In der Kommune der „Politischen“

und in Qualität und Quantität eher dürftig. Grundnahrungsmittel war Roggen- und
Schwarzbrot, das in ausreichender Menge zur Verfügung stand – wenn es auch, wie Kon
bemerkt, oft zu wenig gebacken war363 –, sowie Gerstenbrei (kaša) oder Brühe aus wech­
selnden Produkten (Kohl, Fleisch oder Fleischresten). Letztere, im Gefängnisjargon ba­
landa genannt, war nicht selten auch mit Ungeziefer wie Wanzen (klopy), Asseln (mo­
kricy) oder Kakerlaken durchsetzt.364 Dem politischen Gefängnis an der Kara, das Mitte
der 1880er Jahre, wie erwähnt, überbelegt war, eilte schon in den Etappengefängnissen
der Ruf voraus, nur magere Kost aufzutischen. Die Versorgungslage war schlecht, und
dem Gefängnis fehlte es an Mitteln; Ausschüttungen an die Häftlinge zur Essensaufbes­
serung sollen zuweilen auch unterschlagen worden sein.365 A. Pribyleva, die damals an
der Kara einsaß, schreibt, dass das Frauengefängnis den Männern materielle Hilfe gebo­
ten habe, weil diese Hunger gelitten hätten.366 Auch Kon und Deutsch stimmen grund­
sätzlich in diesen Tenor ein; viele seien nach dem Essen weiterhin hungrig gewesen, zu­
mal das mit der Brühe mittags gekochte Fleisch erst abends in eine Mahlzeit verarbeitet
worden sei. Wenigstens gab es stets genügend Brot für alle.367 Gleichzeitig aber erstaunt
Deutsch mit seiner Schilderung der Wochenend- und Festtagsmahlzeiten, die das Bild
vom hungrigen Häftling relativiert. Für den Samstag sparten die Köche (die sich im Tur­
nus aus der Gemeinschaft rekrutierten) unter der Woche Fleisch auf, um jedem eine
große, fleisch- und reisgefüllte Teigtasche (pirog) zubereiten zu können, die manchen
auch noch am Sonntag zu essen gab. Leo Deutsch hält aber fest: „Nur an den großen
Festtagen aßen wir uns satt.“ Dann wurden Koteletts, Braten und Weißbrot aufgetra­
gen.368 Trotz der gelegentlichen Ausschweifungen fehlten auf dem Speisezettel vor allem
die Frischprodukte und damit die Vitamine; das führte zu Krankheitsfällen, namentlich
zu Skorbut. Auch bei Deutsch wurde Skorbut diagnostiziert, worauf er während einiger
Zeit täglich ein mit viel Knoblauch gekochtes Kotelett als Krankenkost bekam.369 Zeit­

363 KON Pod znamenem, S. 273. Orlov, Ob Akatue, S. 110, lobt hingegen das Brot ausdrücklich (1890er
Jahre).
364 Orlov, Ob Akatue, S. 110, zu den Kakerlaken in der Kohlsuppe (šči). Vgl. MOŠKINA Katorga, S. 36f.,
und KACZYNSKA Gefängnis, S. 100. Während Moškina die ungenügende Kost erwähnt, schreibt KAC­
ZYNSKA, das Essen in den sibirischen Gefängnissen sei zwar eintönig gewesen, habe aber verhältnismä­
ßig reichlich zur Verfügung gestanden. Die balanda wurde auch im Gulag zum Synonym für die La­
gerkost. APPLEBAUM Gulag, S. 206, schreibt über das „Symbol balanda“: „The vast Gulag literature
contains many varied descriptions of camps, and reflects the experience of a wide range of per­
sonalities. But one aspect of camp life remains consistent from camp to camp, from year to year, from
memoir to memoir: the description of the balanda, the soup that prisoners were served once or some­
times twice a day.“ – Die Voraussetzungen für die Verpflegung und diese selbst lassen sich allerdings,
auch hier, nicht unbesehen mit der Katorga vergleichen.
365 MOŠKINA Katorga, S. 37.
366 PRIBYLEVA Moi vospominanija, S. 148.
367 KON Pod znamenem, S. 273, und DEUTSCH Sechzehn Jahre, S. 212f. Nicht alle, so Deutsch, hätten aber
so viel Brot essen wollen oder essen können.
368 DEUTSCH Sechzehn Jahre, S. 212f. (Zitat 213). Für die Festtage wurden sowohl die individuellen Zu­
schüsse als auch das Essensbudget überhaupt erhöht.
369 DEUTSCH Sechzehn Jahre, S. 230. Vgl. auch KON Pod znamenem, S. 273, der ergänzt, der Arzt – bzw.
ein medizinisch ausgebildeten Mitgefangener – habe wenig gegen den Skorbut ausrichten können.
Deutsch genas allerdings.

77

OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN Mitteilung Nr. 56

weilig war es den Gefangenen in Kara gestattet, einen Gemüsegarten im Hof zwecks
Verbesserung der Gesundheitslage zu besorgen.370
Offiziell stand zu Beginn des 20. Jahrhunderts jedem nicht arbeitenden Häftling –
und das war die Mehrheit371 – in der Nerčinsker Katorga eine klar definierte tägliche Ra­
tion zu.372 Allerdings entsprach diese, nach den Berichten zu urteilen, mehr dem Regle­
ment als der Wahrheit. In Mal’cevskaja war die Kost zumeist dürftig und oft knapp be­
messen. In der Regel wurde mittags eine balanda mit verfaultem Kohl und ein wenig
angefaultem Fleisch oder Kartoffeln geschöpft, zum Abendessen gab es wässrigen
Buchweizenbrei; mittwochs und freitags wurde Erbsen-, Fisch- oder Bohnensuppe ge­
kocht.373 Weil die Küche dort von den ugolovnye betrieben wurde, mussten die „Poli­
tischen“ darauf achten, sich nicht nur buchstäblich mit Wasser abspeisen zu lassen. Das
Schwarzbrot verschmähten die Gefangenen zumeist, auch wenn sie noch hungrig waren,
und gaben es den Kriminellen weiter. Sie erhielten jedoch manchmal vom Gefängnisdi­
rektor Weißmehl, um sich weißes Brot backen zu können.374
Die Beurteilung der Verpflegung war allerdings primär eine Frage des Standpunkts.
Während Fanni Radzilovskaja und Lidija Orestova das Essen als schlecht taxieren,
nennt es Irina Kachovskaja, die zur selben Zeit in Mal’cevskaja lebte, „erträglich“; die
Frauen seien jung und gesund gewesen, und mehr als die Qualität der Speisen habe die
Quantität eine Rolle gespielt – was darauf schließen lässt, dass es aus ihrer Sicht genü­
gend zu essen gab. Die Kommune ergänzte den offiziellen Speiseplan zuweilen mit zu­
sätzlichem Gemüse, Brei oder mit Kartoffeln; Kranke erhielten auch Milch, Fleisch oder
Butter. Nach der Auflösung des Frauengefängnisses von Mal’cevskaja 1911 und der
Verlegung der „Politischen“ nach Akatuj, erwähnt Kachovskaja, hätten sie allerdings
Hunger gelitten.375
Der differenzierte Blick auf die Verpflegungssituation legt mithin ein widersprüchli­
ches Bild offen. Wie aus den Berichten hervorgeht, war die Kost eher knapp denn reich­
lich bemessen, und die Eintönigkeit der Speisen und vor allem das Fehlen von Frisch­
produkten beeinträchtigten das Wohlbefinden stark. Kaczynska ortet besonders hierin
einen wesentlichen Unterschied zu den damaligen westeuropäischen Strafanstalten, in
denen auch Früchte, Milchprodukte oder Eier Bestandteil der Verpflegung gewesen sei­
en.376 Vor dem Hintergrund der bäuerlichen Lebenswelten des ausgehenden 19. und be­
ginnenden 20. Jahrhunderts in Russland präsentiert sich die Kost in der transbaikali­
schen Katorga allerdings in einem nochmals anderen Licht. Denn der Speiseplan der
370 MOŠKINA Katorga, S. 37f.
371 Vgl. auch die Ausführungen im Abschnitt „Arbeiten in der Katorga“ in diesem Kapitel (S. 86).
372 Nach den Angaben bei RADZILOVSKAJA/ORESTOVA Katorga, S. 23f., setzte sich diese Ration folgender­
maßen zusammen; 1 zolotnik (zol.) entspricht 4,26 Gramm: 2¼ Pfund Brot, 32 zol. Fleisch, 18 zol.
Grütze, 24 zol. Kartoffeln, 8 zol. Salz, 2¼ zol. Fett, 3 zol. Zwiebeln, 1 zol. Tee, ⅓ zol. Pfeffer für 10
Personen, ¼ zol. Lorbeerblätter für 10 Personen, 24 zol. Kohl.
373 Die Fastengebote des Kirchenjahres bestimmten mithin auch den Alltag im Gefängnis. Vgl. für die
bäuerliche Lebenswelt GOEHRKE Alltag 2, S. 195f., und die Ausführungen im Abschnitt „Bildungs­
aktivitäten“ in diesem Kapitel (S. 102).
374 RADZILOVSKAJA/ORESTOVA Katorga, S. 24.
375 RADZILOVSKAJA/ORESTOVA Katorga, S. 23, und KACHOVSKAJA Iz vospominanij, S. 75.
376 KACZYNSKA Gefängnis, S. 100.

78

4.2. Die Katorga-Gesellschaft: In der Kommune der „Politischen“

bäuerlichen Bevölkerung glich sehr stark jenem der Katorga – auf ihm figurierten zur
Hauptsache Schwarzbrot, Kohlsuppe, Grützbrei, Teigtaschen und zunehmend Kartof­
feln. Fleisch kam nur sehr selten auf den Tisch oder wurde in Form von günstigem Pö­
kelfleisch zuweilen der Suppe beigegeben.377 Im Katorga-Gefängnis gab es jedoch, wie
die Ausführungen gezeigt haben, regelmäßig Fleisch, wenngleich oft von mangelhafter
Qualität.378 Auch wenn das Essen im Gefängnis wohl qualitativ schlechter war, bewegte
sich die Kost im Rahmen dessen, was zumindest auf dem Land zum Alltag gehörte – zu
einem Alltag freilich, der den meisten politischen Katorga-Sträflingen sehr fremd ge­
wesen sein muss, weil sie landadligen oder, zur Hauptsache, städtischen Milieus ent­
stammten. Dass sie, überdies, auf das dunkle Brot lieber verzichteten, als es selbst zu es­
sen, mutet mit Blick auf die Lagerwelten des 20. Jahrhunderts, in denen es zuweilen
nichts anderes als Brot zu essen gab, fast schon frivol an.379
4.2.2. Politische und soziale Brüche
Das Leben in der Kommune wurde nicht überall gleich restriktiv aufgefasst. Im Frauen­
gefängnis von Mal’cevskaja (in der Zeit nach 1907) stand alles, was in diesen verlore­
nen Winkel Transbaikaliens gelangte, auch alle persönlichen Geschenke und Bücher,
generell der ganzen Gemeinschaft zur Verfügung.380 Sogar als eine der „Politischen“ ein­
mal von Verwandten aus Italien eine Torte zugeschickt bekam, erhielt jede der Insassin­
nen ein ganz kleines Stückchen davon, das überdies äußerst sättigend war. Dass das Pro­
dukt eigentlich zuvor noch hätte gebacken werden müssen, erfuhren die Frauen – zum
Amüsement aller – erst in einem späteren Brief.381 Das politische Gefängnis in Nižnjaja
Kara (zweite Hälfte 1880er Jahre) definierte die Kommune weniger strikt. Bei persönli­
chen Paketen mit Büchern oder Kleidern stand es jedem Kommunarden frei, die Gegen­
stände in den Besitz der Allgemeinheit zu überführen oder sie für sich selbst zu behal­
ten. Bücher sollten aber, auch wenn sie Eigentum eines Gefangenen blieben, allen zu­
gänglich sein.382 Nach den Ausführungen Deutschs war „das Bestreben nach Gleichheit

377 GOEHRKE Alltag 2, S. 194f. Einschlägige Untersuchungen zeigen, dass die – hart arbeitende – Landbe­
völkerung genügend Kalorien zu sich nahm, wie Carsten Goehrke ausführt. Wie noch zu zeigen sein
wird, beschränkte sich in der Katorga die schwere Arbeit auf ausgewählte Gefängnisse und Zeiträume.
Vgl. dazu und zum Verhältnis von Verpflegung und Arbeitsleistung den Abschnitt „Arbeiten in der
Katorga“ (S. 86).
378 ORLOV Ob Akatue, S. 110, bemerkt für die 1890er Jahre in Akatuj, auf das Fleisch hätten viele ver­
zichtet, weil es zumindest im Sommer oft halb verdorben gewesen sei.
379 Vgl. zur Bedeutung der Brotration im Gulag die Ausführungen bei APPLEBAUM Gulag, S. 213–215.
380 RADZILOVSKAJA/ORESTOVA Katorga, S. 23: „Wir lebten im buchstäblichen Sinne des Wortes gemein­
schaftlich. Alle erhaltenen Geldmittel, Päckchen und Bücher wurden allgemeiner Besitz und gingen in
den allgemeinen Gebrauch über.“ – Grigorij Kramarovs Bemerkung, die Intensität der kommunalen
Organisation sei nirgendwo größer gewesen als in Gornyj Zerentuj 1907, ist demnach zu relativieren.
Dort ging, ebenso wie in Mal’cevskaja, alles, was an Mitteln und Gegenständen eintraf, in den Besitz
der Kommune über, vgl. KRAMAROV Kommuny, S. 135.
381 RADZILOVSKAJA/ORESTOVA Katorga, S. 26.
382 KON Pod znamenem, S. 268. DEUTSCH Sechzehn Jahre, S. 237, erwähnt den „Generaldivisor“ jeder
Kammer, der dafür zuständig war, die Gegenstände gerecht zu verteilen. Zu den Büchern und Gefäng­
nisbibliotheken vgl. die Ausführungen im Abschnitt „Bildungsaktivitäten“ in diesem Kapitel (S. 102).

79

OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN Mitteilung Nr. 56

in jeder Hinsicht bei vielen sehr stark entwickelt“, Egoismus dagegen sehr selten.383
Ähnliches berichten auch Radzilovskaja und Orestova; die Kommune habe bis zuletzt
gehalten, wenngleich es immer wieder Tendenzen zu Individualisierung gegeben habe.384
Politische und soziale Gräben taten sich allerdings auch in den Kommunen auf und
rücken das Bild von der innigen Gemeinschaft etwas zurecht. Politisiert wurde auf zwei
Ebenen. Zum einen rangen die Häftlinge immer wieder um die „Konstitutionen“ ihrer
Kommunen, politisierten also primär im Rahmen ihrer Gemeinschaft; zum andern tru­
gen sie politische Auseinandersetzungen aus, in denen es um grundlegende staats- und
wirtschaftspolitische Ansichten ging und soziale und generationsbedingte Unterschiede
eine Rolle spielten. Oft mischten sich beide Ebenen, bestimmte das zweite Feld das ers­
te. Leidenschaftlich muss man sich beide Diskussionen vorstellen – so leidenschaftlich
wie in der Auseinandersetzung außerhalb der Gefängnisse. Kon erzählt die Geschichte
zweier in der Küche beschäftigter Mithäftlinge, die so echauffiert über den richtigen
Umgang mit dem Kapitalismus in Russland diskutierten, dass die Suppe an jenem Mit­
tag noch wässriger als sonst wurde, weil die Disputierenden sich nicht mehr auf ihre ei­
gentliche Aufgabe konzentrierten.385
Innerhalb der Kommune des politischen Gefängnisses in Nižnjaja Kara wurden die
zu verteilenden Ämter in geheimer Wahl bestellt. Nur zwei Posten in der Kommune
wurden durch diese Wahlen, die alle sechs Monate stattfanden, besetzt – der Bibliothe­
kar und der starosta. Während die Position des Bibliothekars zwar wichtig, aber mit kei­
nerlei Tücken behaftet war, hatte der Vorsteher der Kommune eine delikate Rolle aus­
zufüllen. Er war, wie Kon treffend bemerkt, „Außenminister“ und hatte in dieser Funkti­
on die Häftlinge gegenüber dem Kommandanten zu vertreten, musste aber zugleich
auch die wirtschaftlichen Verhältnisse der Sträflingsgemeinschaft überwachen. Eine
Person unter den Gefangenen zu finden, die beides beherrschte und auch gewillt war,
die verantwortungsvolle Aufgabe zu übernehmen, war nicht einfach.386 Ebenso wurde
über „Verfassungsänderungen“ abgestimmt. „Oft gab es aus diesem Anlass heftige De­
batten; es bildeten sich Parteien, die einander bekämpften, kurz, es spielte sich alles ab
wie in einem Parlament“, schreibt Deutsch.387 Das galt auch für die Wahlen zum Kom­
munen-Vorsteher; diese interessierten auch die Administration, da sie Aufschluss über
die Stimmung unter den Gefangenen geben konnten.388
Die politischen und sozialen Veränderungen in der revolutionären Bewegung färbten
auf die Auseinandersetzungen innerhalb der Kommunen ab. Nicht ohne Grund nannte
Kon für sich selbst das Gefängnis an der Kara ein „Archiv der Revolutionäre“ und frag­
te sich, wie er sich unter den einst bewunderten Koryphäen des politischen Kampfes
wohl zurechtfinden werde.389 Die katoržane, die Mitte der 1880er Jahre dort einsaßen,
383 DEUTSCH Sechzehn Jahre, S. 237.
384 RADZILOVSKAJA/ORESTOVA Katorga, S. 26.
385 KON Pod znamenem, S. 270–272.
386 KON Pod znamenem, S. 269, und DEUTSCH Sechzehn Jahre, S. 210.
387 DEUTSCH Sechzehn Jahre, S. 210. Die „Verfassung“ differierte andernorts, so in Mal’cevskaja, von
Kammer zu Kammer, war also nicht allgemeingültig für die ganze Kommune, vgl. KACHOVSKAJA Iz vo­
spominanij, S. 81.
388 KON Pod znamenem, S. 269f.
389 KON Pod znamenem, S. 258f.

80

4.2. Die Katorga-Gesellschaft: In der Kommune der „Politischen“

als er und seine Gefährten eintrafen, entstammten einer anderen revolutionären Genera­
tion – jener der „Narodnaja volja“ – und anderen sozialen Verhältnissen. Sie begegne­
ten den Neuankömmlingen, die als Mitglieder der polnischen Organisation „Proletariat“
verhaftet worden waren, deshalb zuerst eher reserviert und interessierten sich für deren
Erfahrungen in Polen nicht sonderlich; vor allem aber fürchteten sie, die neuen jungen
Häftlinge brächten durch ihren proletarischen sozialen Hintergrund das Gefüge in Nižn­
jaja Kara durcheinander.390 Pribyleva hebt hervor, wie sehr sie und ihre Mitgefangenen,
vor allem Natalja Armfel’d, im Frauengefängnis des Kara-Tals nach einem harmoni­
schen Umgang ohne politische Dispute gestrebt hätten.391 Auf Vorbehalte stieß bei seiner
Ankunft in Nižnjaja Kara auch der sozialdemokratisch-marxistische Deutsch, ein An­
hänger Plechanovs; er gehörte einer damals erst aufkommenden politischen Richtung an
und wurde noch belächelt.392 Das waren jedoch, auf parteitheoretischem Feld, nur die
Vorboten einer Entwicklung, die im Zuge der Marxismus-Rezeption in den neunziger
Jahren an Boden gewann und durch die Parteigründungen gefestigt wurde.393 Weiterrei­
chend waren die Folgen der Revolution von 1905 für die Politisierung der Katorga. Nun
stieg nicht nur die Zahl der Häftlinge in kurzer Zeit drastisch an; auch machte sich der
Widerstreit zwischen den Sozialdemokraten (SD) und den (terroristischen) Sozialrevo­
lutionären (SR) bemerkbar, der zusätzlich von sozialen Spannungen überlagert wurde.394
Ein Beispiel dafür liefert die Situation im kommunalen Leben von Gornyj Zerentuj in
der Zeit zwischen 1907 und 1910. Grigorij Kramarov, ein Sozialdemokrat und ganz of­
fensichtlich aus dem proletarischen Milieu stammend, schildert, wie die vor allem aus
(parteilosen) Matrosen, Soldaten und Arbeitern zusammengesetzte, anscheinend vor­
bildlich funktionierende Kommune unter Druck gekommen sei, als sie durch sozialrevo­
lutionäre Intellektuelle „mittel- und kleinbürgerlicher“ Provenienz verstärkt Zuwachs er­
halten habe.395 Gestritten wurde zum einen um die Verwendung von Geldmitteln eines
„konspirativen Fonds“, mit dem Fluchtpläne unterstützt wurden. Die neu dazuge­
stoßenen Sozialrevolutionäre, die eine stattliche Geldsumme mitbrachten und nun auch
über deren Bestimmung mitreden wollten, und Teile der Sozialdemokraten waren der
Meinung, nicht jeder habe das Recht, von dem Fonds Gebrauch zu machen, sondern nur
jene, die dessen „würdig“ seien – deren Flucht, anders gesagt, den politischen Zielen
dienlich sei.396 Zum andern war die Frage der Verwendung von Paketen an die Mitglie­
der der Kommune Grund für den Zwist; eine Minderheit wollte es den einzelnen Kom­
munarden überlassen, wie sie damit verfahren wollten. In der Folge spaltete sich die Ge­
meinschaft in eine „große“ und eine „kleine“ Kommune („bol’šaja i malaja kommu­
ny“) auf, wobei sich in der ersten die Mehrheit der (parteilosen) Soldaten, Matrosen und
Arbeiter und in der zweiten die Angehörigen der Intelligenz und einige der Proletarier
sammelten. Wegen der ungleichen Vermögensverteilung – die „kleine Kommune“ hatte
390 KON Pod znamenem, S. 261–263.
391 PRIBYLEVA Moi vospominanija, S. 143.
392 DEUTSCH Sechzehn Jahre, S. 199f. Vgl. zu Plechanov Kap. 2.2 mit Fußnote 111 (S. 25).
393 Vgl. dazu die Ausführungen im Kap. 2.3 (S. 31).
394 Vgl. auch Kap. 3.1.3 mit Fußnote 174 (S. 41).
395 KRAMAROV Kommuny, S. 135f.
396 KRAMAROV Kommuny, S. 136. Dieser Meinung schloss sich prinzipiell auch Kramarov an, obwohl er
das Ansinnen der Sozialrevolutionäre verurteilte. Vgl. auch die Ausführungen im Kap. 4.6.4 zur
Flucht (S. 127).

81

OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN Mitteilung Nr. 56

mehr Mittel für den Alltag, vor allem zur Aufbesserung des Essens, zur Verfügung als
die größere, weniger wohlhabende Gruppe – kam es zu Spannungen. Nur der „gemein­
same Feind“, die Gefängnisadministration, wirkte einigend, so dass die beiden Kommu­
nen nach rund einem Jahr wieder zusammenfanden.397
Vladimir Pleskov, der zur selben Zeit in Gornyj Zerentuj einsaß und später in der Ge­
sellschaft der ehemaligen politischen Zwangsarbeiter und Verbannten eine aktive pu­
blizistische Rolle wahrnahm, kritisiert allerdings in einem seiner memoiristischen Auf­
sätze Kramarovs Darstellung, vor allem die angeblich herausgestellte Dichotomie zwi­
schen Parteigängern und Parteilosen.398 Väterlich-herablassend und doch verständnis­
voll-wohlwollend äußert er sich über den unterschiedlichen Politisierungsgrad der par­
teilosen Soldaten, Matrosen, Arbeiter und lettischen Agrarier, bei denen er, ganz im Sin­
ne der sozialdemokratischen Parteilinie, Mangel an langfristigem Denken diagnostiziert.
Eine scharfe Trennlinie sieht Pleskov zwischen den Parteien; den Sozialrevolutionären
wirft er „intellektuellentypische Selbstverliebtheit“ und Egoismus vor. Insgesamt aber
relativiert er die Spannungen insofern, als auch er die Geschlossenheit gegenüber der
Gefängnisobrigkeit hervorhebt.399
Die soziale und die politische Dimension wird, mit unterschiedlicher Akzentuierung,
in diesen Erinnerungsberichten gleichermaßen betont. Die eine Ebene zeigt sich in der
Vermögenslage wie auch in der Herkunft und dem Bildungsstand; die andere ist vor al­
lem mit einer Spitze gegen die Sozialrevolutionäre versehen, die politisch weniger ein­
flussreich waren, aber durch ihre Terroranschläge Bekanntheit erlangten und nach der
Oktoberrevolution 1917 ins Abseits gedrängt wurden. Wenngleich Kramarov und Ples­
kov den gemeinsamen, partei- und fraktionsübergreifenden Kampf gegen das Regime
der Administration herausstreichen, war die Bedeutung, welche die Parteipolitik auch
hinter den Gefängnismauern einnahm, bemerkenswert groß.400
Auch sie variierte allerdings von Gefängnis zu Gefängnis. Zur selben Zeit, da in Ze­
rentuj, nach den Zeugnissen Teleskops, Kramarovs und anderer zu urteilen, die poli­
tischen Strömungen und die soziale Herkunft von Belang waren und innerhalb der Häft­
lingsgemeinschaften zu Fraktionierungen führten, herrschte diesbezüglich in Mal’cevs­
kaja nach der Einschätzung Irina Kachovskajas unter den dort einsitzenden weiblichen
Katorga-Häftlingen eine versöhnliche, unaufgeregte Stimmung.401 Die Mehrzahl der
Frauen entstammte den Reihen der Sozialrevolutionäre, es gab aber auch einige Sozial­
397 KRAMAROV Kommuny, S. 137–139.
398 PLESKOV V gody, S. 142–147.
399 PLESKOV V gody, S. 145f.
400 Beide Selbstzeugnisse sind ein typisches politisiertes Produkt der zwanziger Jahre: Noch werden die
Sozialrevolutionäre erwähnt, aber klar negativ dargestellt; die eher antiintellektuelle Haltung, vor al­
lem Kramarovs, wird deutlich, aber auch die Distanz der Parteivertreter zum „unterentwickelten“
Volk. Das ist quellenkritisch zu berücksichtigen. Erkennbar bleibt, dass die PSR-Mitglieder nicht ein­
fach eine Randexistenz in der politischen Katorga führten; in den Reihen der Gesellschaft der ehe­
maligen politischen Zwangsarbeiter und Verbannten gab es alles – Sozialrevolutionäre, Menschewiki
und Bolschewiki. Die spätere sowjetische Katorga-Forschung hingegen bleibt bis zuletzt der Ächtung
der PSR durch die Bolschewiki treu und marginalisiert deren Bedeutung. Vgl. auch der Hinweis in
der Fussnote 173.
401 KACHOVSKAJA Iz vospominanij, S. 83.

82

4.2. Die Katorga-Gesellschaft: In der Kommune der „Politischen“

demokratinnen, Anarchistinnen und Maximalistinnen.402 Die politischen Auseinanderset­
zungen, die in Russland zwischen den beiden Blöcken SR und SD vor allem um die
Agrarfrage heftig ausgetragen wurden, fanden im Gefängnis keinen Widerhall; die Vor­
aussetzungen für eine seriöse Beschäftigung damit fehlten. Zu politischen Fraktionie­
rungen kam es daher nie, politische Diskussionen fanden kaum statt. Nur insofern, als
der Hass auf die Regierung stetig angewachsen sei, habe die Politik im Gefängnis eine
Rolle gespielt, schreibt Kachovskaja.403 Ihre Feststellung, es habe keine sozialen Un­
ebenheiten gegeben und die gemeinsame sozialistische Ideologie habe alle Mitglieder
der Kommune nivelliert,404 teilten jedoch nicht alle ihrer Mitgenossinnen in Mal’cevska­
ja. Paulina Metter, die im Frühjahr 1907 zu der bereits bestehenden Kommune in Mal’­
cevskaja stieß und kaum Russisch sprach, fühlte sich als erklärte Proletarierin fremd,
einsam, minderwertig und unwohl unter den mehrheitlich intellektuellen Mitgefange­
nen.405 „In kurzer Zeit erkannte ich den Grund meiner Einsamkeit, verstand ich, dass das
Klassenzwist ist“,406 schreibt sie, und sie fühlte sich den Proletariern von Gornyj Zeren­
tuj und deren abgespaltener Kommune im Geiste sehr verbunden, als sie durch einen
Brief Egor Sazonovs an das Frauengefängnis von den dortigen, sozial (und parteipoli­
tisch) grundierten Auseinandersetzungen hörte.407 Als im Laufe des Jahres weitere Häft­
linge proletarischer Herkunft in Mal’cevskaja eintrafen, fühlte sich Metter besser aufge­
hoben und lernte rasch russisch lesen, schreiben und sprechen.408 Soziale Differenzen,
die sich in den Zellen bemerkbar machten, gab es aber bereits in Nižnjaja Kara. Als Leo
Deutsch auf eigenen Wunsch die Kammer wechselte, fand er sich in einer anders struk­
turierten Zelle wieder, deren Insassen anderen sozialen Schichten entstammten. „In die­
ser Kammer war das Treiben ein ganz anderes als in der ‹Adelskammer›“, hält er fest.
Statt dem Literaturstudium gab man sich hier dem Handwerk hin.409
Inwieweit die ideologische Fundierung zu einer Homogenisierung der Häftlingsge­
sellschaft beitrug, ist fraglich. Die gemeinsame politische Vergangenheit und der Kampf
gegen die zarische Macht schufen eine gewisse gegenseitige Vertrautheit, wie sie man­
402 Kachovskaja gibt an, dies habe überhaupt den Verhältnissen in der Katorga entsprochen. Eine Statis­
tik für Mal’cevskaja über die Parteizugehörigkeit bestätigt das, vgl. RADZILOVSKAJA/ORESTOVA Svedeni­
ja, S. 227. Demnach entstammten insgesamt 36 Inhaftierte den Reihen der Sozialrevolutionäre und
nur 10, aufgeteilt auf Bolschewiki, Menschewiki und Polen/Litauer, den Sozialdemokraten; der jüdi­
sche Bund war mit 2 Insassinnen vertreten. Die zweitgrößte Gruppe (13 Insassinnen) zählte sich zu
den Anarchisten. Die Maximalisten, zu den SR gehörend, akzeptierten deren Maximalforderungen als
einziges Ziel (GARMIZA/ŽUKOV Maksimalisty, S. 255).
403 KACHOVSKAJA Iz vospominanij, S. 83.
404 KACHOVSKAJA Iz vospominanij, S. 84.
405 METTER Stranička, S. 95f.
406 METTER Stranička, S. 96.
407 METTER Stranička, S. 96. Gemeint ist die oben beschriebene Kommunenspaltung. Egor Sazonov, der
das Attentat auf den russischen Innenminister Pleve, die Symbolfigur des zarischen Repressionsstaa­
tes, verübt hatte, verbüßte im Katorga-Gefängnis Zerentuj seine Strafe.
408 METTER Stranička, S. 97.
409 DEUTSCH Sechzehn Jahre, S. 226. In Nižnjaja Kara hatte jede der vier Zellen eine besondere Bezeich­
nung – „Synedrion“, „Dvorjanka“ („Adelskammer“), „Jakutka“, „Volost’“ (eigentlich Bezeichnung
für einen Amtsbezirk, bei Deutsch mit „Dorf“ übersetzt). Wie es zu diesen Namen kam, weiß DEUTSCH
ebd., S. 202, auch nicht zu berichten. „Synedrion“ kommt vom griechischen Wort συνέδριον für „Rat,
Sitzung, Beratung“.

83

OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN Mitteilung Nr. 56

che der Ankömmlinge in Transbaikalien fanden. Diese war aber vielfach gebrochen: po­
litisch, weil sich die Parteien teilweise trotz ähnlichem Hintergrund an kleineren und
größeren ideologischen Fragen heftig rieben; sozial, weil die Herkunft der Re­
gimegegner zusehends disparater wurde und in der klassenkämpferisch aufgeladenen
Stimmung, wie die Beispiele aus Zerentuj und Mal’cevskaja zeigen, nicht überbrückt
werden konnte; und, den vorliegenden Quellen gemäß nur sehr am Rande, national, weil
die Nationalitätenfrage im Zarenreich, auch durch die Russifizierungspolitik, stetig an
Virulenz gewann.410 Generell verstärkte sich die Heterogenität der Katorga-Gesellschaft
im Laufe der Jahrzehnte zwischen dem Ende der 1870er Jahre und 1917, insbesondere,
wie bereits dargelegt, im Zuge der Revolution von 1905.411 Die politische Gegnerschaft
zum herrschenden System allerdings einte zuletzt doch über die mannigfachen Spaltun­
gen hinweg, und die Bedeutung des Kollektivs vor dem Individuum nahm zu. Beides
zusammen manifestierte sich vor allem im Protestpotential.412
4.2.3. Beständige Nähe – die allwissende Kommune
Um der Kommune für einen Moment zu entfliehen und die Gedanken für sich zu haben,
blieb wenig Raum, außer beim Hofgang. Der Auslauf war im zeitweiligen Gefängnis für
„Politische“ in Srednjaja Kara Anfang der 1880er Jahre und während der Anfangszeit in
Mal’cevskaja sogar sehr großzügig bemessen, indem die Häftlinge jederzeit in den Ge­
fängnishof gehen konnten.413 Aber das war die Ausnahme. Auf die Dauer machte die be­
ständige Nähe der katoržane zueinander das Gefängnisleben zur Tortur. „Schon längst
ist jeder dem anderen zuwider geworden“, schreibt Deutsch, „man mag nicht einmal die
410 Vgl. KACZYNSKA Gefängnis, S. 183f. Die Frage der Nationalität der Häftlinge wird in den Erinnerungs­
berichten nur selten thematisiert. KON Pod znamenem, S. 260f., schreibt im Zusammenhang mit der
politischen Haltung über seine polnische Herkunft (vgl. auch weiter oben). KACHOVSKAJA Iz vospomi­
nanij, S. 83, erwähnt die verschiedenen Nationalitäten in Mal’cevskaja (Russen, Juden, Letten, Geor­
gier, Polen), die problemlos zusammenlebten; auch Sobol’, Otryvki, S. 161, berichtet vom friedlichen
Zusammenleben verschiedenster Nationalitäten (Großrussen, Weißrussen, Burjaten, Mordwinen, Ju­
den, Armenier, Baschkiren) im Katorga-Zentralgefängnis Aleksandrovsk bei Irkutsk; ROJTMAN Tjur’­
ma, S. 169, erwähnt seinen eigenen jüdischen Glauben. Die Schilderungen muten beinahe idyllisch
an. Zur Nationalitätenproblematik im ausgehenden Zarenreich vgl. HAUMANN Geschichte, S. 392–395.
411 Vgl. auch Anna Geifmans Ausführungen zum Wandel der Revolutionäre, die nach ihrer Beurteilung
zunehmend selbstgerechter agierten, immer weniger Rücksicht auf Verluste nahmen und zuweilen
zwischen Revolution und Verbrechertum oszillierten, GEIFMAN Introduction, S. 6–8. Das hatte auch
Folgen für die Katorga-Gesellschaft, denen gesondert nachzugehen wäre, was hier zu weit führen
würde.
412 Der Umstand, dass es sich bei den Gefängnisinsassen um erklärte Regimegegner handelte, die zudem
oftmals ideologische Gemeinsamkeiten aufwiesen, unterscheidet die Katorga-Gesellschaft wesentlich
vom Gulag. Der gemeinsame Nenner der Häftlinge des Archipels war unendlich viel kleiner als jener
der katoržane des ausgehenden Zarenreichs. Zum Protestpotential in der Katorga vgl. Kap. 4.6 (S.
115).
413 In Srednjaja Kara war, wie LEVČENKO Pobeg, S. 55, berichtet, die Wache bis auf die Morgen- und
Abendkontrollen außerhalb des Hofes stationiert, so dass sich die Häftlinge tagsüber jederzeit im Hof
aufhalten konnten. Ähnlich in Mal’cevskaja bis 1908, vgl. RADZILOVSKAJA/ORESTOVA Katorga, S. 29,
und PIROGOVA Na ženskoj katorge, S. 150. Pirogova lobt dies ganz besonders und schreibt: „Das wert­
vollste an dieser Freizügigkeit war, dass ihr [sic] in den Hof des Gefängnis hinaus springen und die
frische Luft einatmen, auf die Hügel blicken konntet.“ (Ebd.; wahrscheinlich muss es im Original statt
vy (ihr) my (wir) heißen).

84

4.2. Die Katorga-Gesellschaft: In der Kommune der „Politischen“

Gesichter mehr sehen, man möchte davonlaufen und sich vor allen verstecken.“414 Denn
zur problematischen Seite des gemeinschaftlichen Lebens gehörten nicht nur die politi­
schen Auseinandersetzungen mit den Spaltungstendenzen als Folge; mindestens ebenso
sehr – zumal phasenweise und in den politisch ruhigeren Katorga-Gefängnissen, wo die
Konfrontation mit der Administration nicht im Vordergrund des Alltags stand415 – wurde
die Unentrinnbarkeit vor den Augen der andern und die andauernde Unterordnung der
persönlichen Bedürfnisse unter die Regeln der Gemeinschaft zur Belastung. Das habe,
gerade bei den „aktivsten Naturen“, nicht selten instinktiv zur Auflehnung gegen die
von der Gruppe verfügten Rahmenbedingungen geführt, bemerkt Kachovskaja.416 Sie
stellt aber gleichzeitig fest, dass sich im Verlaufe der Zeit diese emotionalen Ausbrüche
und der individuelle Widerstand gegen die Zwänge des Zusammenlebens gelegt hätten,
und begründet dies mit dem Gefängnisdasein, das bei allen zu einer gewissen Anglei­
chung der Stimmung geführt habe.417 Man mag darin auch eine Portion Resignation er­
kennen angesichts der Unverrückbarkeit der Umstände. Durch die Gemeinschaftszellen
und die Kommune war selbst jener schmale Rest individueller Lebensgestaltung, wie er
im gegebenen Rahmen des Strafvollzugs überhaupt noch möglich war, dem Kollektiv
untergeordnet; Kachovskaja drückt es so aus:
„Grundsätzlich kann man festhalten, dass das Gefängnis, die allgemeine Zelle fast bei al­
len die Unmittelbarkeit tötete, umso mehr, als der analytische Teufel jeden Schritt, jede
einfachste und natürlichste Handlung einer Genossin der sorgfältigsten Analyse und Kri­
tik unterzog.“418

Als in Akatuj 1914 nur noch zehn weibliche Katorga-Häftlinge einsaßen, wurden sie in
Einzelzellen untergebracht. Obwohl diese ursprünglich als Karzer gebaut worden waren
und entsprechend klein – ein Stuhl, ein Hocker und ein Bett füllten den Raum praktisch
aus – und im Winter besonders kalt waren, empfand Antonija Pirogova die neue Un­
terkunft als Erholung. Nach Jahren der unauflöslichen Nähe zu ihren Mitgefangenen
hatte sie das Leben plötzlich wieder für sich allein.419 Auch die Gemeinschaftszellen und
die starken Bande unter den Häftlingen, bedingt durch die Kommune, waren mithin von
Ambivalenz geprägt. Diese Umstände bereiteten, einerseits, eine Atmosphäre, in der die
Gefangenen sich gegenseitig trugen und sich gegenseitig halfen, den eintönigen Alltag
zu bewältigen und Tiefpunkte zu ertragen; sie lebten eine Gemeinschaft, in der jeder
von den raren Freuden eines jeden ein Stück mitbekam. Nie wäre eine derartige Nähe
und Verbundenheit unter den Umständen der Freiheit möglich gewesen, schreiben Rad­
zilovskaja und Orestova; sogar die persönlichsten Briefe wurden vorgelesen – jeder
414 DEUTSCH Sechzehn Jahre, S. 233.
415 Das galt, wie im Zusammenhang mit den Auseinandersetzungen zwischen den „Politischen“ und der
Administration noch darzulegen sein wird (vgl. Kap. 4.6, S. 115), größtenteils für die Zeit zwischen
1882 und 1889 und mit Einschränkungen (härteres Regime im „Mustergefängnis“ Akatuj) auch für
die 1890er Jahre sowie später, während der unruhigeren Phasen nach 1905, für einzelne Gefängnisse
wie Mal’cevskaja.
416 KACHOVSKAJA Iz vospominanij, S. 81. Vgl. auch RADZILOVSKAJA/ORESTOVA Katorga, S. 34, zu diesem
Umstand.
417 KACHOVSKAJA Iz vospominanij, S. 81.
418 KACHOVSKAJA Iz vospominanij, S. 81.
419 PIROGOVA Na ženskoj katorge, S. 166f.

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OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN Mitteilung Nr. 56

nahm Anteil an allem.420 In der alles umfassenden Nähe lag, anderseits, auch die Ursache
für vielerlei Belastungen, gerade weil alles öffentlich war – Kachovskajas „analytischer
Teufel“ war ubiquitär. Diese Belastungen, kombiniert mit den ganz offensichtlichen, un­
ausweichlichen Zeichen der Gefangenschaft (die Gendarmen, die Kontrollen), machten
sich auch gesundheitlich bemerkbar. Viele litten unter starker nervlicher Anspannung
und großer Reizbarkeit, so dass es für einen Eklat nur wenig brauchte.421
Die Monotonie des Alltags, die manchen Häftling einst schon in der Butyrka zum
Aufbruch nach Osten gedrängt hatte, beförderte die Spannungen. „Einförmig und trüb­
selig“ nennt Leo Deutsch das Leben in Nižnjaja Kara;422 aber an anderer Stelle meint er,
versöhnlicher, weniger kritisch: „Überhaupt war bei uns Arbeit und Spiel, Ernst und
Scherz nah beieinander, und in dieser Beziehung hatte unser Treiben viel gemeinsam
mit dem Leben in einer Erziehungsanstalt […].“423 Auch Stepan Bogdanov konnte 1882
im vorübergehenden politischen Gefängnis von Ust’-Kara den Umständen durchaus Po­
sitives abgewinnen. Da die Häftlinge in Einzelzellen untergebracht waren, diente der
Flur als Ort der Geselligkeit und des Ausruhens; hier aßen die Gefangenen zusammen
und tranken Tee, und hier gab es gar ein Trapez für Gymnastikübungen.424 Als ödes Da­
sein ohne Abwechslung, in dem Kleinstes plötzlich unverhältnismäßige Wichtigkeit er­
langt, schildern dagegen Fanni Radzilovskaja und Lidija Orestova den Alltag von Mal’­
cevskaja.425 Und Antonija Pirogova fühlte sich, am selben Ort, wie in einem Kloster.426 In
einem Kloster hätte sie jedoch vermutlich einer Arbeit nachgehen können; Arbeit aber
gehörte nur phasenweise und an bestimmten Orten in der Welt der Katorga zum Alltag –
in Mal’cevskaja, unter anderem, nicht.
4.3. Arbeiten in der Katorga
Die Verurteilung zu Katorga bedeutete ihrem Grundsatz nach, in die lebenslange Ver­
bannung zu Jahre dauernder Zwangsarbeit geschickt zu werden, in die ferne, „andere
Welt“. Auch davon gibt es, vielfach ersonnen und auch photographisch festgehalten,
Bilder: von Häftlingen, die, an Schubkarren gekettet oder einfach mit Pickel und Schau­
fel bewehrt, ihrer Arbeit in den Bergwerken nachgehen müssen oder, etwas weniger prä­
sent, an den Trassen der Transsibirischen Eisenbahn Schwellen verlegen.427 Mit seinem
berühmten Sendschreiben „Vo glubine sibirskich rud“ („In den Tiefen sibirischer Erz­
gruben“) an die Dekabristen in Transbaikalien trug Aleksandr Puškin zum Bild der Kat­
orga als Ort der Schwerarbeit wesentlich bei. Die Vorstellung entbehrt auch nicht der
420 RADZILOVSKAJA/ORESTOVA Katorga, S. 37.
421 DEUTSCH Sechzehn Jahre, S. 234. Er berichtet von einem Zwist unter zwei befreundeten Gefangenen
um eine Eierschale, der schließlich im Zerwürfnis der beiden endete. Vgl. auch ORLOV Ob Akatue, S.
110, der die nervliche Anspannung als die größte Belastung bezeichnet; zusammenfassend MOŠKINA
Katorga, S. 38, über die nervliche Zerrüttung vieler Langzeitgefangener unter den Bedingungen der
Gemeinschaftszellen und des Regimes.
422 DEUTSCH Sechzehn Jahre, S. 233.
423 DEUTSCH Sechzehn Jahre, S. 212.
424 BOGDANOV Smert’, S. 106.
425 RADZILOVSKAJA/ORESTOVA Katorga, S. 46. Vgl. die Ausführungen im Kap. 4.5 (S. 102).
426 PIROGOVA Na ženskoj katorge, S. 150.
427 Vgl. die Bilder im Anhang (S. 161).

86

4.3. Arbeiten in der Katorga

Richtigkeit. Katorga bedeutete Zwangsarbeit, und das Russische Reich hatte die Schau­
plätze des Strafvollzugs nicht grundlos im silbererzreichen Nerčinsker Kreis und in der
Goldlagerstätte des Kara-Tals konzentriert.428 Aber die Vorstellung ist fern der Wirklich­
keit des ausgehenden Zarenreichs. Die damalige Katorga kann, soweit sie die politi­
schen Häftlinge betraf, nicht grundsätzlich mit Zwangsarbeit gleichgesetzt werden –
weil die katoržane in den letzten vierzig Jahren des Imperiums nur während insgesamt
rund anderthalb Jahrzehnten überhaupt für Arbeiten eingesetzt wurden.
4.3.1. Zwangsarbeiter ohne Arbeitsmöglichkeiten im Kara-Tal
Das Problem der Arbeit für politische Katorga-Häftlinge war in erster Linie ein Problem
der Organisation und stand in engem Zusammenhang mit den Haftbedingungen. Seit der
Konzentration der politischen Sträflinge im Kara-Tal zu Beginn der 1870er Jahre wur­
den diese, auf Anweisung des zuständigen Generalgouverneurs, für Arbeiten bei der
Goldgewinnung eingesetzt. In den Gefängnissen getrennt von den kriminellen KatorgaHäftlingen untergebracht, leisteten sie die Arbeit jedoch mit diesen in Arbeitskollekti­
ven zusammen. Das barg ein Potential an Friktionen in sich, weil die Mehrzahl der da­
maligen „Politischen“ schwere körperliche Arbeit nicht gewohnt war und die Arbeits­
leistung, die den Kollektiven zugewiesen wurde, oft nicht genügend erfüllen konnte.
Den Aufsichtsorganen war es überdies im Grunde suspekt, den politischen Gefangenen
so viel Auslauf zu gewähren, den diese, wie sie fürchteten, zur Beeinflussung der Krimi­
nellen und zur Flucht hätten nutzen können. 429 Organisatorisch war die Katorga-Verwal­
tung allerdings nicht in der Lage, die beiden Häftlingskategorien für die Arbeit vonein­
ander zu trennen; dafür fehlten, wie aus einem Bericht des Generalgouverneurs für Ost­
sibirien, Anučin, vom März 1882 hervorgeht, die geeigneten Arbeitsplätze ebenso wie
die Ressourcen für die Bewachung der katoržane.430 Bei diesem Bericht handelte es sich
nicht um eine Empfehlung, sondern um eine Feststellung bereits nach der Aufhebung
der Arbeitsmöglichkeiten für die „Politischen“ denn nach einer Reihe von Hafterleichte­
rungen durch den damaligen Kommandanten der Gefängnisse von Kara, Oberst Kono­
novič, der sich damit bei den politischen Häftlingen beliebt gemacht hatte, 431 nicht aber
bei den höheren Stellen,432 wurde auf Betreiben des Innenministers Loris-Melikov Ende
1880 das Regime gegenüber den „Politischen“ verschärft. Waren sie bis dahin nur be­
züglich ihrer Unterkunft von den kriminellen Sträflingen getrennt gewesen und hatten
sie ansonsten dieselben Rechte wie diese genossen, etwa für vorzeitige Entlassung aus
der Haft ins „Freie Kommando“, wurden sie ab 1881 im Gefängnis isoliert, was mit der
428 Vgl. die Ausführungen zur Geschichte der (politischen) Katorga und zur Diskussion um das Ver­
bannungssystem in den Kap. 3.1 (S. 35) und 5 (S. 137).
429 MOŠKINA Katorga, S. 20. Vgl. auch KLER Karijskaja katorga, S. 218f.
430 Der Bericht ist bei KENNAN Siberia II, S. 227–229, in englischer Übersetzung wiedergegeben.
431 BOGDANOVIČ Posle pobega, S. 73, nennt Kononovič einen „humanen, ehrlichen und gebildeten Men­
schen“. Fast gleich würdigt ihn KENNAN Siberia II, S. 206–208, nämlich als „a highly educated, hu­
mane, and sympathetic man, who is still remembered by many a state criminal in Eastern Siberia with
gratitude and respect“. Auch ŽUKOV Iz nedr, S. 63 und 67, nennt Kononovič „human“ und äußert sich
wohlwollend über ihn, wenngleich er dessen Entourage kritisiert.
432 ŽUKOV Iz nedr, S. 63f.

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OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN Mitteilung Nr. 56

Überführung ins neu errichtete eigene politische Gefängnis 1882 vervollständigt wur­
de.433 Es mutet einigermaßen paradox an, dass die politischen Zwangsarbeiter durch die­
se Verschärfungen zum Müßiggang (höchstens leichte Arbeit innerhalb der Gefängnis­
mauern war möglich) gezwungen wurden, obwohl schwere körperliche Arbeit ur­
sprünglich zum Grundverständnis der Katorga-Strafe gehört hatte, und man muss es
wohl als Unvermögen des Verbannungssystems werten, wenn es nicht in der Lage war,
die Voraussetzungen dafür zu bereiten.
Für die katoržane bedeutete das Ende der Arbeitsmöglichkeiten außerhalb des Ge­
fängnisses insofern einen tiefen Einschnitt, als die beständige Nähe und die Monotonie
des Alltags überhaupt erst jene im vorangegangenen Kapitel beschriebenen Folgen zei­
tigten, dazu noch, etwa bis Mitte der achtziger Jahre, unter einem harschen Regime.
Auch wenn Kennan vermutlich allzu euphorisch urteilt, wenn er von „Freude“ bei den
Sträflingen im Zusammenhang mit der Arbeit vor 1881 spricht, trifft seine Einschät­
zung, wonach die Arbeit als Abwechslung und als Möglichkeit, der stickigen Ge­
fängnisluft zu entfliehen, positiv gewertet wurde, sicherlich zu.434 Das jedenfalls geht aus
den Erinnerungsberichten der Periode kurz vor der Veränderung der Situation 1880/81
hervor. In der Regel leisteten die „Politischen“ Erdarbeiten oder Zuarbeiten für die
Goldgewinnung; im Winter ruhte die Arbeit.435 Die Schilderungen über die damals ver­
richteten Arbeiten und deren Umstände sind allerdings wenig gehaltvoll.
In seinem bereits zitierten Bericht vom März 1882 kommt auch Anučin, obwohl ein
Verfechter der getroffenen Entscheidungen, zum Schluss, die Haftumstände seien pro­
blematisch, ja „unerträglich“; er konstatiert das Auftreten von Selbstmorden und schwe­
re Fälle von psychischer und nervlicher Schwäche als Folge der fehlenden Arbeitsmög­
lichkeiten, ohne jedoch Schritte dagegen zu unternehmen.436 Ähnliche Beobachtungen
notierte auch Alfred Graf Keyserling, der mit den „Politischen“ direkt nichts zu tun hat­
te. Er schildert beredt ihre Verdammung zur Untätigkeit, die sich in Nervosität, Hysterie
und Zwietracht untereinander äußerte und mitunter zu absurden Spielchen mit den Gen­
darmen führte. Aus den Zeilen spricht keine besonders hohe Achtung für die politischen
Häftlinge, sondern eher eine Form von Mitleid.437 Die letztlich der mangelnden Fähig­
keit, die (politische) Katorga im Kara-Tal effizient und den Bedürfnissen entsprechend
zu gestalten, zuzuschreibende Situation schuf die Voraussetzung für Fluchtversuche –
wie im Mai 1882 – und, später, für Proteste. Erst 1890 aber, nach der als „Tragödie von
Kara“ in die Geschichte eingegangenen Auflehnung, beschritten die politisch und admi­
nistrativ Verantwortlichen einen neuen Weg.438 Die Isolierung der „Politischen“ in ihrem
Gefängnis in Nižnjaja Kara unter separater, direkt Petersburg unterstellter GendarmerieBewachung wurde nun als „Privilegierung“ der politischen Häftlinge gegenüber den
Kriminellen beurteilt. Das Kara-Tal wurde für „Politische“ geschlossen; in Akatuj, im
433 LEVČENKO Pobeg, S. 56, und BOGDANOVIČ Posle pobega, S. 73f. Vgl. auch KENNAN Siberia II, S. 208f.,
MOŠKINA Katorga, S. 24f., ŽUKOV Iz nedr, S. 68. Der Vorgang war mit Protesten der Häftlinge verbun­
den.
434 KENNAN Siberia II, S. 207.
435 LEVČENKO Pobeg, S. 56f., und BOGDANOVIČ Posle pobega, S. 73. Vgl. auch MOŠKINA Katorga, S. 20.
436 Zit. KENNAN Siberia II, S. 228f.
437 KEYSERLING S. 29–32.
438 FOMIN Katorga, S. 16. Vgl. Kap. 4.6 (S. 115).

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4.3. Arbeiten in der Katorga

Nerčinsker Kreis südlich der Šilka, sollten politische und kriminelle Katorga-Sträflinge
gemeinsam und gleichgestellt leben und arbeiten.
4.3.2. „Mustergefängnis“ Akatuj: Die Rückkehr zur Zwangsarbeit
Mit der Verlagerung des Schwerpunkts der politischen Katorga brachte das Jahr 1890
eine Wende in der Katorga-Politik für das transbaikalische Strafvollzugsgebiet und da­
durch auch eine Wende für die Situation der politischen Häftlinge. Seit Mitte der acht­
ziger Jahre war im Zuge der Gefängnisreformen der Versuch unternommen worden, die
Bedingungen in der Katorga zu vereinheitlichen. Die Sonderstellung der politischen
Katorga an der Kara passte daher nicht mehr ins Bild.439 Im Widerspruch zur Haltung der
Verantwortlichen zu Beginn des Jahrzehnts, die, wie aus dem Bericht Anučins hervor­
geht, in der Isolierung und, mangels organisatorischer Alternativen, im erzwungenen
Müßiggang der „Politischen“ das Heil sahen, erhofften sich deren Nachfolger am Ende
der achtziger Jahre gerade von der Egalisierung der Lebensumstände und von der
Zwangsarbeit aller Häftlinge eine Verbesserung des bis anhin unbefriedigenden Straf­
vollzugs. Zudem wurde die Gendarmerie ihrer Zuständigkeit für das politische Gefäng­
nis an der Kara entbunden, was organisatorisch eine Voraussetzung für die Zusammen­
führung der „Politischen“ und der Kriminellen in einer Strafanstalt darstellte. Während
die Gleichstellung der Gefangenenkategorien (und deren Zusammenleben) die Ein­
engung der Freiräume der „Politischen“ im Gefängnis bewirken – das Verbot der indi­
viduellen Essensaufbesserung ist ein Beispiel dafür – und für eine Neukonstituierung
der Katorga-Gesellschaft sorgen sollte,440 wurde auf die Arbeitsmöglichkeiten nun be­
sonderer Wert gelegt, da erst die Bereitstellung von genügend Arbeit, heißt es in einem
von der Gefängnishauptverwaltung und dem Polizeidepartement gemeinsam verfassten
Papier, zu einer Veränderung führe.441 Die Wende von 1890 bedeutete mithin eine Rück­
kehr zur Zwangsarbeit, deren Begriff für die politischen Häftlinge zur Farce geworden
war.
Das abgelegene Akatuj sollte als „Mustergefängnis“ für den neuen Strafvollzug die­
nen; es hatte sich einst durch die Härte des Strafvollzugs einen besonders üblen Ruf er­
worben und war zwischen 1875 und 1890 nicht mehr genutzt worden.442 In den Bergen
der linken Talflanke befanden sich die Stollen des Silberbergwerks, das ebenfalls jahre­
439 MOŠKINA Katorga, S. 28–30, und FOMIN Katorga, S. 16f. Vgl. Kap. 3.1, besonders Abschnitt 3.1.2 (S.
38) mit Fußnote 167. Die Einschätzung Keyserlings, S. 30f., wonach für die Wende in der KatorgaPolitik die „Nörgeleien“ der Gendarmerieverwaltung verantwortlich gewesen seien, die versucht habe,
politische Häftlinge an der Kara in laufende Verfahren gegen die revolutionäre Bewegung zu verwi­
ckeln, um sich selbst bei der Strafverfolgung herauszuheben, klingt vor dem bedeutend komplexeren,
in den Rahmen der Gefängnisreformen des ausgehenden Zarenreichs sowie der Missstände in Nižnja­
ja Kara (keine Arbeit, Isolierung) zu stellenden Hintergrund des Politikwechsels reichlich fragwürdig.
440 Vgl. dazu die folgenden Ausführungen im Kap. 4.4 (S. 95).
441 Der Bericht ist, leider ohne genaue Datierung, bei FOMIN Katorga, S. 17–19, wiedergegeben.
442 KACZYNSKA Gefängnis, S. 107, schreibt über Akatuj: „In Akatui wurden diejenigen zu Tode gequält,
die man für immer aus der Gesellschaft ausschließen wollte […]“ Vgl. auch KENNAN Siberia II, S.
286f. Bei dessen Besuch im Winter 1885/86 war bereits absehbar, dass sich die Regierung mit dem
Gedanken der Wiedereröffnung des damals geschlossenen Gefängnisses trug. ČUJKO God, S. 106, zi­
tiert den Gefängnisdirektor Archangel’skij, der Akatuj „beispielhaft für die ganze Katorga“ nannte.

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OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN Mitteilung Nr. 56

lang still gelegen hatte und dessen Schächte sich in der Zwischenzeit mit Wasser gefüllt
hatten.443 Nun sollten die Insassen des Gefängnisses von Akatuj die Mine wieder in Be­
trieb nehmen. Bei den Planungen der neuen Ausgestaltung der Katorga-Strafe für „Poli­
tische“ gingen die Verantwortlichen laut dem oben zitierten Dokument davon aus, dass
nicht alle katoržane, die bisher in Nižnjaja Kara einsaßen, für die schwere Arbeit taug­
lich sein würden; auch dies rechtfertigte in ihren Augen den Zuzug von genügend krimi­
nellen Sträflingen, deren körperliche Leistungsfähigkeit grundsätzlich nicht in Zweifel
gezogen wurde und welche die Erfüllung der Normen sicherstellen sollten.444 Auch der
Vorsteher der Gefängnishauptverwaltung, Galkin-Vraskij, erklärte anlässlich eines Be­
suchs in Akatuj, der Arbeitseinsatz der Sträflinge bringe der Mine keine Rentabilität, sei
aber ein Mittel zur Besserung der Gefangenen.445 Inwieweit er sich dabei auf die
Zwangsarbeit generell bezog oder nur auf die Leistungen der politischen Häftlinge, geht
aus der bei Orlov zitierten Aussage nicht hervor. An der Wirtschaftlichkeit der Berg­
werksbetriebe im Nerčinsker Kreis zweifelte jedenfalls auch Harry De Windt, und
George Kennan war angesichts der technischen Hilfsmittel, die zur Ausbeutung der Res­
sourcen zur Verfügung standen, entsetzt – wobei es jedoch seinen amerikanischen Hin­
tergrund zu berücksichtigen gilt.446
Die Arbeit, welche die Häftlinge in den Stollen zu verrichten hatten, war hart. Vor al­
lem die Bohrarbeiten erforderten einen großen Krafteinsatz, die nötige Geschicklichkeit
bei der praktischen Arbeit und auch einige Übung; der mechanische Bohrer musste an
der richtigen Stelle angesetzt und mit einem starken Schlag in die Gesteinsschicht ge­
trieben werden, die hier hauptsächlich aus Granit bestand. Pro Tag sollte ein Loch von
10 veršok gebohrt werden.447 Waren zehn bis zwölf Bohrlöcher vollendet, führte der ver­
antwortliche Aufseher eine Sprengung mit Dynamitpatronen durch.448 Während einige
Häftlinge sich rasch an die Bohrarbeit oder an das Wegschaufeln des beim Bohren und
Sprengen anfallenden Gesteins gewöhnten, fehlte es anderen an der nötigen Kraft, so
dass sie – wie Petr Jakubovič-Mel’šin oder Vasilij Čujko – zeitweise als Hilfskräfte dem
Schmied zugeteilt wurden, der die stumpf gewordenen Bohrer schärfen oder neue her­
stellen musste.449 Obwohl die schwere Arbeit den politischen Häftlingen in der Regel
größere Mühe bereitete als den ugolovnye, die körperlich anstrengende Tätigkeiten aus
ihrem Vorleben eher gewohnt waren, waren die „Politischen“, nach ihrer eigenen Dar­
stellung, nicht einfach die schlechteren Arbeiter – im Gegenteil. Die Arbeitsmoral der
443 ČUJKO God, S. 108f.
444 FOMIN Katorga, S. 17f. Das Bergwerk war, wie alle Bergwerke des Nerčinsker Kreises, Kabinetts­
besitz.
445 ORLOV Ob Akatue, S. 109.
446 DE WINDT Siberia, S. 279, erwähnt vor allem die geringe Menge des ausgebeuteten Erzes, während
KENNAN Siberia II, S. 298, sich über die Primitivität der Einrichtungen auslässt. Vgl. auch die Ausfüh­
rungen zur Diskussion über das Verbannungssystem im Kap. 5 (S. 137).
447 ČUJKO God, S. 109f., und ORLOV Ob Akatue, S. 109. 1 veršok entspricht 4,4 Zentimetern (HOFFMANN
Einführung, S. 204).
448 ČUJKO God, S. 111.
449 ČUJKO God, S. 110. Vgl. auch MELSCHIN Im Lande 2, S. 5–18, und FREJFEL’D Iz prošlogo (okončanie),
S. 89. Der Schmied hatte wenig Freude an den ihm zugeteilten „Politischen“, weil er verbotenerweise
nebenher auf eigene Rechnung arbeitete und die politischen Häftlinge dabei für ihn unangenehme Be­
obachter waren.

90

4.3. Arbeiten in der Katorga

Kriminellen war sehr gering; sie bemühten sich mehr darum, Arbeit vorzutäuschen als
welche zu leisten.450 Daher wurden die verantwortungsvollsten Aufgaben in den Stollen
den tüchtigsten und zuverlässigen „Politischen“ übertragen, wie Orlov vermerkt.451 Ge­
fährlich war die Bergwerksarbeit vor allem wegen den Sprengungen, heimtückisch we­
gen den klimatischen Bedingungen. In den Stollen war es im Sommer beständig feucht,
so dass sich beispielsweise Jakubovič eine schwere Gelenkrheumatismus-Erkrankung
zuzog, die zu seinem frühen Tod nach der Freilassung beitrug.452 Orlov empfand daher
die Arbeit im Winter als angenehmer, weil es tief unter der Erde warm und trocken
war.453 Trotz der nicht zu unterschätzenden körperlichen Beanspruchung bedeutete die
Möglichkeit, arbeiten zu können, den katoržane sehr viel. Čujko schreibt es sehr deut­
lich:
„Die Regierung verstand schwerlich, dass sie uns, indem sie uns zusammen mit den Ver­
brechern zu arbeiten verpflichtete, und überdies zu schwerer Arbeit, einen unschätzbaren
Dienst erwies [und] dass gerade schwere Arbeit unsere Rettung war. Eingesperrt in Zel­
len zusammen mit Verbrechern, hätten wir uns zweifellos physisch und moralisch
schrecklich gefühlt. […] Der Berg bewahrte unsere Gesundheit, unseren Geist.“ 454

Wenngleich gerade der letzte Satz mit Blick auf jene, die sich ernsthafte, das weitere
Leben einschränkende Krankheiten in den Schächten zuzogen, zu relativieren ist, bestä­
tigt diese Aussage doch die Einschätzung Kennans, ehemaliger Häftlinge und selbst des
Generalgouverneurs Anučin, dass die erzwungene Untätigkeit im nicht dafür ausgeleg­
ten Gefängnis im Kara-Tal die psychische und physische Integrität der Insassen stark be­
einträchtigt habe.455 Die gemischten Zellen aus „Politischen“ und Kriminellen verschärf­
te in Akatuj die Lage zusätzlich. Die organisatorischen Mängel im Verbannungssystem
wurden aber insofern nicht ausgemerzt, als es den Behörden nicht gelang, genügend Ar­
beitsplätze für die Gefangenen zur Verfügung zu stellen; es war den lokalen Verant­
wortlichen nicht möglich, mit Eigeninitiative Arbeitsressourcen freizusetzen, die es un­
zweifelhaft gegeben hätte.456
450 MELSCHIN Im Lande 1, S. 108–114, schildert die ersten Arbeitstage im Bergwerk von Akatuj, als des­
sen Stollen erst von Wasser befreit werden mussten. Die Kriminellen richteten es sich gemütlich ein
und gaben nur vor, Arbeit geleistet zu haben. ČUJKO God, S. 109, berichtet ebenfalls davon und er­
wähnt, die ugolovnye hätten mit dem Aufseher eine möglichst geringe Arbeitsleistung auszuhandeln
versucht. Auch ORLOV Ob Akatue, S. 109, schreibt von unehrlichen Arbeitspraktiken der kriminellen
Zwangsarbeiter.
451 ORLOV Ob Akatue, S. 109.
452 MELSCHIN Im Lande 2, S. 334. Jakubovič lag längere Zeit im Krankenbett und ging nach dem Aus­
bruch der Krankheit nicht mehr in den Stollen. Er starb 1911 51-jährig, vgl. die biographische Notiz
in MELSCHIN Im Lande 2, S. 459–461.
453 ORLOV Ob Akatue, S. 109.
454 ČUJKO God, S. 112.
455 Nach seinem Besuch im Nerčinsker Kreis südlich der Šilka (Akatuj, Algači, Pokrovskoe, Alek­
sandrovskij Zavod und andere), wo zu jener Zeit noch keine politischen Häftlinge untergebracht war­
en, kommt Kennan nochmals auf die verfügte Untätigkeit im Kara-Tal zurück und erklärt, trotz dem
schlechten Ruf des Nerčinsker Kreises habe bei ihm dieser wegen der Arbeitsmöglichkeiten einen
besseren Eindruck hinterlassen als das Kara-Tal, vgl. KENNAN Siberia II, S. 305: „It is not very pleas­
ant, of course, to work eight oder ten hours every day in a dump or icy gallery 300 feet underground;
but even such employment is, I think, less prejudicial to health than unbroken confinement in a dirty,
overcrowded, and foul-smelling convict prison.“

91

OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN Mitteilung Nr. 56

Arbeitsmöglichkeiten gab es in den neunziger Jahren nicht allein in den Minen, ob­
schon die Mehrzahl zumindest der politischen Häftlinge in die Berge geschickt wurde.
Auch der Gefängnisgarten wurde von Häftlingen bestellt. Einige bevorzugten jedoch
trotz der frischen Luft die Bergwerksarbeit, weil die Aufsicht dort von Vertretern der
Bergwerksbehörde wahrgenommen wurde, zu der ein gutes Verhältnis bestand,457 wäh­
rend bei den Gartenarbeiten die weniger beliebten Gefängnisaufseher das Regiment
führten.458 Gefangene waren überdies in Werkstätten beschäftigt; dort wurden in Akatuj
unter anderem die Bücher und abonnierten Journale des Gefängnisdirektors Archan­
gel’skij gebunden, allerdings hauptsächlich von kriminellen Sträflingen; andernorts,
etwa in Gornyj Zerentuj, gab es eine Schreinerei.459 Weil die wirtschaftlichen Funktionen
der transbaikalischen Katorga aber nur schwach ausgeprägt waren, fehlte, im Unter­
schied zu den Lagerwelten des 20. Jahrhunderts, ein differenziertes Feld von Tätigkei­
ten, die besonders qualifizierten Häftlingen offengestanden wären und eine Alternative
zur körperlichen Schwerarbeit dargestellt hätten. Einzig in Ausnahmefällen griff die lo­
kale Gefängnisadministration auf speziell ausgebildete Gefangene zurück. Lev Frejfel’d,
der einige Semester Medizin studiert hatte, bevor er verhaftet worden war, und der be­
reits auf dem Weg in die Katorga medizinische Hilfe geboten hatte, arbeitete zwar wie
die meisten andern „Politischen“ im Schacht, wurde aber zusehends als ärztlicher Bera­
ter, einerseits für die kranke Gattin des Gefängnisdirektors und anderseits auch bei
Krankheitsfällen unter den Häftlingen, hinzugezogen, da es in Akatuj keinen ständigen
Arzt gab. Als er nach Gornyj Zerentuj versetzt wurde, weitete sich sein medizinisches
Tätigkeitsgebiet rasch aus, und er stieß auch jenseits der Gefängnismauern auf große
Anerkennung.460
4.3.3. Arbeiten in den letzten Jahren der transbaikalischen Katorga
Das Strafvollzugskonzept von 1890, das der Arbeit wieder zu einem zentralen Bestand­
teil der Zwangsarbeitsstrafe in Transbaikalien verhelfen sollte, scheiterte zum einen an
der Unfähigkeit der Gefängnisbehörden in Organisationsfragen; die Arbeitsmöglichkei­
ten blieben eingeschränkt, die geleistete Arbeit war wenig effektiv, und die Gefahr von
Fluchtversuchen blieb ein mit den zur Verfügung stehenden Ressourcen anscheinend
nicht zu lösendes Hindernis – vor allem für den Einsatz politischer Häftlinge außerhalb
der Strafanstalten. Zum andern stellten die Konjunkturen der Häftlingszahlen eine Be­
lastung für die transbaikalische Katorga dar. Hatte die Katorga am Ende des 19. Jahr­
hunderts zunächst an Bedeutung im Strafsystem eingebüßt, so war sie ab 1905 mit ei­
nem Zustrom von Verurteilten konfrontiert, der die bestehenden Einrichtungen in Ostsi­
birien in jeder Hinsicht überforderte.461 An Arbeit für alle war nicht zu denken; die poli­
456 Vgl. DE WINDT Siberia, S. 249, und das Gespräch Kennans mit dem Gefängnisdirektor von Algači
(damals noch ausschließlich ein Gefängnis für Kriminelle), der aus Furcht vor der Flucht von Häft­
lingen und wegen fehlender Anweisungen aus Petersburg die Gefangenen der überfüllten Strafanstalt
nicht arbeiten ließ, KENNAN Siberia II, S. 294.
457 Orlov Ob Akatue, S. 110.
458 FREJFEL’D Iz prošlogo (okončanie), S. 100.
459 FREJFEL’D Iz prošlogo (okončanie), S. 98 und 102.
460 FREJFEL’D Iz prošlogo (okončanie), S. 94, 99 und 104f.
461 Vgl. zu den Phasen und Dimensionen Kap. 3.1.3 (S. 41).

92

4.3. Arbeiten in der Katorga

tischen Sträflinge verbrachten den größten Teil ihrer Zeit in den Zellen, wo primär das
geistige Leben den – phasenweise friktionsreichen – Alltag bestimmte.462 Dass auch die
Katorga-Verwaltung den Zustand der fehlenden Arbeit nicht guthieß, geht aus einem
Rapport des damaligen Nerčinsker Katorga-Vorstehers (načal’nik katorgi) Zabello über
die Zustände in Gornyj Zerentuj im Herbst 1910 hervor. Darin würdigt Zabello das Be­
streben des kurzzeitigen Gefängnisdirektors Čemodanov, der mit der Einrichtung von
Werkstätten im Gefängnis den Häftlingen eine Beschäftigungsmöglichkeit geboten hat­
te; dies habe sich auch positiv auf die Atmosphäre im Gefängnis ausgewirkt. 463 In Kuto­
mara betrieben politische Sträflinge, die aus Zerentuj dorthin verlegt worden waren, zur
Freude Čemodanovs anschließend die Werkstätten weiter.464
Abseits der großen Katorga-Gefängnisse kamen in jenen Jahren (nach 1904) in
Transbaikalien beim Bau der Amur-Eisenbahn und in verschiedenen Minen KatorgaSträflinge zum Einsatz. Als Hölle auf Erden, als den grausamen Höhepunkt der Katorga,
beschreibt A. M. Tipunkov die Arbeiten beim Eisenbahnbau. Tagsüber seien die
Zwangsarbeiter den Bremsen, nachts Myriaden von Mücken ausgesetzt gewesen, und
regelmäßig hätten sie sich bei der schweren Arbeit verstümmelt; zudem prangert er die
angeblich außergewöhnliche Grausamkeit der beaufsichtigenden Vollzugsbeamten an.465
In den letzten Jahren der transbaikalischen Katorga veränderte sich die Beschäfti­
gungslage noch einmal. Verantwortlich dafür war kein Umdenken der Katorga-Verwal­
tung oder eine Antwort auf die zuvor hinderlichen Organisationsprobleme, sondern pri­
mär der Ausbruch des Ersten Weltkriegs, der zu einem Mangel an Arbeitskräften führte.
Waren zuvor, von wenigen Ausnahmen abgesehen, kriminelle Sträflinge in die Minen
geschickt worden, traf es jetzt auch „Politische“.466 Das wirtschaftliche Argument ge­
462 Näheres dazu im Kap. 4.5 (S. 102).
463 Der Rapport Zabellos an den Generalgouverneur Kijaško vom 30. November 1910 steht im Zu­
sammenhang mit dem als „Zerentujskaja tragedija“ in die Geschichte eingegangenen Protest in
Gornyj Zerentuj, in dessen Verlauf der Sozialrevolutionär Egor Sazonov, der Attentäter Pleves, ums
Leben kam; abgedruckt bei FOMIN Katorga, S. 32f. Vgl. zu Čemodanov dessen Erinnerungen (ČEMO­
DANOV Katorga, bes. die Kapitel X bis XV zu Zerentuj). Zu Widerstand und Flucht vgl. die folgenden
Ausführungen im Kap. 4.6 (S. 115).
464 ČEMODANOV Katorga, S. 102.
465 TIPUNKOV O tom, S. 130–132. Er bezeichnet die Katorga an der Amur-Bahn als eine Schule der Grau­
samkeit für die Mitarbeiter der Gefängnishauptverwaltung. Der Erinnerungsbericht, der den Memoi­
ren Čemodanovs angefügt ist, soll zweifellos einen Kontrapunkt zu den in ihrem Grundton gegenüber
den Gefängnisbeamten verständlicherweise wohlwollend gehaltenen Schilderungen des ehemaligen
Gefängnisdirektors und Bewachungskommandanten darstellen. In seiner Schärfe ist der Bericht Ti­
punkovs aber innerhalb des hier verwendeten Quellenkorpus unübertroffen, was für die Einordnung
dessen, was er schildert, nicht unerheblich ist. Die Literatur dazu ist widersprüchlich. Während MARKS
Road, S. 181–184, bes. 184, bemerkt, es habe beim Eisenbahnbau weniger Kranke als in den Berg­
werken gegeben, schreibt STOLBERG Raumerschließungsprozesse, S. 322, von „katastrophalen“ hy­
gienischen Verhältnissen und Seuchen.
466 Vgl. etwa GUBEL’MAN Šamanka, S. 180: „Bis zum Jahr 1914 wurden keine Politischen nach Šamanka
geschickt; nur eine sehr kleine Ausnahme wurde für Aufständische gemacht, die bereits in Troick und
anderen Minen gewesen waren. Erst der Mangel an Arbeitskräften 1914, nach der Kriegserklärung,
zwang die Administration, diese Frage zu überprüfen.“ Auch hätten zunehmend gebildete Leute in
den Bergwerken gefehlt. Die Feststellung Ščerbakovs (ŠČERBAKOV Iz istorii, S. 82), nur Soldaten und
Matrosen seien in die Minen geschickt worden, steht zu den zur Verfügung stehenden Quellen im Wi­
derspruch.

93

OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN Mitteilung Nr. 56

wann an Bedeutung. So stand etwa die Mine von Šamanka zwar auch in Kabinettsbe­
sitz, sie wurde aber von einem Pächter betrieben, der auf die Wirtschaftlichkeit der An­
lage angewiesen war.467 Verlangt wurde der volle Einsatz, um die erforderlichen tägli­
chen Normen erfüllen zu können. Dafür begann der Tag noch vor Sonnenaufgang um 3
Uhr 30 und endete um 19 Uhr oder, im Winter, auch nach Sonnenuntergang vor 16 Uhr.
Ein Frühstück mit Tee gab es um 7 Uhr morgens; zwischen 12 und 14 Uhr ruhte die Ar­
beit in der Regel, und das Mittagessen wurde mitunter unter freiem Himmel auf der
Wiese eingenommen.468 Die katoržane waren in Arbeitskollektive (arteli) eingeteilt und
hatten je nach Betrieb unterschiedliche Aufgaben zu bewältigen. In Šamanka mussten
Gubel’man und seine vier Arbeitsgenossen im artel’ drei Kubikmeter Torf oder zwei­
einhalb Kubikmeter Sand pro Tag schaufeln und mit einem Pferdewagen abführen; für
einen Kubikmeter musste dieser rund 25 Fahrten unternehmen.469 In Nižnjaja Borzja, wo
Ivan Starodubcev 1915 eingesetzt war, wurde Tagebau in teilweise gefrorenem Boden
betrieben; das Herausheben der gefrorenen Erde bezeichnet er als „verhältnismäßig
leichte“ Arbeit, wenngleich die Aufgabe den Häftlingen wegen der körperlichen Verfas­
sung nach den Monaten des Nichtstuns doch einiges abverlangt habe.470 In Kazakovo
scheint die Ausrüstung des Bergwerks bemerkenswert gut gewesen zu sein. Aleksandr
Erochov berichtet von elektrischer Belüftung und von Hebemaschinen in Schächten mit
einer Tiefe von 70 bis 80 sažen’.471 Wenngleich die Normen ziemlich groß bemessen
waren und anfangs nur mit Überstunden bewältigt werden konnten, lösten sie auch eine
Art Wettbewerb unter den Arbeitskollektiven aus; keine Gruppe wollte Verspätung oder
Nichterfüllung auf sich sitzen lassen, und so spornten sie sich gegenseitig an, um mög­
lichst früh am Tag den Pflichtteil erledigt zu haben. Für die zusätzliche Arbeit gab es
eine entsprechende Entschädigung.472 Insofern ließen sich die katoržane in die Zwangs­
arbeit willig einspannen. Wer die Norm nicht erfüllte, musste allerdings mit bemerkens­
werten Sanktionen rechnen, wie Erochov berichtet; denn in Kazakovo war die Verpfle­
gung an die Norm gebunden – wer zu wenig leistete, der erhielt eine geringere Ration:
ein Prinzip, das in den sowjetischen Lagern, vielfach verfeinert, zum brutalen Alltag ge­
hörte.473 Interessant ist aber, dass die nächstschärfere Strafe in der Versetzung zurück ins
Gefängnis bestand.474 Die Bedeutung der Beschäftigung war mithin eine gänzlich andere
als in den Lagerwelten des 20. Jahrhunderts, in denen die Häftlinge Ruhe von der Arbeit
suchten, weil diese oft schlicht zerstörerisch war. Wie sehr den Sträflingen daran gele­
gen war, zu den Privilegierten zu gehören, die in der Katorga einer Arbeit nachgehen
konnten, zeigt auch das Beispiel Starodubcevs, der in Nižnjaja Borzja zuletzt als Koch
arbeitete und sich erhoffte, dadurch aus der Masse der Zwangsarbeiter herauszustechen
467 GUBEL’MAN Šamanka, S. 181.
468 STARODUBCEV Na Nižnej Borze, S. 214f., GUBEL’MAN Šamanka, S. 182, und VASIL’EV Promysly, S. 197
und 199. Letzterer arbeitete im Winter 1909/10 in Novotroick, also noch einige Jahre vor Starodub­
cev, Gubel’man und Erochov. Schon damals wurde allerdings auf vergleichbare Art gearbeitet.
469 GUBEL’MAN Šamanka, S. 182.
470 STARODUBCEV Na Nižnej Borze, S. 214.
471 EROCHOV Priiski, S. 210. 1 sažen’ entspricht 2,134 Metern (vgl. HOFFMANN Einleitung, S. 204).
472 Vgl. GUBEL’MAN Šamanka, S. 182, und STARODUBCEV Na Nižnej Borze, S. 214.
473 EROCHOV Priiski, S. 210. Zur Verbindung von Norm und Essensration im Gulag vgl. APPLEBAUM Gulag,
bes. S. 220–227.
474 EROCHOV Priiski, S. 210.

94

4.3. Arbeiten in der Katorga

und im Winter, zurück im Gefängnis, Arbeit in einer Werkstätte zu finden – was ihm
auch gelang.475
Die Essensrationen in den zarischen Minen-Lagern (und um solche handelte es sich,
im Unterschied zu den herkömmlichen Katorga-Gefängnissen) werden in den Erinne­
rungsberichten gewürdigt; auch das ist bemerkenswert. Erochov bekam dreiviertel
Pfund gebratenes Fleisch, eine großzügige Portion Brot, Gemüse und Butter. Starodub­
cevs Mittagessen bestand aus einer Kartoffelsuppe mit einem Pfund Fleisch pro Person,
was bei guter Zubereitung sehr schmackhaft gewesen sein soll, ergänzt mit Brei (kaša),
den es, zum Tee, auch abends gab. Gubel’man spricht ebenfalls von besserem Essen, als
es im Gefängnis geschöpft wurde; ein Pfund Fleisch, ein Pfund Weißbrot, zweieinhalb
Pfund Schwarzbrot, kaša sowie Kartoffeln und Gemüse und an Sonntagen sogar Vodka.
Allerdings reichte die Ration doch nie ganz, so dass die Häftlinge von Frauen aus den
umliegenden Dörfern zusätzliche frische Lebensmittel aus dem erwirtschafteten Geld er­
warben.476
Die harte Arbeit und der Einsatz wurden also mit einigermaßen zufriedenstellender
Verpflegung belohnt. Allerdings gab es auch Betrug auf allen Ebenen; nicht nur Sträf­
linge versuchten, wertvolle Gesteinsbrocken oder Goldklumpen zu unterschlagen, auch
Grubenaufseher und -ingenieure wurden verdächtigt.477 Die Organisation der Arbeit trug,
bei allen Missständen und unerquicklichen Bedingungen, dennoch neue, auf mehr Effi­
zienz ausgelegte Züge, die der Bedeutung der Katorga-Strafe als Verurteilung zur
Zwangsarbeit gerecht wurden. Allerdings unterstand bis zuletzt nur ein Bruchteil der
Katorga-Häftlinge diesem Regime. Dessen Charakter jedoch deutet bereits eine andere,
in der zu Ende gehenden Katorga-Welt noch unvorstellbare Dimension der Zwangs­
arbeit an.
4.4. Die Katorga-Gesellschaft: „Politische“ und Kriminelle
In der Welt der Katorga gab es viele unterschiedliche Welten. Jeder Strafvollzugsort, je­
de Gemeinschaftszelle im Gefängnis bildete einen eigenen kleinen Kosmos, einen eige­
nen, eng begrenzten sozialen Raum; oft waren die politischen und sozialen Brüche
mächtiger als gemeinsame Interessen. Die Welt der „Politischen“ und die Welt der Kri­
minellen blieb auch dann getrennt, wenn jede räumliche Barriere aufgehoben war. Zur
Katorga-Gesellschaft gehören beide Häftlingskategorien gleichermaßen, weil beide auf
ihre Art die Katorga prägten – die ugolovnye durch ihre überwältigende Überzahl und
ihre eigene Lebenskultur, die „Politischen“ durch ihre straffe Ordnung, die Fortsetzung
des politischen Kampfs und der Propaganda auch hinter den Gefängnismauern.478 Diese
475 STARODUBCEV Na Nižnej Borze, S. 217.
476 EROCHOV Priiski, S. 210, STARODUBCEV Na Nižnej Borze, S. 214, und GUBEL’MAN Šamanka, S. 184.
477 STARODUBCEV Na Nižnej Borze, S. 216, berichtet von Verdacht auf Goldhandel mit Harbin; vgl. auch
GUBEL’MAN Šamanka, S. 183.
478 Die „kriminelle“ Katorga stand in der Forschung, namentlich in der sowjetischen (und eine westliche
gab es lange Zeit nur rudimentär), immer im Schatten der „politischen“. Grund dafür war nicht zuletzt
auch die Quellenlage. Als einer der wenigen westlichen Forscher hat Alan Wood dazu Aufsätze publi­
ziert, vgl. WOOD Crime; WOOD Sex and Violence; WOOD ‚Wild East‘. Auch Kaczynska bezieht die bei­
de Gruppen mit ein, vgl. ihr Kapitel zur Verbannung Krimineller (KACZYNSKA Gefängnis, S. 138–160)

95

OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN Mitteilung Nr. 56

zwei Welten innerhalb der einen Gesellschaft blieben zwar getrennt, allen wiederkeh­
renden Versuchen der Gefängnisadministration zum Trotz, die zwei Sphären aufzumi­
schen; aber das bedeutete nicht, dass keine Wechselwirkung und keine Beziehungen
zwischen ihnen bestanden hätten, wenn es auch friktionsreiche waren. Das hat bereits
der Weg in die Katorga gezeigt, und das offenbart sich auch beim Blick auf jene Phasen
der Katorga, in denen die räumlichen Grenzen zwischen den politischen und kriminellen
Häftlingen aufgebrochen waren.
4.4.1. Zwei Welten auf engem Raum
Die Konfrontation der politischen Häftlinge mit dem „Andern“ der Katorga der Krimi­
nellen beschränkte sich in den letzten Jahrzehnten des Zarenreichs oft auf den Weg nach
Osten. Als Feliks Kon und seine Gefährten im Kara-Tal eintrafen, waren sie nicht nur
froh, die beschwerliche Reise hinter sich gebracht zu haben, weil der Marsch von Etap­
pe zu Etappe alle Kräfte abverlangte, sondern auch deshalb, weil nun das beständige Zu­
sammensein mit den gemeinen Verbrechern ein Ende hatte.479 Seit Anfang der 1880er
Jahre waren die zwei Welten in der Katorga an der Kara vollständig räumlich und admi­
nistrativ getrennt; die „Politischen“ saßen in einem eigenen Gefängnis ein und waren
der Gendarmerie (und damit Petersburg direkt) unterstellt, und weil sie jeglicher Ar­
beitsmöglichkeiten außerhalb der hölzernen Palisade beraubt waren, gab es keinerlei
Austausch zwischen den Häftlingsgruppen.480 Mit dem Eintritt in die Welt der Katorga
verschwanden die ugolovnye aus dem Horizont der politischen Sträflinge.
Die Neuorganisation der transbaikalischen Katorga 1890 brachte zwei grundlegende
Zäsuren. Wohl noch einschneidender als die erste – die Verpflichtung zur Arbeit – ver­
änderte die zweite das Leben der „Politischen“: die Gleichbehandlung der beiden Häft­
lingskategorien. Im wiedereröffneten Gefängnis von Akatuj wurden die politischen
Häftlinge, die gegenüber den kriminellen deutlich in der Minderzahl waren, auf die Zel­
len verteilt.481 Die „Politischen“ verloren dadurch die Möglichkeit, ihren auf ihre Be­
dürfnisse ausgerichteten Lebensstil im Gefängnis zu pflegen, und mussten sich mit den
Kriminellen arrangieren. Die Verhältnisse, wie sie auf dem Transport nach Osten
herrschten, traten nun noch potenziert in Erscheinung; in den Etappengefängnissen wa­
und zum Verhältnis „Politische“ – Kriminelle ebd., S. 188–191. Andrew Gentes, dessen Dissertation
zur Geschichte der Verbannung (GENTES Road) leider noch nicht publiziert ist, beschäftigt sich sowohl
mit kriminellen als auch mit politischen Häftlingen.
479 KON Pod znamenem, S. 259.
480 Vgl. zusammenfassend MOŠKINA Katorga, S. 22–24, und die Ausführungen im vorangegangenen Kap.
4.3. (S. 86f.) zum Verhältnis von Arbeitsmöglichkeiten und Haftbedingungen. Die totale Isolierung
betraf in den achtziger Jahren das Gefängnis von Kara; wie KACZYNSKA Gefängnis, S. 189f., schreibt,
existierte im Katorga-Zentralgefängnis von Aleksandrovsk bei Irkutsk zur selben Zeit zwar ebenfalls
eine räumliche Trennung, jedoch innerhalb desselben Gebäudes, so dass Nachrichten zwischen den
politischen und kriminellen Sträflingen zirkulieren konnten. Gänzlich anders präsentierte sich die Si­
tuation auf der Sträflingsinsel Sachalin; vgl. dazu Kap. 4.7 (S. 130).
481 ČUJKO God, S. 105f. Nicht nachvollziehbar ist der Satz bei KACZYNSKA Gefängnis, S. 190: „Am Ende
des 19. Jahrhunderts verringerten sich die Kontakte zwischen beiden Gruppen, da die Transporte an­
ders organisiert wurden und man auch strikter auf gesonderte Unterbringung der politischen Gefange­
nen achtete.“ In den neunziger Jahren war die Nähe, allen gesichteten Quellen nach zu urteilen, be­
sonders groß.

96

4.4. Die Katorga-Gesellschaft: „Politische“ und Kriminelle

ren den politischen Gefangenen eigene Verpflegung und oft getrennte Schlafräume zur
Verfügung gestanden – jetzt konnten sie sich der Gesellschaft der ugolovnye kaum mehr
entziehen. Während in zahlreichen Erinnerungsberichten weniger die Tatsache des ge­
meinsamen Alltags denn die Friktionen als Folgen dieser Nähe beklagt werden, betonen
einzelne „Politische“ gegenüber De Windt ihr Unbehagen über das Zusammenleben mit
brutalen Verbrechern auf engem Raum. Angeführt werden die mangelnde Privatsphäre
und die Nächte, die anscheinend zuweilen – wie bereits unterwegs auf dem Etappenweg
– in Orgien unter den Kriminellen ausarteten.482 De Windt selbst, der dem Verbannungs­
system generell wohlwollend gegenüberstand, findet für die gemeinsamen Zellen über­
raschend deutlich ablehnende Worte. Auch wenn es sich um die gefährlichsten politi­
schen Gefangenen handle, die nach Akatuj geschickt würden, sei es nicht nur „grausam,
sondern auch unnötig“, diesen jegliche Privatsphäre zu nehmen, zumal diese Haltung in
„direktem Widerspruch zum grundsätzlich humanen Modus der Behandlung“ stehe, wie
er ihm aus anderen sibirischen Gefängnissen bekannt sei.483
In Petr Jakubovič-Mel’šins fiktionalisierten „Erinnerungen“ an die Zeit in der Kat­
orga kommt die Ambivalenz von Nähe und Distanz zu den Kriminellen dadurch zum
Ausdruck, dass er sich selbst für die erste Zeit im Gefängnis als der einzige „Politische“
unter vielen Dutzend Verbrechern darstellt und mit dieser – tatsachenwidrigen – Be­
schreibung die Einsamkeit und Fremdheit inmitten der Verbrecherwelt besonders ein­
drücklich herausheben kann.484 Jakubovič arbeitet in seiner literarischen Umsetzung der
Erfahrungen in der gemischten Katorga-Gesellschaft überhaupt die Gratwanderung am
eindringlichsten heraus, welche den Umgang der politischen mit den kriminellen Häft­
lingen auszeichnete. Selbst zuweilen einer Romantisierung der Verbrecherwelt nicht ab­
geneigt, sich aber zugleich seiner eigenen herausgehobenen Stellung bewusst, schwankt
er in seinem Bild von seiner Umgebung zwischen Abscheu und Bewunderung und er­
teilt dem „Gutmenschentum“ gegenüber seinen Mithäftlingen eine Absage. Dass dieses
sogar gefährlich werden konnte, wenn Nähe mit Vertrautheit verwechselt wurde und
Naivität an die Stelle pragmatischer Distanz trat, schildert er am Fall eines politischen
Leidensgenossen, der allzu vertrauensselig war und hernach, nach etwelchen Enttäu­
schungen, mit den Kriminellen nichts mehr zu tun haben wollte – was diese ihm und
überhaupt den „Politischen“ übelnahmen.485 Das Beispiel zeigt, wie sehr die zwei Wel­
482 DE WINDT Siberia, S. 267f.
483 DE WINDT Siberia, S. 281f. Die angeführten Zitate sind aus dem englischen Original übersetzt.
484 Als Beispiel möge der erste Abend nach der Ankunft in „Schelai“ (Akatuj) dienen, der Jakubovič sei­
ne Situation reflektieren lässt (MELSCHIN Im Lande 1, S. 75f.): „Ich aber fand lange keinen Schlaf. Ich
grübelte, ich dachte darüber nach, wohin ich geraten war und was mich in Zukunft erwartete; aber am
meisten quälte mich der Gedanke an meine Einsamkeit mitten in dieser Menschenmenge, an meine
besondere Situation. Allein der heutige Abend und die soeben gehörten Gespräche genügten, um zu
begreifen, welch ungeheurer Unterschied zwischen ihnen und mir, einem gebildeten Menschen, in den
Ansichten über das Leben, über menschliche Würde bestand.“
485 Die Schilderungen ziehen sich über viele Dutzend Seiten hinweg. Den Wandel ‚Walerjan Baschu­
rows‘ (vermutlich M. Stojanovskij; dieser kam nämlich zusammen mit Frejfel’d nach Akatuj, als der
bei Jakubovič-Mel’šin ‚Dmitri Schtejngart‘ zu identifizieren ist, der mit ‚Baschurow‘ in „Schelai“ ein­
traf) belegen dessen naiv-positive Haltung gegenüber den Kriminellen einerseits (MELSCHIN Im Lande
2, S. 61–63) und die ins Gegenteil umschlagende Revision seiner Meinung (ebd., S. 182) andererseits;
dazu heißt es an letzterer Stelle über ‚Baschurow‘: „Mit demselben jugendlichen Feuer, mit dem er
seine früheren Anschauungen vertreten hatte, verteidigte er jetzt seine neuen Ansichten, als wären sie

97

OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN Mitteilung Nr. 56

ten getrennt blieben, selbst wenn sie zum Zusammenleben auf engem Raum gezwungen
waren. Freundschaften waren, wie Jakubovič seinem Genossen gleich zu Anfang zu be­
denken gab, mit den Kriminellen nicht zu schließen. 486 Zu sehr unterschieden sich die
Wertevorstellungen voneinander. Was Feliks Kon schon auf dem Weg in die Katorga
aufgefallen war, nämlich die devote Erwartungshaltung der Kriminellen,487 erlebten die
politischen Sträflinge in Akatuj zu Beginn des neunziger Jahre ähnlich, wenn die vier­
schrötigen Genossen sie zwar mit „Sie“ ansprachen und eine gewisse Distanz und Ach­
tung signalisierten, aber gleichzeitig hemmungslos und selbstverständlich von ihnen
profitierten.488
Die Unberechenbarkeit der Beziehungen illustrieren nicht nur die literarisierten, aber
auf realen Begebenheiten beruhenden Schilderungen Jakubovičs, sondern auch die Er­
innerungen Frejfel’ds und Orlovs.489 „Wir lebten auf einem Vulkan“, schreibt Frejfel’d,
und diesen unruhigen Untergrund machte die heikle Position der „Politischen“ zwischen
der Gefängnisadministration und den ugolovnye aus.490 An Marginalien oder an für die
„Politischen“ völlig unverständlichen Vorhaltungen entzündeten sich Konflikte, obwohl
sich Jakubovič als starosta der politischen Gefangenen um den Ausgleich sehr bemühte
und großzügig zeigte. Gerade die Großzügigkeit barg aber, wie bereits bei den Ausfüh­
rungen zum Essen in Akatuj dargestellt, die Gefahr der Auseinandersetzung, ebenso das
Ansehen, das Jakubovič unter vielen Häftlingen genoss, und der Versuch der politischen
Häftlinge, Ordnung im Gefängnis zu wahren. Der starosta der Kriminellen, der sich in
seiner Stellung dadurch angefochten fühlte und Jakubovič hasste, versuchte seine Unter­
gebenen gegen die „Politischen“ aufzuhetzen und diese als Denunzianten anzu­
schwärzen; ein mysteriöser Vergiftungsversuch traf, vermutlich, die falschen.491 Die Ver­
setzung des Aufrührers in ein anderes Katorga-Gefängnis beruhigte die Lage, so dass
Orlov zuletzt sogar ausnehmend positiv festhält:
„Bald danach, besonders nach dem Weggang Judincevs aus dem Gefängnis, begannen
sich unsere Beziehungen mit den Kriminellen zu verbessern und ließen zum Ende un­
seres Aufenthalts in Akatuj nichts zu wünschen übrig.“492

Vor dem Hintergrund dieser Auseinandersetzungen, in deren Verlauf die Administration
zuweilen eine eher zwiespältige Rolle spielte – sie versuchte immer wieder, die Span­
nungen für ihre Ziele zu nutzen493 –, erhielt die Verpflichtung zur Arbeit im Bergwerk
eine heilige Überzeugung, die er durch langjährige bittere Erfahrung gewonnen hatte und nicht wäh­
rend einiger Monate.“
486 MELSCHIN Im Lande 2, S. 62.
487 Vgl. die Ausführungen am Ende von Kap. 3.2.4 (S. 54) mit Fußnote 257.
488 Vgl. MELSCHIN Im Lande 2, S. 136–138, und FREJFEL’D Iz prošlogo (okončanie), S. 93.
489 Der Vergleich der Erinnerungsberichte Frejfel’ds, Orlovs und Čujkos mit den Bänden Jakubovičs
zeigt, dass den Schilderungen gemeinsame Erlebnisse zugrunde liegen, die, unterschiedlich gewichtet,
bei allen vier ehemaligen Häftlingen vorkommen.
490 FREJFEL’D Iz prošlogo (okončanie), S. 92.
491 FREJFEL’D Iz prošlogo (okončanie), S. 93 und 95–97, sowie ORLOV Ob Akatue, S. 113. Es ist anzuneh­
men, dass der Vergiftungsversuch Jakubovič und Frejfel’d galt, zufällig aber zwei kriminelle Mithäft­
linge traf.
492 ORLOV Ob Akatue, S. 113. Judincev war der erwähnte aufrührerische starosta der kriminellen Häft­
linge.
493 FREJFEL’D Iz prošlogo (okončanie), S. 92.

98

4.4. Die Katorga-Gesellschaft: „Politische“ und Kriminelle

jene andere, zentrale Bedeutung, die Čujko herausstreicht: Sie ermöglichte den Aus­
bruch aus der stickigen Nähe zu der anstrengenden und oft unverständlichen Welt der
Kriminellen.494
Das prekäre Nebeneinander politischer und krimineller Häftlinge, wie es in Akatuj
während der neunziger Jahre gelebt wurde, war geradezu harmonisch im Vergleich mit
den Zuständen, die in transbaikalischen Katorga-Gefängnissen nach der Revolution von
1905 herrschten. Die massive Zunahme der Zahl der Sträflinge schuf generell eine ange­
spannte Situation in den Gefängnissen, weil der Platz immer knapper wurde; gleichzei­
tig waren sehr viele der Katorga-Häftlinge ehemalige Militärangehörige oder Arbeiter,
die einen harten Umgang gewohnt waren und im Zuge der revolutionären Wirren diesen
auch ausgelebt hatten.495 Das führte zu einer Umschichtung und Verschärfung innerhalb
der Katorga-Gesellschaft mit Folgen auch für das Verhältnis von „Politischen“ und Kri­
minellen. Letztere wurden, nicht anders als in Akatuj zu Jakubovičs, Orlovs und Frej­
fel’ds Zeit, von den sogenannten ivany dominiert, der skrupellosen, terrorisierenden
„Elite“ der ugolovnye, die, von der Gefängnisadministration oftmals geduldet, zentrale
Aufgaben wie die Küche unter ihrer Kontrolle hatten und den übrigen Häftlingen den
Alltag diktieren wollten.496 Als die Administration im Katorga-Zentralgefängnis von
Aleksandrovsk bei Irkutsk das Häftlingskollektiv der „Politischen“ 1909 auflöste und
diese auf die Zellen der Kriminellen verteilte, gerieten die politischen Sträflinge und die
ivany rasch aneinander. Allein schon das bloß durch restriktiv erlaubte Hofgänge (nicht
aber durch eine Beschäftigung) aufgelockerte ständige Zusammensein mit den lärmen­
den, rücksichtslosen Verbrechern war für die „Politischen“ eine Qual,497 wie Krivorukov
schildert:
„Das Rasseln und der Klang der Ketten erzeugte eine solche Melodie, die, indem sie die
menschlichen Gefühle völlig abstumpfte, gleichzeitig unerträgliche Kopfschmerzen her­
vorrief. Unvorstellbarer Lärm, Schlägereien, schrankenloses Kartenspiel und immenses
Geschimpfe spielten die Rolle einzelner Instrumente in dieser wahrhaft höllischen Sym­
phonie, so dass unter diesem unmenschlichen Zustand keiner eine Möglichkeit sah, auch
nur irgendwie zu existieren.“498

Die Versuche der politischen Zellengenossen, für ein Mindestmaß an Ordnung und Sau­
berkeit und für festgesetzte Stunden der Ruhe zu sorgen, scheiterten nicht eigentlich an
der Masse der Kriminellen, sondern an deren Anführern, die sich vom Anspruch der
„Politischen“ auf Durchsetzung von Regeln herausgefordert fühlten. Zuletzt konnte nur
dank dem – lange hinausgezögerten – Eingreifen der Gefängnisverwaltung eine blutige
Messerstecherei verhindert werden, nachdem sich zuerst die ivany und daraufhin auch
die politischen Häftlinge mit Messern bewaffnet hatten. Der Konflikt beruhigte sich
erst, als die „Politischen“ wieder in einer getrennten Kammer untergebracht wurden.499
494 Vgl. das Zitat aus ČUJKO God, S. 112, wiedergegeben im Abschnitt 4.3.2 (S. 89). Vgl. auch zusam­
menfassend MOŠKINA Katorga, S. 30f.
495 Vgl. den Hinweis in Fussnote 411.
496 KORMIL’CEV Bor’ba, S. 130f., und KRIVORUKOV Bor’ba, S. 89. Ausführungen zu den ivany auch im Kap.
3.2.4 (S. 54) mit Fußnote 253 über die Katorga-Gesellschaft auf dem Weg nach Osten.
497 KRIVORUKOV Bor’ba, S. 89 und 91.
498 KRIVORUKOV Bor’ba, S. 90.
499 KRIVORUKOV Bor’ba, S. 92f. und 95.

99

OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN Mitteilung Nr. 56

Aus der Offensive heraus operierte demgegenüber eine Gruppe von politischen Häftlin­
gen, die 1907 von Akatuj nach Gornyj Zerentuj verlegt wurde, wo sich damals das Zen­
trum der ivany in der Nerčinsker Katorga befand.500 Mit Rückendeckung des damaligen
Gefängnisdirektors, der ihnen volle Bewegungsfreiheit gab, stutzten die „Politischen“
sukzessive den Einfluss der aggressiven Kriminellen zurück; sie übernahmen, mit Mes­
sern bewaffnet, auch die Küche, die Bastion der ivany, und marginalisierten diese damit
nachhaltig.501 Eine regelrechte Abrechnung hatten, nach anfänglich unproblematischem
Zusammenleben und -arbeiten, neu angekommene Kriminelle in Šamanka 1915 im
Sinn; sie wollten sich an den vier politischen Sträflingen für ein Blutbad in einem an­
dern Minen-Lager rächen, obwohl diese mit dem Ereignis nichts zu tun gehabt hatten.
Der Anschlag schlug fehl, die Attentäter wurden selbst schwer verletzt. Gubel’man, der
diese Szene schildert, hebt allerdings gleichzeitig das hohe Ansehen hervor, das die „Po­
litischen“ unter den Kriminellen genossen hätten.502
Die bei Krivorukov und Kormil’cev ausführlich geschilderten, handgreiflichen Aus­
einandersetzungen zwischen den „Politischen“ und den ivany als der Elite der Verbre­
cher sind auch in ideologischer Hinsicht interessant. Beiden Autoren geht es in ihren Er­
innerungsberichten darum, diese Verbrecher-Elite in den düstersten Farben zu malen
(was wohl auch nicht abwegig ist) und deutlich von der Masse der Kriminellen abzu­
heben, die als unterdrückt, aber eigentlich verständig und lernwillig dargestellt wird.
Wenn Kormil’cev schreibt, „auf diese Weise wurde das ‚ivanstvo‘ von Zerentuj liqui­
diert“, während die gewöhnlichen ugolovnye für den Kampf gegen ihre Unterdrücker
geschult und von den „Politischen“ auch anderweitig unterrichtet worden seien, 503 dann
klingt dies sehr nach Klassenkampf. Auch Gubel’man bedient sich letztlich dieser For­
mel, wenn er, nicht nur bezogen auf Šamanka, festhält: „Nur der Terror der ‚ivany‘ gab
den Kriminellen nicht die Möglichkeit, mit ihnen zu brechen, und hielt sie in der Hörig­
keit.“504 Die Gefahr, die von diesen skrupellos brutalen Gefangenen ausging, soll damit
nicht kleingeredet werden; aber zumindest in der Erinnerung wird der Existenzkampf zu
einem revolutionären, auch andere (nämlich die „unschuldigen“ Kriminellen) befreien­
den Akt stilisiert. Und festzuhalten ist, dass es den „Politischen“ immerhin in allen zi­
tierten Beispielen gelang, sich dem Würgegriff der Kriminellen-Elite zu entwinden.
4.4.2. Parallele Welten und Interaktion unter einem Dach
Die Zäsur von 1890 war nur eine relative. Das galt nicht bloß für das Arbeiten in der
Katorga, sondern auch für den Versuch der kompromisslosen Gleichstellung der poli­
tischen Häftlinge mit den kriminellen.505 Oft ließen sich die „Politischen“ die Beschnei­
dung ihrer traditionellen Sonderbehandlung durch das Gefängnispersonal – das Recht
500 KORMIL’CEV Bor’ba, S. 131f.
501 KORMIL’CEV Bor’ba, S. 133.
502 GUBEL’MAN Šamanka, S. 186–188.
503 KORMIL’CEV Bor’ba, S. 133. Der Begriff „ivanstvo“ ist nicht übersetzbar; er bezeichnet das Netzwerk
der ivany und damit ein Kollektivum.
504 GUBEL’MAN Šamanka, S. 188.
505 FOMIN Katorga, S. 24, schreibt dazu: „Aber was leicht auf ein Blatt zu schreiben war, war sehr schwie­
rig, ins Leben einzuführen.“

100

4.4. Die Katorga-Gesellschaft: „Politische“ und Kriminelle

auf eigene Kleidung, auf eigene Kammern, auf das Siezen – nicht gefallen und protes­
tierten dagegen; immer wieder gerieten, wie geschildert, die beiden Sträflingsgruppen
aneinander und zwangen die Administration zu deren Trennung.506 Das Konzept von
1890 hatte zwar die strikte Isolierung der „Politischen“ von den Kriminellen für alle
Zeiten aufgehoben; aber das bedeutete nicht, dass fortan in allen Gefängnissen Zustände
herrschten wie im „Mustergefängnis“ von Akatuj, wo das neue Regime zuerst umgesetzt
wurde. Die beiden Lebenswelten blieben verschiedene Welten, auch weil in der Katorga
nach 1905 nicht selten wieder getrennte Zellen gebildet wurden, wenngleich stets unter
demselben Gefängnisdach. Die Separation war vor allem eine Folge der „Republikani­
sierung“ in den Gefängnissen 1905/06, als im Zuge der revolutionären Umtriebe und des
großen Zustroms neuer Häftlinge nicht die Administration, sondern die Häftlinge hinter
den Mauern das Sagen hatten.507 So sah es auch Pavel Vasil’ev, der erklärt, in den Ner­
činsker Katorga-Gefängnissen habe sich noch 1909 als Überbleibsel vergangener frei­
heitlicher Tage die Trennung der politischen von den kriminellen Gefangenen gehal­
ten.508
Unter diesen Voraussetzungen war das Verhältnis von Nähe und Distanz kein prekä­
rer Lebenszustand für die „Politischen“. Indem die Welten parallel existierten und die
Interaktion sich in Grenzen hielt, glichen die Beziehungen zwischen den beiden Grup­
pen eher jenen der Reise nach Osten: Faszination einerseits und gegenseitige Achtung
anderseits machten sie aus und ließen Irina Kachovskaja festhalten, ohne das unbedingte
Verbot des Austauschs könnten beide Gruppen einander das Leben bereichern.509 So
blieb es beim Aufsetzen von Briefen und Bittschriften durch die „Politischen“ auf
Wunsch der Kriminellen.510 In Mal’cevskaja klafften die beiden Welten besonders stark
auseinander – vom Vorsatz der Gleichbehandlung war hier wenig geblieben. In den Zel­
len der weiblichen Kriminellen herrschte Platznot; bis zu 40 Gefangene teilten sich
einen Raum. Statt in Betten wie die „Politischen“ schliefen sie auf gewöhnlichen Prit­
schen (nary). Sie gingen, im Unterschied zu den politischen Häftlingen, einer Arbeit
nach – nähten Hemden, kochten für das ganze Gefängnis oder waren im Garten tätig. In
ihren Augen waren die „Politischen“ die Herrinnen, ungeachtet ihrer sozialen Her­
kunft,511 und die materiellen und lebensweltlichen Unterschiede im gleichen Gefängnis
dürften sie darin bestätigt haben. „Sie stellten eine gänzlich gesonderte Welt dar, und ihr
Leben gestaltete sich völlig anders als unseres“, heißt es bei Fanni Radzilovskaja und
Lidija Orestova.512 Viele der weiblichen Kriminellen waren auf dem Transport in die
Katorga zum Freiwild der männlichen Verbrecher und der Begleitsoldaten geworden;
als Folge davon lebten auch einige Kinder unter ihnen, deren Schicksal die beiden Auto­
rinnen bedauern. „Diese Kinder wurden wie Pilze geboren, und häufig wussten die Müt­

506 Vgl. auch die folgenden Ausführungen im Kap. 4.6 (S. 115).
507 FOMIN Katorga, S. 25.
508 VASIL’EV Promysly, S. 193.
509 KACHOVSKAJA Iz vospominanij, S. 87. Wie RADZILOVSKAJA/ORESTOVA Katorga, S. 41, jedoch berichten,
gab es für kurze Zeit gemeinsame Lern- und Unterrichtsstunden.
510 RADZILOVSKAJA/ORESTOVA Katorga, S. 42, und KACHOVSKAJA Iz vospominanij, S. 87.
511 KACHOVSKAJA Iz vospominanij, S. 87.
512 RADZILOVSKAJA/ORESTOVA Katorga, S. 40.

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OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN Mitteilung Nr. 56

ter nicht, wer deren Vater ist.“513 Kachovskaja vermutet aber, für die weiblichen Kator­
ga-Häftlinge, die oft wegen der Ermordung ihres Ehemannes zu langen Strafen verurteilt
worden waren, sei Mal’cevskaja im Vergleich zum Leben auf dem russischen Dorf gera­
dezu paradiesisch gewesen.514 Dass diese Relation umso stärker noch für die „Politi­
schen“ bedenkenswert ist, fehlt in dieser Analyse. Die Berührungspunkte waren mithin
wenig zahlreich und die Friktionsmöglichkeiten entsprechend gering; vielleicht entspan­
nen sich deshalb auch keine Probleme zwischen den Häftlingsgruppen. Die Gefangenen­
lieder der kriminellen Katorga-Frauen weckten auch die Sehnsüchte ihrer politischen
Leidensgenossinnen.515
Der soziale Raum, wie er sich auf dem Weg nach Osten auszubilden begann, umfass­
te zwar die politischen und die kriminellen Gefangenen. Sie bildeten gemeinsam die
Katorga-Gesellschaft, aber sie lebten stets in parallelen oder gänzlich getrennten Wel­
ten. Selbst dann, wenn der Alltag vereinheitlicht werden sollte und die Gruppen zur
Nähe gezwungen waren, lösten sich die Grenzen nicht auf; höchstens fanden sie zu ei­
nem prekären, aber für beide erträglichen und zuweilen gar von gegenseitiger Unter­
stützung geprägten Nebeneinander.516 Immer wieder versuchte die Gefängnisadministra­
tion, die Spannungen für sich auszunutzen oder zu ihrem Vorteil zu schüren. Aber das
gelang kaum je, weil die „Politischen“ sehr stark waren und, im Zuge der Umschichtung
der (politischen) Katorga-Gesellschaft nach 1905, selbst immer unzimperlicher in der
Verteidigung ihrer Interessen wurden. Wie die Ausführungen gezeigt haben, waren sie
in Akatuj in den neunziger Jahren trotz den Missstimmungen und Aufhetzungen respek­
tiert, ja geachtet; dasselbe galt, von Ausnahmen abgesehen, auch in späteren Jahren. Die
Kriminellen waren nicht einfach die Mächtigen und die „Politischen“ die Unterdrück­
ten, wie es die Zahlenverhältnisse suggerieren könnten. Auch darin unterschied sich die
Häftlingsgesellschaft der Katorga von jener der Lagerwelten nach 1917.517
4.5. Bildungsaktivitäten und der Kontakt zur Außenwelt
Die fehlenden Arbeitsmöglichkeiten in der Nerčinsker Katorga über viele Jahre hinweg
führten zu einer mitunter schwer zu ertragenden Monotonie eines Alltags, der sich aus­
schließlich hinter den Gefängnismauern abspielte. Die Unfähigkeit der Katorga-Verwal­
tung, die zu Zwangsarbeit verurteilten Häftlinge arbeiten zu lassen, eröffnete aber auch
erfrischende Chancen; nicht die von oben oktroyierte Arbeit rückte in den Mittelpunkt
513 RADZILOVSKAJA/ORESTOVA Katorga, S. 41. Die „Politischen“ spielten manchmal mit den Kindern und
veranstalteten einmal sogar einen Kindermaskenball, vgl. ebd., S. 43.
514 KACHOVSKAJA Iz vospominanij, S. 87. Die Feststellung gilt wohl insofern auch für die Kinder, als diese
hier in einem vergleichsweise geschützten, wenn auch realitätsfernen Umfeld aufwuchsen. In Gornyj
Zerentuj existierte außerhalb der Mauern ein Kinderheim, vgl. die Ausführungen im Kap. 4.5 (S.
102). Zum Alltag und zur Stellung der Frau in der Familie auf dem russischen Dorf im ausgehenden
Zarenreich vgl. GOEHRKE Alltag 2, S. 200–204.
515 RADZILOVSKAJA/ORESTOVA Katorga, S. 43.
516 Ein gutes Beispiel dafür sind die Verhältnisse in Akatuj in den neunziger Jahren, nach den größeren
Auseinandersetzungen mit den Kriminellen.
517 Zum Verhältnis von professionellen Kriminellen (urki), gewöhnlichen Häftlingen und unter poli­
tischen Vorzeichen inhaftierten Gefangenen im Gulag vgl. das eindringliche Kapitel „The Prisoners“
in APPLEBAUM Gulag, S. 280–306.

102

4.5. Bildungsaktivitäten und der Kontakt zur Außenwelt

des Lebens im Gefängnis, sondern die aus der Eigeninitiative geborene, intensive Be­
schäftigung mit Literatur, Sprache, Kunst und Naturwissenschaften. Inspiration und Le­
benskraft schöpften die politischen Sträflinge aus Büchern, Zeitschriften und den Dis­
kussionen über das Gelesene und Erarbeitete. Gleichzeitig verband dies die katoržane
mit der Außenwelt, die sie über Zeitungen, Journale, Briefe, Pakete und seltene Besuche
wahrnahmen. Von außen kam der neue Lesestoff in Form der Periodika oder Bücher, so
dass der Komplex von Lesen und Lernen ohne die Drähte zur Außenwelt nicht denkbar
gewesen wäre. Die Auseinandersetzung mit Literatur, Zeitgeschehen und Wissenschaft
diente, insbesondere nach der Revolution von 1905, auch politischen Zielen, und die
Darstellung der učeba, des Studiums, und der kul’trabota, der (propagandistisch aufge­
ladenen) „Kulturarbeit“, in den Erinnerungsberichten ist stellenweise von revolutionä­
rem Pathos geprägt. Die spätere sowjetische Forschung hat dies dankbar aufgenommen,
ohne aber über die Aufzählung der Bildungsleistungen und das Lob der Fortsetzung des
revolutionären Kampfs hinauszukommen.518 An der Bedeutung der kulturellen Tätigkeit,
die sich auch auf Musik, Chorgesang und Theaterspiel ausdehnte und, wo es gestattet
war, die ugolovnye einbezog, zielt eine solche Darstellung vorbei. Denn auf erstaunliche
Weise legt das Phänomen die Freiräume offen, welche die transbaikalische Katorga des
ausgehenden Zarenreichs allen Härten zum Trotz ihren Insassen bot. Man könnte es gar
als Privileg verstehen, wenn Häftlinge in der Lage sind, zu kämpfen „nicht nur für die
menschliche Würde, für das Recht zu leben, sondern auch für das Recht zu lernen, eine
Bibliothek zu haben, Bücher zu lesen“519. Mit den kulturellen Aktivitäten, dem Lesen,
Lernen und Feiern, und den Drähten zur Außenwelt rückt ein weiterer, zentraler Aspekt
des Häftlingsalltags in den Blick.
4.5.1. Lesen und Lernen
Über viele Jahre hinweg glich die Katorga in den Gefängnissen Ostsibiriens einer Schu­
le, einer Lehr- und Lernanstalt. Weil eine andere Beschäftigung fehlte und die Bildungs­
arbeit zunehmend in einem politischen Sinn verstanden wurde, bestimmte das Lesen,
Lehren und Lernen den Alltag, auch in dessen Abläufen. „Den Hauptinhalt unseres Le­
bens bildete der Unterricht“, schreiben Fanni Radzilovskaja und Lidija Orestova in ih­
rem Erinnerungsbericht.520 Die Gemeinschaftszelle war auch hierfür der Nukleus –
räumlich und organisatorisch; andere Räumlichkeiten als die Kammern standen den
Häftlingen in der Regel nicht zur Verfügung – höchstens der Flur zum Ausweichen 521 –,
518 Vgl. für diese Art von Aufarbeitung den Aufsatz von TAGAROV Učeba, S. 71–84. Tagarov stützt sich
nach eigenen Angaben auf Archivmaterial, ohne dass daraus aber ein bunteres Bild entstünde und ins­
gesamt tiefschürfende Erkenntnisse resultierten. KACZYNSKA Gefängnis, S. 185, konzentriert sich aus­
schließlich auf die Ssylka.
519 TAGAROV Učeba, S. 71.
520 RADZILOVSKAJA/ORESTOVA Katorga, S. 30.
521 So beispielsweise im vorübergehenden Gefängnis für „Politische“ in Ust’-Kara 1882, wo die Häft­
linge in Zweierzellen untergebracht waren, aber der Flur als geselliger Ort – gleichsam als „gute Stu­
be“ – diente, vgl. BOGDANOV Smert’, S. 106. Ähnliches schreiben auch RADZILOVSKAJA/ORESTOVA Kat­
orga, S. 32f., und KACHOVSKAJA Iz vospominanij, S. 78, für das Mal’cevskaja-Gefängnis; der Korridor
sei der beliebteste Ort für die Lerneinheiten gewesen. DEUTSCH Sechzehn Jahre, S. 211, berichtet da­
von, dass in Nižnjaja Kara die Küche, „unser Klublokal gewissermaßen“, oft als Treffpunkt der Häft­

103

OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN Mitteilung Nr. 56

und so galt es, die Zellen so zu nutzen, dass jeder seinen Studien nachgehen konnte. An­
gesichts der engen Platzverhältnisse und der nicht fürs Lesen und Lernen ausgelegten
Einrichtung war dies eine Herausforderung – nicht erst nach 1905, als mehrere Dutzend
Sträflinge eine Kammer bewohnten, sondern bereits im politischen Gefängnis von Nižn­
jaja Kara in der 1880er Jahren. Tagsüber ging es zu und her wie in einem Bienenhaus,
so dass an konzentrierte Arbeit nicht zu denken war, und abends entspannen sich an den
mit einer Lampe spärlich beleuchteten Tischen Diskussionen, allerdings nur bis 22 Uhr;
danach blieben noch zwei oder drei Stunden ruhigen Lesens.522 Wem das nicht reichte,
der legte sich früh ins Bett, um nachts zwischen zwei und drei Uhr, wenn der
„Sirius“-Stern leuchtete, aufzustehen und bis zum Morgengrauen in absoluter Stille der
intellektuellen Beschäftigung nachzugehen.523
In einer späteren Phase der Katorga, besonders nach 1905, als die Zahl der „Poli­
tischen“ allein im Gefängnis von Gornyj Zerentuj an die 500 Personen ausmachte, 524
musste nach neuen Wegen gesucht werden, um allen Lern-, Schreib- oder Lesewilligen
gerecht zu werden. Nun wurde endgültig die Nacht zum Tag. Für die stille Arbeit – Le­
sen, Briefeschreiben – gab es zwei Schichten. Die erste Schicht – „Feuerwehrmänner“
(požarniki) genannt – nutzte die Ruhephase zwischen dem Ende des Abendessens und
Mitternacht, die zweite – als „Hähne“ (petuchi) bezeichnet – die Zeit von Mitternacht
bis zum frühen Morgen. Zur Stärkung wurden während kurzer Pausen Tee und speziell
für die nächtliche Arbeit aufgesparte Roggenbrot-Scheiben gereicht. Dank verständnis­
vollen Aufsehern, die bisweilen nachts kurz vorbeischauten und mit dem einen oder an­
dern leise Gespräche führten, konnten die Häftlinge bis weit in den Morgen hinein
schlafen; beim Appell (poverka) wurden sie mitgezählt, unabhängig davon, ob sie schon
wach und aufgestanden waren oder noch schliefen.525 Im Frauengefängnis von Mal’cevs­
kaja legten je nach Zelle unterschiedliche „Konstitutionen“ die Ruhezeiten fest, die in
der Regel am Morgen bis zum Mittagessen und abends bis Mitternacht dauerten. Wer
sich hier abends noch mit einer Genossin über das eben Gelesene oder Geschriebene
austauschen wollte, tat dies schriftlich.526
Schon im Gefängnis in Moskau hatten Irina Kachovskaja und ihre damaligen Ge­
fährtinnen dafür gekämpft, Bücher zu bekommen und lesen zu dürfen.527 Neben dem
Austausch mit den Mithäftlingen gab ihr in den Jahren der Katorga nur noch die „Welt
linge verschiedener Zellen gedient habe.
522 DEUTSCH Sechzehn Jahre, S. 216, und KON Pod znamenem, S. 267.
523 KON Pod znamenem, S. 267. Die nächtens arbeitenden Häftlinge wurden, in Anlehnung an den Stern,
„Siriusse“ (siriusy) genannt.
524 PLESKOV „Vol’nyj universitet“, S. 167, für das Jahr 1907.
525 PLESKOV V gody, S. 148, und bes. PLESKOV „Vol’nyj universitet“, S. 167f. Als Erklärungen für die Be­
zeichnungen požarniki und petuchi gibt Pleskov (S. 167) Folgendes an: Die erste Schicht erhielt ihren
Namen von einer Löschaktion, als beim Aufbrühen von Tee über der Lampe ein Hand- oder Leintuch
in Flammen geriet; die zweite Schicht trug die Bezeichnung, weil sie dann ins Bett ging, wenn die
Hähne zu krähen begannen. Pleskov garantiert die Richtigkeit dieser Erläuterungen nicht. Zumindest
die zweite scheint aber durchaus plausibel zu sein.
526 RADZILOVSKAJA/ORESTOVA Katorga, S. 33, KACHOVSKAJA Iz vospominanij, S. 78f., und für die anschlie­
ßende Zeit in Akatuj PIROGOVA Na ženskoj katorge, S. 159. Zu den „Konstitutionen“ vgl. auch Kap.
4.2 (S. 74).
527 KACHOVSKAJA Iz vospominanij, S. 59. Vgl. Kap. 3.2.1 (S. 38).

104

4.5. Bildungsaktivitäten und der Kontakt zur Außenwelt

der Bücher“ Trost und Kraft. „Für den Verlauf vieler Jahre erschien diese doppelte Welt
als unerschöpfliche Quelle des Lebens, der Freude und Sorge“, schreibt sie im Rück­
blick.528 Aus der Freiheit kamen viele Bände – (wissenschaftliche) Sachbücher (wobei
aus naheliegenden Gründen politische und ökonomische Texte fehlten) und schöne rus­
sische und ausländische Literatur; das Spektrum dessen, womit sich die weiblichen poli­
tischen Katorga-Sträflinge beschäftigten, kannte kaum Grenzen. Die jungen Frauen –
über die Hälfte waren Studentinnen oder anderweitig höher gebildet529 – lasen Nietzsche
und Hegel, Vladimir Solov’ev, indische Philosophen, Pascal und die Bibel, Tolstoj, Do­
stoevskij, Merežkovskij, Bogdanov und zeitweise französische Literatur und ließen sich
von der oftmals noch unbekannten Geisteswelt inspirieren; vor allem Dostoevskij beein­
druckte und beeinflusste manche.530
Die Zusendungen von Angehörigen und Freunden und die Journale, in denen neueste
Literatur gedruckt wurde, waren nicht die einzige Quelle für die lesebegierigen Gefan­
genen in Mal’cevskaja und anderswo. Sehr wichtig waren die Bestände aus den Biblio­
theken der Gefängnisse. Die Bibliothek von Mal’cevskaja umfasste 700 bis 800 Bände
philosophischer, historischer, soziologischer, kulturhistorischer, wirtschaftswissen­
schaftlicher und belletristischer Literatur, von letzterer auch französisch-, englisch- und
deutschsprachige Werke.531 Umso herber war der Einschnitt, als nach der Übersiedlung
des Frauengefängnisses nach Akatuj der dortige Gefängnisdirektor alle Bücher ins
Zeughaus verfrachtete und die Sträflinge nur sehr eingeschränkt darauf zurückgreifen
konnten.532 Die Bibliothek wurde auch im politischen Gefängnis von Nižnjaja Kara um­
sichtig betreut; einer der Häftlinge versah das Amt des Bibliothekars und erkundigte
sich täglich nach den Wünschen seiner Mitgefangenen.533 Hier fanden sich besonders
historische, mathematische und naturwissenschaftliche Bände, ebenso waren andere
Fachgebiete vertreten, in zahlreichen europäischen und auch klassischen Sprachen, wie
Deutsch schreibt; und Kon berichtet sogar von Marx, Engels und Černyševskij, aller­
dings fehlten zum Teil Seiten.534 Die Frauen im Kara-Tal besaßen keine eigene Biblio­
thek, konnten sich aber wöchentlich über jene des Männergefängnisses mit Literatur
versorgen.535 Auf den Beständen der Bibliothek von Kara baute später, nach 1890, auch
jene in Akatuj auf; einen besonderen Zuwachs erreichte diese dadurch, dass liberale
Verlage Petr Jakubovič-Mel’šin, dem bekannten Schriftsteller, ihre Bücher bis in die
Katorga zukommen ließen.536 Und wo es, wie im Minen-Lager von Šamanka, keine Bi­

528 KACHOVSKAJA Iz vospominanij, S. 77. Vgl. auch Kap. 4.1 (S. 65).
529 RADZILOVSKAJA/ORESTOVA Katorga, S. 30.
530 KACHOVSKAJA Iz vospominanij, S. 77–79, und RADZILOVSKAJA/ORESTOVA Katorga, S. 31f. KACHOVSKAJA
(S. 78) reflektiert die relative Unwissenheit ihrer Revolutionärinnengeneration, die sich „instinktiv“
der revolutionären Bewegung angeschlossen habe; der Anschluss an die eine oder andere Gruppie­
rung sei meist aufgrund von Zufällen erfolgt. Die intellektuelle Durchdringung der Positionen habe
erst im Gefängnis stattgefunden.
531 RADZILOVSKAJA/ORESTOVA Katorga, S. 32, und PIROGOVA Na ženskoj katorge, S. 150
532 PIROGOVA Na ženskoj katorge, S. 156.
533 KON Pod znamenem, S. 267f.
534 DEUTSCH Sechzehn Jahre, S. 214, und KON Pod znamenem, S. 268.
535 PRIBYLEVA Moi vospominanija, S. 149.
536 FREJFEL’D Iz prošlogo (okončanie), S. 91.

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OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN Mitteilung Nr. 56

bliothek gab, halfen Aufseher, Ingenieure oder die örtliche Bevölkerung den Häft­
lingen.537 Bücher waren, so lässt sich erkennen, eine Art Lebenselixier in der Gefangen­
schaft. Das ist (aus der Perspektive des Wissenschaftlers) weniger erstaunlich als der
Umstand, dass es, übers Ganze gesehen, ohne größere Behinderungen gelang, selbst in
der transbaikalischen Katorga, dieser „anderen Welt“, an qualitativ hochwertige Sach­
buchliteratur und Belletristik heranzukommen – und diese in den Mittelpunkt des Ge­
fängnislebens zu rücken.538
4.5.2. Lehren und Lernen
In den Katorga-Gefängnissen verwandelte sich aber nicht einfach die Nacht zum Tag.
Die individuelle Lektüre und das Schreiben von Briefen und persönlichen Notaten fan­
den zwar in der Zeit der abendlichen und nächtlichen Ruhe statt. Aber tagsüber wurde
die Auseinandersetzung mit Themen und Unterrichtsfächern in Diskussionsrunden und
Schul- und Vortragsstunden fortgesetzt – je nach dem, über welchen Bildungshinter­
grund die Insassen verfügten und welche Ziele verfolgt wurden. Auch hier war das
Spektrum breit; selbstverständlich waren Lektüre, Diskussion und Unterricht oft thema­
tisch verbunden, aber es gab für jede oder jeden etwas. Irina Kachovskaja beschreibt
einen Unterrichtsmorgen in Mal’cevskaja:
„In der Tiefe des Korridors, rund um das große Heiligenbild von Nikolaus dem Wunder­
tätigen, […], präpariert eine Anatomieprüfung eine irgendwo aufgetriebene Taube; ne­
benan studieren sie die assyrische Vorzeit […]. Ferner übersetzen sie „Jean-Christophe“,
lösen Aufgaben, schreiben Diktate, lesen in Gruppen Taylor, Neumeister, Darwin. Die
Gruppen wechseln sich ab: Sie gehen von der einen Lehrerin zur andern, die Schülerin­
nen gruppieren sich anders.“ 539

Radzilovskaja und Orestova wundern sich im Rückblick, wie auf dem engen Flur 20 bis
25 Gefangene, die unterschiedlichen Themen nachspürten, lernen und lehren konnten.540
Einige der Frauen beschäftigten sich ausgiebig mit mathematischen Problemen, lösten
algebraische und geometrische Aufgaben; andere lernten zusammen Fremdsprachen
oder, wie Paulina Metter, die ohne Russischkenntnisse nach Mal’cevskaja gekommen
537 GUBEL’MAN Šamanka, S. 186.
538 Der Umfang und Wert der Bibliothek und der Zugang zu ihr sagt durchaus etwas über die Umstände
der Haft aus, wie ein kleiner Seitenblick auf den Gulag zeigt. Bibliotheken gab es, dem Namen nach,
auch in den Lagerwelten des 20. Jahrhunderts. Die deutsche Kommunistin Susanne Leonhard, die in
Moskau Schutz vor der NS-Verfolgung gesucht hatte, in die Mühlen der stalinistischen Repression
geraten war und viele Jahre im Gulag verbrachte, war eine Zeit lang als „Bibliothekarin“ im Lager
Kočmes (Nordrussland, südlich von Vorkuta) beschäftigt. Sie schreibt: „Ich hatte überhaupt nicht ge­
wusst, dass es eine Bibliothek in Kotschmess gab, denn bisher waren nie Bücher ausgeliehen worden.
‚Der Menschheit ganzer Jammer‘ fasste mich an, als ich dann sah, was von einer ehemaligen Biblio­
thek übriggeblieben war. Von vielen Büchern waren nur noch die Buchdeckel vorhanden, von ande­
ren existierten ein paar zerfetzte Blätter. Eine Urka, die […] ‚Erzieherin‘ gewesen war, hatte die Bü­
cher oder Teile von ihnen als Zigarettenpapier verbraucht. Die Zwischenbretter des Bücherschranks
fehlten. Die Vertreterin der Kultur im Lager Kotschmess hatte sie verheizt.“ Vgl. LEONHARD Leben, S.
338f.
539 KACHOVSKAJA Iz vospominanij, S. 78. „Jean-Christophe“ ist der Titel eines Romans von Romain Rol­
land.
540 RADZILOVSKAJA/ORESTOVA Katorga, S. 33.

106

4.5. Bildungsaktivitäten und der Kontakt zur Außenwelt

war, Russisch schreiben, lesen und sprechen.541 Hinter den nachts verschlossenen Türen
der Kammern zogen sich die tiefgründigen Diskussionen oft stundenlang noch hin; ge­
sprochen wurden über philosophische Grundfragen wie über das Selbstverständnis des
Menschen, über die Gottessuche, über Kollektivität und Individualität, Geist und Mate­
rie.542 In diesem Sinne war die ruhige politische Katorga in Mal’cevskaja eine Lebens­
schule der besonderen Art.
Noch eine Spur intensiver, vielleicht auch verbissener und sicherlich ideologischer
und dogmatischer, vor allem jedoch in der Dimension ungleich viel größer präsentierte
sich der Unterricht (učeba) in Gornyj Zerentuj in den Jahren 1908 bis 1910; das Gefäng­
nis wird von einer der treibenden Kräfte hinter der učeba, dem später auch in der Gesell­
schaft der ehemaligen politischen Zwangsarbeiter und Verbannten sehr aktiven Vladimir
Pleskov, als „vol’nyj universitet“, als „freie Universität“, bezeichnet.543 Unter den annä­
hernd 500 „Politischen“ befanden sich zur Hauptsache Soldaten, Matrosen und Arbeiter;
Vertreter der Intelligenz machten nur eine kleine Gruppe aus. Die Kommune war hier
besonders mächtig. Angesichts der großen Zahl der wenig Gebildeten und des straffen
Kollektivs nahm der Unterricht rasch den Charakter einer Massenveranstaltung an und
verästelte sich zugleich in viele Richtungen.544 Der Fächerkanon umfasste neben grund­
legenden Lese- und Schreibfertigkeiten Mathematik, Biologie, Grundlagen der Philoso­
phie, Politische Ökonomie, russische Geschichte und neue Literatur; dabei wurden unter
anderem Hegel, Marx, Engels, Lenin, Plechanov, Kautsky und Mehring diskutiert, aber
auch aktuelle zeitgenössische Publikationen wie der Band „Vechi“ („Wegzeichen“) ei­
ner Gruppe liberaler Intellektueller.545 Immer wieder hielten Häftlinge auch Vorträge zu
aktuellen Themen. So erarbeitete Pleskov nach dem großen Erdbeben von Messina auf­
grund der in der „sehr soliden“ Bibliothek vorhandenen Standardwerke innerhalb zweier
Wochen ein Referat über die geologischen Verhältnisse in Italien546 – auch das war unter
den damals obwaltenden Umständen in Zerentuj möglich. Die Häftlinge gaben überdies
eine eigene handgeschriebene Zeitschrift heraus.547
In seinen stark ideologisch gefärbten Ausführungen lässt Pleskov keinen Zweifel dar­
an, dass die Bildungsarbeit nicht einem Selbstzweck diente, sondern von einem poli­
tischen Impetus angetrieben war. Während die Zusammenstöße mit der Gefängnisad­
ministration, von denen noch die Rede sein wird, den unbeirrten revolutionären Kampf
auch in der Katorga unter Beweis stellen sollten, unterstützten die Bildungs- und Kul­
turaktivitäten auf friedlichem Feld die Fortsetzung des revolutionären Ringens, indem
541 RADZILOVSKAJA/ORESTOVA Katorga, S. 31f., und METTER Stranička, S. 97. Metter tat sich, wie im Kap.
4.2.2 (S. 79f) bereits dargestellt, mit dem intellektuellen Niveau der Gruppe, das sie als soziale Bar­
riere wahrnahm, sehr schwer. Über das Lernen der Sprache fand sie aber doch einigermaßen den An­
schluss.
542 RADZILOVSKAJA/ORESTOVA Katorga, S. 36.
543 PLESKOV V gody, S. 148, und PLESKOV „Vol’nyj universitet“, S. 167. Stützte man sich bei der Behand­
lung der učeba in der Nerčinsker Katorga ausschließlich auf Pleskovs Ausführungen, gewänne man
den Eindruck, einzig in Gornyj Zerentuj sei intensiv studiert und unterrichtet worden.
544 PLESKOV „Vol’nyj universitet“, S. 166 und 169.
545 PLESKOV V gody, S. 148, und PLESKOV „Vol’nyj universitet“, S. 172.
546 PLESKOV „Vol’nyj universitet“, S. 171.
547 PLESKOV V gody, S. 149, und PLESKOV „Vol’nyj universitet“, S. 169; in die Ansiedlung entlassene
Sträflinge dienten als Korrespondenten. Vgl. auch TAGAROV Učeba, S. 79.

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OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN Mitteilung Nr. 56

sie jene „Politischen“, die Aussicht auf Entlassung hatten, mit dem nötigen Rüstzeug für
die Arbeit in der revolutionären Bewegung versahen. Pleskov erklärt dazu programma­
tisch:
„Auch unter solchen Bedingungen klammerte sich der revolutionäre Geist an die kleinste
Möglichkeit, die kulturpolitische Arbeit in die Massen zu tragen. Der Revolutionär ver­
stand auch in der Katorga, dass er, auch wenn er in zeitweilige Gefangenschaft geraten
ist, als Soldat der Revolution immer und überall verpflichtet ist, mit der Waffe zu kämp­
fen, die ihm den Sieg gibt: mit Lesen und Schreiben, mit Wissen, mit dem Verstand, die
Wirklichkeit vom Klassenstandpunkt, vom Standpunkt des revolutionären Marxismus
aus, zu analysieren.“548

Stolz vermerkt Pleskov denn auch, dass ein Arbeiter nach der Entlassung aus der Kat­
orga in der Ansiedlung dank dem erreichten Bildungsstand alle drei Bände des „Kapi­
tals“ gelesen habe.549 Umgekehrt würdigt Kormil’cev dankbar den Unterricht, der ihn auf
den weiteren revolutionären Kampf vorbereitet habe.550 Im Zusammenhang mit dem po­
litischen Ziel äußert sich Pleskov polemisch über die učeba im Frauen-Katorga-Gefäng­
nis Mal’cevskaja: „Im Gegensatz zu unseren Nachbarn aus Mal’cevka trug unser Unter­
richt einen offensiven, kämpferischen Charakter, der feste Ermunterung war.“551 Die Bil­
dungstätigkeit habe keinen „philanthropischen Ansatz“ gepflegt, den er implizit als her­
ablassend bezeichnet, sondern habe, mit dem Ziel des Kampfes für eine neue Revoluti­
on, alle zu einer Familie vereint.552
Wie die zitierten Schilderungen nahelegen, ging es jedoch den Frauen, wenn auch
vielleicht weniger dogmatisch, letztlich um nichts anderes den Männern. Kachovskaja
schreibt: „Es war nötig, sich zu beeilen, mehr zu erfahren, um besser, richtiger zu leben
und in der Freiheit zu kämpfen. Das traf insbesondere auf jene mit kurzen Strafen (ma­
losročnye) zu.“553 Auch Pirogova äußert sich so, wenn sie schreibt, in den letzten Jahren
der Katorga habe sich der Sinn des Lernens und Lehrens vom unmittelbaren Ziel der
Fortsetzung des Kampfes nach der Freilassung verschoben zu einem verstärkt individu­
ell ausgerichteten Lernen, weil nur noch die Häftlinge mit Langzeit- oder lebenslangen
Strafen im Gefängnis gesessen hätten.554 Familiär dürfte es, den Berichten nach zu urtei­
len, auch in Mal’cevskaja zu und her gegangen sein – wenn auch weniger verbissen.
Eine Portion Philanthropie mag den Bildungsaktivitäten in Akatuj in den neunziger
Jahren innegewohnt haben. Während es Pleskov stets verwehrt blieb, auch die Kriminel­
len in seine kulturelle Tätigkeit einzubeziehen,555 richteten sich in Akatuj die Anstren­
gungen explizit an diese, die mit den „Politischen“ das Leben teilten. Der Impetus war
548 PLESKOV „Vol’nyj universitet“, S. 176. Der Text ist – wie alle Erinnerungsberichte aus dem Kreis der
Gesellschaft der ehemaligen politischen Zwangsarbeiter und Verbannten – vor dem Hintergrund sei­
ner Entstehungszeit Ende der zwanziger Jahre zu sehen. Natürlich kann man auch argwöhnen, Ples­
kov sei einfach daran gelegen, Zerentuj in einem bezüglich Propagandaarbeit besonders guten Licht
darzustellen. Der revolutionäre Geist dürfte aber in Zerentuj schon zum Tragen gekommen sein.
549 PLESKOV „Vol’nyj universitet“, S. 171.
550 KORMIL’CEV Bor’ba, S. 134. Hier ist explizit derselbe Vorbehalt angebracht wie in Fußnote 548.
551 PLESKOV V gody, S. 148.
552 PLESKOV V gody, S. 148.
553 KACHOVSKAJA Iz vospominanij, S. 81.
554 PIROGOVA Na ženskoj katorge, S. 167.
555 PLESKOV V gody, S. 143.

108

4.5. Bildungsaktivitäten und der Kontakt zur Außenwelt

hier noch kein primär politischer, sondern ein sozialer und nahm, in seinem Anspruch,
die Alphabetisierungsprogramme der Bolschewiki nach der Revolution vorweg. Die
Idee stammte von Jakubovič, der die ugolovnye mit Literatur und mit Lesen und Schrei­
ben vertraut machen wollte und die Stütze dieser „Schule“ war.556
4.5.3. Das Theater von Zerentuj
Der initiative Geist und Bildungseifer beschränkte sich nicht allein auf das Vermitteln
und Gewinnen von Wissen. Im Rahmen des phasenweise lockeren Gefängnisregimes
vor 1910 und während des Ersten Weltkriegs wurden aus dem Zustand der Beschäfti­
gungslosigkeit heraus weitere kulturelle Aktivitäten geboren. Besonders innovativ war
dabei wiederum das Gefängnis von Gornyj Zerentuj, wie die Quellen nahelegen. Der
Chor, den die „Politischen“ bildeten, beeindruckte den Gefängnisdirektor so sehr, dass
er einmal dabei ertappt wurde, wie er vor der Zellentür dem Gesang lauschte. Geschick­
te Handwerker bauten sich und anderen Balalaiken und Mandolinen und formten ein
kleines Orchester.557 Auch in Kazakovo gab es während des Krieges ein Streichorches­
ter, das auf großen Anklang stieß, auch bei der örtlichen freien Bevölkerung.558
In besonderem Masse verdient aber das Theaterspiel Beachtung.559 Noch stärker als
das Singen und Musizieren vermochte es zwischen verschiedenen Ebenen vermittelnd
zu wirken: unter den politischen Sträflingen, weil sie sich durch die gemeinsame Her­
ausforderung der Improvisation und durch das Rollenspiel näherkamen; zwischen ihnen
und den Kriminellen, die über den aus Erlösen finanzierten Kinematographen dankbar
waren;560 zwischen ihnen und der Bevölkerung, deren Kulturleben die Häftlinge berei­
cherten und die aus einer Entfernung von bis zu 200 verst für die Aufführungen anreis­
ten;561 und besonders zwischen der Gefängnisadministration und den „Politischen“, weil
es den Freiraum für die kulturelle Entfaltung im Dialog mit der Obrigkeit schuf und weil
es gute Beziehungen zwischen den Sträflingen und den Aufsehern bzw. militärischen
Begleittruppen unter Beweis stellte.562 Das Theaterspiel passt deshalb nicht in die Kate­
gorie des hehren Kampfes mit der Verwaltung, auch wenn es nur unter dem zeitweise
gelockerten Regime möglich war und sich der Erfolg bei der Administration – bis hin
zum Generalgouverneur Kijaško – schließlich erst im dritten Anlauf einstellte.563 Das be­
556 FREJFEL’D Iz prošlogo (okončanie), S. 97, und ČUJKO God, S. 113. Jakubovič schildert seine Unter­
richtsversuche ausführlich in seinem literarisierten Rückblick, vgl. bes. MELSCHIN Im Lande 1, S. 166–
240, und MELSCHIN Im Lande 2, S. 251–255.
557 PLESKOV „Vol’nyj universitet“, S. 173–175.
558 EROCHOV Priiski, S. 209.
559 Vgl. dazu zusammenfassend die Ausführungen bei TAGAROV Učeba, S. 82–84; vor allem aber sehr
ausführlich (für Gornyj Zerentuj) MICHLIN Teatr, S. 90–99, und der kurze Hinweis bei PLESKOV
„Vol’nyj universitet“, S. 175.
560 MICHLIN Teatr, S. 96.
561 MICHLIN Teatr, S. 94. 1 verst entsprach 1,06 Kilometern.
562 Vgl. MICHLIN Teatr, S. 98 mit Anmerkung 3; die Soldaten gewährten den Häftlingen demgemäß freie
Bewegung, selbstverständlich unter scharfer Bewachung.
563 TAGAROV Učeba, S. 82, ordnet daher auch das Theaterspiel dem revolutionären Kampf zu. MICHLIN
Teatr, S. 90–93, schildert die Entstehungsgeschichte mit einem ersten, von der lokalen Verwaltung
abgebrochenen und einem zweiten abgelehnten Versuch. Die Administration fürchtete vor allem eine
nächtliche Flucht der „Schauspieler“, weil sich die Bühne nicht im Gefängnis selbst befand, sondern

109

OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN Mitteilung Nr. 56

deutsame am Theater von Zerentuj war die Gewährung der Möglichkeiten durch die
Verwaltung sowie der Umstand, dass es sich – wie bei den Kulturaktivitäten generell –
um Initiativen von Häftlingsseite handelte. Nicht der Gefängnisdirektor organisierte zur
Erheiterung oder Propaganda aus „seinen“ begabten Gefangenen ein Musik- oder Thea­
terensemble, wie das in den Lagerwelten des 20. Jahrhunderts vorkam.564 Die Details
über die Theateraufführungen, die in den Erinnerungsberichten, namentlich jenem Evsej
Michlins, ausgebreitet werden, sind daher zweitrangig. Wichtig erscheint bei den Kul­
turaktivitäten weniger die Form als das, was sie für die Welt der Katorga auszusagen
vermögen. Dennoch ist es, um die Bedeutung des Theaterspiels für die Haftumstände zu
verstehen, aufschlussreich zu lesen, mit wie viel Akribie und Engagement die Häftlinge
ans Werk gingen – nicht nur in der Auseinandersetzung mit dem Stück, das aufgeführt
werden sollte, sondern auch handwerklich bei der Vorbereitung der Bühne und organi­
satorisch bei der Beschaffung der Kostüme, für die im Umkreis des Gefängnisses eine
Kleidersammlung durchgeführt wurde.565 Gespielt wurden Stücke von Gogol’, Gor’kij,
Čechov und anderen; viele „Schauspieler“ aus der Arbeiterschicht waren vor der Kat­
orga-Haft nie mit Literatur in Berührung gekommen.566
Theateraufführungen veranstalteten auch einzelne der Frauen in Mal’cevskaja. Die
Ausmaße von Zerentuj erreichten die bescheidenen Auftritte allerdings nie. Aber auch
hier zeigte sich der kommunikative Wert darin, dass für die Vorstellungen alle Gefange­
nen – auch die ugolovnye – zusammenkamen und sich auch Aufseher daran erfreuten.567
Das galt auch für die Feste, die in den Gefängnissen gefeiert wurden. Für die Kinder
der kriminellen Frauen von Mal’cevskaja organisierten die „Politischen“ im Sommer
einen Maskenball,568 und die hohen kirchlichen Feiertage wurden ebenfalls begangen. In
Nižnjaja Kara wurde zu Weihnachten und Ostern gefeiert.569 Und die politischen Sträf­
linge von Gornyj Zerentuj erwähnen explizit die Feierlichkeiten zum 25. Todestag von
Karl Marx.570
Lesen, Lehren und Lernen, Musizieren, Theaterspielen und Feiern machten, je auf ih­
re Art, die Monotonie des Gefängnisalltags erträglich. Mehr als das: Sie waren ent­
scheidend für die seelische Bewältigung der Katorga – des Eingesperrtseins, der ge­
legentlichen Schikanen, der abwechslungslosen Welt. Gefühle traten zutage, und die
philosophischen Diskussionen, ausgehend von der Lektüre, reflektierten zugleich das ei­
gene, stark kollektiv geprägte Dasein.571 Die Propaganda unter den Insassen ging in den
Gefängnissen der Nerčinsker Katorga von den politischen Häftlingen aus; dass dies ge­
im Gebäude der Begleitsoldaten.
564 Tomasz Kizny hat in seinem Photoband zum Gulag den kulturellen Aktivitäten im Lager ein eigenes,
berührendes Kapitel gewidmet mit dem Titel „Le théâtre au Goulag“, vgl. KIZNY Goulag, S. 258–297.
Vgl. auch die entsprechenden Passagen bei STARK Frauen, S. 182–185, unter dem zutreffenden Titel
„Leibeigenentheater“.
565 MICHLIN Teatr, S. 95.
566 MICHLIN Teatr, S. 94f. Auch Michlin selbst lernte erst in Zerentuj lesen und schreiben, wie PLESKOV
„Vol’nyj universitet“, S. 169, anmerkt. Das Theater ging aus den Unterrichtsstunden hervor.
567 RADZILOVSKAJA/ORESTOVA Katorga, S. 47f.
568 RADZILOVSKAJA/ORESTOVA Katorga, S. 43f.
569 KON Pod znamenem, S. 264. Vgl. auch BOGDANOV Smert’, S. 102, der beiläufig die Feiern zu Weih­
nachten (Anfang der achtziger Jahre in Kara) erwähnt.
570 PLESKOV „Vol’nyj universitet“, S. 172.

110

4.5. Bildungsaktivitäten und der Kontakt zur Außenwelt

duldet werden musste, zeigt eine Seite der Ohnmacht der Administration und wider­
spricht dem Bild durchgängig rücksichtsloser, unterdrückender Haftbedingungen. Die
perekovka, die „Umschmiedung“, wie die von oben verordnete sowjetische Propa­
ganda-, Umerziehungs- und Alphabetisierungsarbeit in den Lagern am Belomor-Kanal
hieß, nahmen in der ostsibirischen Katorga die Häftlinge selbst vor.572
4.5.4. Drähte zur Außenwelt
Die Bildungs- und Kulturaktivitäten in der ostsibirischen Katorga öffneten die Welt der
Häftlinge nach außen. Mit der Lektüre der Bücher tat sich eine virtuelle Außenwelt auf,
durch die sich in Gedanken wandern ließ, die an Vergangenes erinnerte oder aus der
eine Gegenwart sprach, die für die katoržane unerreichbar war. Zeitschriften und Zei­
tungen waren noch näher als die literarischen Werke am Alltag, der außerhalb der Ge­
fängnismauern stattfand und an dessen Geschehen sich die „Politischen“ einst mehr
oder weniger aktiv beteiligt hatten. Die Bücher, Journale und Zeitungen zählten zu den
Drähten, welche die Innen- mit der Außenwelt der Katorga verbanden. Das Eintreffen
der Post war ein Ereignis; mit ihr kamen nicht nur Druckerzeugnisse, sondern auch
Briefe und Pakete von Angehörigen und Freunden.573 Deutsch berichtet aus seiner Zeit
im politischen Gefängnis von Kara (achtziger Jahre):
„Ich bin nicht imstande zu schildern, mit welcher verzehrenden Spannung manche von
uns den Posttag erwarteten und die Stunde, wo wir die Post im Gefängnis entgegen­
nehmen konnten. […] Zeitungen und Zeitschriften interessierten uns besonders, brachten
sie doch Kunde von der Welt, von den politischen Vorgängen, die uns leidenschaftlich
bewegten. Mit Heißhunger stürzte man sich in die Lektüre und alsbald gab es Stoff zu
Gesprächen und Debatten.“ 574

Ganz ungetrübt war die Freude nicht. Nur die „uninteressantesten und konservativsten
Zeitungen und Zeitschriften“ seien ihnen erlaubt worden, mit Ausnahme des „Vestnik
571 Vgl. KACHOVSKAJA Iz vospominanij, S. 77 und 81, sowie PLESKOV „Vol’nyj universitet“, S. 173, und
MICHLIN Teatr, S. 98.
572 Zur perekovka und den Blüten des (Leningrader) Kulturlebens durch die geistige Elite in den Lagern
am Belomor-Kanal vgl. den Beitrag von Schlögel, St. Petersburg, bes. S. 8–10. Auch hier wurden von
Gefangenen Vorträge gehalten und wissenschaftliche Arbeiten ausgeführt – allerdings nicht zugunsten
der anderen, sich regelrecht zu Tode schuftenden Häftlinge, sondern primär für die Lagerführung und
die GPU-Leute (Geheimdienst). Vgl. auch PRIESS Strafe, S. 30, für die sowjetische Form der učeba im
Lager. In den Gulag-Lagern gab es stets eine „Kulturerziehungsabteilung“ (Kul’turno-vospitatel’naja
čast’), die kulturelle Aktivitäten anbot, etwa Theateraufführungen, Kinovorstellungen, Konzerte,
einen Tanzabend; die Erzieherinnen rekrutierten sich oft aus den Reihen der Kriminellen, vgl. STARK
Frauen, S. 178–181, sowie den Abschnitt bei APPLEBAUM Gulag, S. 231–241. Sarkastisch ist Evgenija
Ginzburgs Bemerkung (GINSBURG Gratwanderung, S. 48): „Diese Einrichtung an sich bedeutete bereits
einen Fortschritt, da man offensichtlich von der Annahme ausging, dass auch die schlimmsten Volks­
feinde für die Allgemeinheit gerettet werden konnten, wenn man nur keine Mühe scheute, sie umzuer­
ziehen.“ – Die Beispiele verdeutlichen die Tatsache, dass von Häftlingsinitiative nicht die Rede sein
konnte; die Kultur wurde verordnet und stand niemals im Zentrum des Alltags. Gulag-Häftlingen war
es auch kaum darum, Eigeninitiative zu beweisen; sie waren mit Überleben vollauf beschäftigt.
573 Die Post traf im Sommer jede Woche, im Winter alle zehn Tage im Kara-Tal ein, wie KON Pod zna­
menem, S. 234, erwähnt. Aus einer Bemerkung (ebd., S. 268) geht hervor, dass er die Frequenz eher
bescheiden fand.
574 DEUTSCH Sechzehn Jahre, S. 234.

111

OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN Mitteilung Nr. 56

Evropy“ („Bote Europas“), schreibt Deutsch.575 Pribyleva berichtet allerdings aus der
ersten Hälfte der achtziger Jahre (im Frauengefängnis an der Kara) davon, dass ihre Mit­
gefangene Natalija Armfel’d sich sogar englischsprachige Zeitungen zukommen ließ,
um ihre Sprachkenntnisse zu festigen.576
Die Anteilnahme am Geschehen in Russland und in der Welt nahm mitunter ein er­
staunliches Ausmaß an. Das traf besonders auf die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg und
während des Krieges zu. „Das Interesse an den Kriegsereignissen einte irgendwie alle“,
schreibt Antonija Pirogova für die kleine weibliche Häftlingsgesellschaft in Akatuj. 577
Ebenso aber entzündete sich Streit an unterschiedlichen Einschätzungen, und die Frage,
ob man für oder gegen den Krieg sei, wurde, wie V. Ul’janinskij aus dem Katorga-Zen­
tralgefängnis von Aleksandrovsk bei Irkutsk berichtet, ambivalent beurteilt. Das In­
teresse am Krieg, bereits an seinem Vorspiel auf dem Balkan, lag, zum einen, sehr stark
in der Erinnerung an die revolutionären Folgen des russisch-japanischen Kriegs be­
gründet und in der Hoffnung, ein neues kriegerisches Engagement des Imperiums könn­
te der Herrschaft des Zaren endgültig das Genick brechen.578 Zum andern schlossen sich
die „Politischen“ ideologisch den Parolen ihrer Genossen an, die schon 1912 den Krieg
aus Sicht des internationalen Proletariats abgelehnt hatten.579 Insofern balancierten sie
zwischen ihrer ideologischen Überzeugung und ihrer Position als Gegner des herrschen­
den Regimes, als die sie den Sturm, der das verhasste System wegfegen könnte, nicht
gänzlich ablehnen konnten.580 Die Auseinandersetzung mit dem Krieg veranlasste die
Häftlinge – teilweise noch vor dessen Ausbruch – dazu, Strategie- und Taktikbücher zu
studieren und zu diskutieren; ein auswärtiger Referent, der bereits vor Verbannten an
der Lena gesprochen hatte, trat auf seiner Rückreise im Gefängnis mit einem Vortrag
über die internationale Lage auf.581 Anfangs erreichten Zeitungen mittels Aufseher und
im Außeneinsatz arbeitender Mitgefangener die Sträflinge, später war der Empfang ört­
licher Zeitungen erlaubt; täglich meldete sich ein Bekannter aus Irkutsk per Telephon
beim starosta und informierte über die neueste Kriegslage. Schließlich gab es sogar
Häftlinge, die unter Pseudonym Hintergrundartikel in der Irkutsker Zeitung „Sibir’“
veröffentlichten.582 In der Intensität der Anteilnahme am weltpolitischen Umbruch re­
flektierte sich die Bedeutung der Drähte zur Außenwelt. Vor allem aber verweist sie auf
die Haftbedingungen in der Katorga. Den politischen Häftlingen standen zuverlässige
Informationsquellen zur Verfügung; ihr Alltag erlaubte es ihnen, sich mit den Neuigkei­
ten ausgiebig zu beschäftigen – und sich sogar durch die Zeitungsartikel einzelner ihrer
Exponenten in die öffentliche Meinungsbildung einzuschalten.
575 DEUTSCH Sechzehn Jahre, S. 235.
576 PRIBYLEVA Moi vospominanija, S. 143. Das Frauengefängnis wurde überdies regelmäßig mit sibi­
rischen Zeitungen versorgt, ebd., S. 133.
577 PIROGOVA Na ženskoj katorge, S. 166.
578 UL’JANINSKIJ Mirovaja vojna, S. 77. Es stellt sich natürlich einmal mehr die Frage, inwieweit der Autor
hier seinen Erinnerungen an damalige Gedanken vertraut oder eine Beurteilung der Situation ex post,
aus dem Wissen des Zusammenhangs von Erstem Weltkrieg und der Februarrevolution 1917, vor­
nimmt.
579 UL’JANINSKIJ Mirovaja vojna, S. 79.
580 Über das ideologische Gefüge im Gefängnis vgl. UL’JANINSKIJ Mirovaja vojna, S. 80.
581 UL’JANINSKIJ Mirovaja vojna, S. 77 und 81.
582 UL’JANINSKIJ Mirovaja vojna, S. 82.

112

4.5. Bildungsaktivitäten und der Kontakt zur Außenwelt

Neben der medialen Verbindung zur Außenwelt besaß die persönliche Korrespon­
denz einen großen Stellenwert. Der briefliche Austausch zwischen Kara und der Heimat
erfolgte wegen der gewaltigen Distanz nicht nur sehr verzögert; die Briefe wurden auch
zensuriert und auf eventuelle versteckte Botschaften hin chemisch behandelt. Unter den
damaligen Bestimmungen durften die Häftlinge die Post nicht individuell beantworten,
sondern hatten nur das Recht, auf einer Postkarte im Namen des Gefängniskom­
mandanten eine gänzlich unpersönliche Empfangsbestätigung zurückzuschicken.583 Die­
se Regelung bedeutete allerdings bereits einen Fortschritt gegenüber den Verschär­
fungen, die 1880 im Zuge der Separierung und Sonderbehandlung der „Politischen“ im
Kara-Tal angeordnet worden waren; damals war die Möglichkeit des zwar zensurierten,
aber vergleichsweise freien Briefwechsels mit der Heimat vollständig aufgehoben wor­
den.584 Später galten weniger restriktive Vorgaben. In Mal’cevskaja, wo ein vergleichs­
weise schwaches Regime herrschte, durften die „Politischen“ zweimal im Monat einen
Brief schreiben, der jedoch der Zensur unterworfen war. Am Eintreffen neuer Briefe
nahm das gesamte Gefängnis Anteil.585 So war es auch mit den Besuchen. Prinzipiell
war es Familienmitgliedern von Sträflingen möglich, über den Generalgouverneur die
Bewilligung für einen Besuch zu erwirken. Die beschwerliche Reise in die „andere
Welt“ der Katorga schreckte potentielle Besucher ab; immer wieder weilten aber Ange­
hörige in der Nähe von Mal’cevskaja, beispielsweise Irina Kachovskajas Mutter. Die
Begegnungen fanden in Anwesenheit von Vertretern der Gefängnisadministration statt;
als Gesprächsthema war nur Familiäres gestattet.586 Willkommene Botschafter aus der
zurückgelassenen Welt waren schließlich auch die Neuankömmlinge.587
Auch jenseits dieser legalen Verbindungen zur Außenwelt pflegten die politischen
Häftlinge oft vielfältige Kontakte. Sie korrespondierten mit Insassen anderer Gefäng­
nisse oder mit einstigen Mitgefangenen, die nun im „Freien Kommando“ (vorzeitige
Haftentlassung) oder in der Ansiedlung lebten.588 Dafür waren sie auf Mittelspersonen
angewiesen. Im Falle des Austauschs zwischen Gornyj Zerentuj und Mal’cevskaja, der
dank der Nähe der Gefängnisse zueinander relativ eng sein konnte, wirkten Kriminelle
sowie der Arzt Dr. Rogalev, der ein vertrauliches Verhältnis zu den „Politischen“ pfleg­
te und in beiden Gefängnissen tätig war, als Transporteure der illegalen Korrespon­
denz.589 Ähnlich verhielt es sich in den neunziger Jahren zwischen Akatuj, Algači und
dem an der Kara verbliebenen „Freien Kommando“.590 Auf diesem Weg verbreiteten

583 DEUTSCH Sechzehn Jahre, S. 235, ebenso KON Pod znamenem, S. 278f.
584 BOGDANOVIČ Posle pobega, S. 73f.
585 RADZILOVSKAJA/ORESTOVA Katorga, S. 47.
586 RADZILOVSKAJA/ORESTOVA Katorga, S. 46f., und KACHOVSKAJA Iz vospominanij, S. 86.
587 KACHOVSKAJA Iz vospominanij, S. 83. Vgl. auch die Bemerkungen im Kap. 4.1 (S. 65).
588 Wie bereits erwähnt (Fußnote 547), wirkten Ansiedler zuweilen als Korrespondenten für die gefäng­
nisinternen, handgeschriebenen Zeitungen, PLESKOV „Vol’nyj universitet“, S. 169.
589 Für die eine Seite (Mal’cevskaja) RADZILOVSKAJA/ORESTOVA Katorga, S. 47, KACHOVSKAJA Iz vospomi­
nanij, S. 86, sowie für die andere Seite (Zerentuj) PLESKOV V gody, S. 149, und PLESKOV „Vol’nyj uni­
versitet“, S. 172. Nicht unwichtig war auch die gute Beziehung, die Frejfel’d dank seinen medizini­
schen Künsten zur Gattin des Gefängnisdirektors Archangel’skij in Akatuj (neunziger Jahre) unter­
hielt, vgl. FREJFEL’D Iz prošlogo (okončanie), S. 99.
590 FREJFEL’D Iz prošlogo (okončanie), S. 98.

113

OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN Mitteilung Nr. 56

sich Informationen zwischen den Gefängnissen oft sehr schnell – und sehr weit.591 Als es
in Zerentuj unter dem harten Regime des Gefängnisdirektors Vysockij 1910 zu einer
Protestwelle kam, die im Selbstmord des Pleve-Attentäters Sazonov gipfelte, zirkulierte
die Nachricht alsbald in St. Petersburg und wurde von dort, dargestellt als Beispiel für
die Grausamkeit des zarischen Strafsystems, in die Welt hinaus getragen.592 Bereits die
bevorstehende Amtsübernahme Vysockijs in Zerentuj war als Gerücht aus dem Gefäng­
nis gekommen, noch ehe Čemodanov, der interimistische Vorsteher, von seinem Vorge­
setzten davon unterrichtet worden war.593 Möglich war dies, weil die „Politischen“ nicht
nur mit anderen Gefängnissen in Kontakt standen, sondern auch mit ihren Parteileitun­
gen und Duma-Fraktionen an der Neva korrespondierten.594 Dabei ergaben sich zuweilen
auch kuriose Situationen, etwa dann, wenn die Katorga-Häftlinge im Gegensatz zu loka­
len Parteiorganisationen über die einschlägige ausländische Literatur verfügten und die­
se, zusammen mit selbstverfassten politischen Pamphleten, den Parteigenossen in der
Freiheit zukommen ließen.595
Mit der Bevölkerung, die in den Dörfern und Städten in der Nähe der Katorga-Ge­
fängnisse siedelte, standen die Häftlinge in der Regel nicht in Kontakt. Ausnahmen gab
es aber auch hier – etwa die Theatervorstellungen in Zerentuj während des Krieges, von
denen bereits die Rede war; wie Michlin berichtet, endeten die Aufführungen im Tanz
der „Schauspieler“ mit den Zuschauern, so dass sich katoržane und Dorfbewohner buch­
stäblich in den Armen lagen.596 Eine wichtige Schnittstelle war das „Freie Kommando“,
wo jene Häftlinge in kleinen eigenen Hütten oder als Untermieter bei Bauernfamilien
wohnten, die nach Ablauf eines Drittels ihrer Straffrist aus dem Gefängnis entlassen
worden waren, aber noch dem Gefängnisadministration unterstanden, bevor sie dann zur
Ansiedlung in ein entfernteres Gebiet geschickt wurden. Den Entfaltungsmöglichkeiten,
die das freiere Leben bot, stand die Schwierigkeit gegenüber, für sich selbst sorgen zu
müssen.597 Einzelne entwickelten aber bemerkenswerte Eigeninitiative. So richteten Ro­
591 Auch über kurze Distanz konnte es aber zu entscheidenden Verzögerungen kommen. Das politische
Gefängnis an der Kara stand mit dem „Freien Kommando“ in Kontakt und dadurch indirekt auch mit
den weiblichen politischen Sträflingen. Eine Nachricht über Vorgänge im Frauengefängnis 1889, die
zur sogenannten „Tragödie von Kara“ führten, erreichte die Männer aber erst vier Wochen später, vgl.
KON Pod znamenem, S. 297.
592 Davon berichten sowohl ČEMODANOV Katorga, S. 95, als auch PLESKOV V gody, S. 150. Letzterer er­
klärt, nur dank dem „Freien Kommando“ hätten Russland und Europa davon Kenntnis erhalten.
593 ČEMODANOV Katorga, S. 80.
594 PLESKOV V gody, S. 149, und PLESKOV „Vol’nyj universitet“, S. 173. Die Parteizentralen schickten
manchmal auch Geld, vgl. KRAMAROV Kommuny, S. 138.
595 PLESKOV „Vol’nyj universitet“, S. 173.
596 MICHLIN Teatr, S. 98 mit Anmerkung 2.
597 Vgl. KACZYNSKA Gefängnis, S. 96f., sowie für die neunziger Jahre KOVAL’SKAJA V Gornom Zerentue, S.
154–160, und IVANOVSKAJA Pis’ma, S. 144–150; für Mal’cevskaja und Akatuj RADZILOVSKAJA Koman­
da, und ORESTOVA Komanda, sowie ein Brief vom 9. November 1909 einer mit „R.“ zeichnenden „Po­
litischen“ über die ersten Erfahrungen im „Freien Kommando“; der Brief ist von Vera Figner ediert
worden, vgl. FIGNER Pis’ma, S. 219–221. Das „Freie Kommando“ wurde gleichwohl zumeist als Privi­
leg wahrgenommen. Die Möglichkeit stand den „Politischen“ erst durch die Gleichstellung mit den
Kriminellen 1890 rechtmäßig zu (wenngleich auch Mitte der achtziger Jahre bereits ein „Freies Kom­
mando“ an der Kara bestand (KENNAN Siberia II, S. 187–195), und war, neben dem Negativum des ge­
meinsamen Alltags mit den Verbrechern, eines der „Zuckerbrote“ dieser Neuorganisation; vgl. die
entsprechende Dokumentation bei FOMIN Katorga, S. 20. 1880/81, im Zuge der Verschärfungen der

114

4.5. Bildungsaktivitäten und der Kontakt zur Außenwelt

mual’d Maleckij und Vladimir Pleskov am Ende des ersten Jahrzehnts des 20. Jahr­
hunderts im „Freien Kommando“ von Zerentuj eine Schule für die Kinder der Gefäng­
nisangestellten und des Ortes ein; auch sie war ein Ort der Kommunikation, wo Eltern,
Schüler und die außerhalb des Gefängnisses lebenden Häftlinge sich austauschen konn­
ten.598 Die Schule war verbunden mit einem Heim für Kinder der Häftlinge, das in einem
stattlichen Gebäude untergebracht war. Gegründet einst von einer Petersburgerin mit hu­
manitärer Ader, war es aus der Hauptstadt lange unterstützt worden und musste später
um seine Existenz kämpfen. Čemodanov nennt es in seinen Memoiren eine „leuchtende
Oase“.599
Pauschal für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts von einem „Regime vollständiger
Isolierung“ der politischen Häftlinge von der Gesellschaft zu sprechen, wie dies Moški­
na tut, ist trotz den Verschärfungen nach 1880 unhaltbar.600 Dasselbe gilt für die letzte
Periode der Katorga nach der Jahrhundertwende, obwohl immer wieder versucht wurde,
die Freiräume einzuschränken. Diese blieben aber auch in Bezug auf die Möglichkeiten,
mit der Außenwelt in Verbindung zu treten, bestehen; ihre Dimension korrelierte frei­
lich mit den Haftbedingungen. Die „Politischen“ hatten, übers Ganze gesehen, regelmä­
ßigen Zugang zu persönlichen und allgemeinen Nachrichten, und die illegalen Kanäle
funktionierten dank zahlreichen Intermediären bis in die Parteizentralen – in beide Rich­
tungen. Die Drähte zur Außenwelt waren ziemlich dicht. Die Welt der Katorga lag ab­
seits, aber nicht auf einem anderen Planeten.
4.6. Provokation, Widerstand, Flucht: Die Häftlinge und die
Gefängnisadministration
Die Welt der Katorga war eine Welt der Demütigungen und Schikanen. Diese waren ei­
ner Strafform inhärent, die einem vergangenen Disziplinierungsverständnis entstammte
und erst spät von den Marter- und Brandmarkungsvorgängen geschieden worden war.
Einzelne Teile davon hatten überlebt: die Rasur der einen Kopfhälfte, das Anschmieden
eiserner Fesseln an den Füßen und bisweilen auch den Händen, die Prügelstrafe.601 Mit
verbalen Schikanen, Einschränkungen der Freiräume und drohenden demütigenden Stra­
fen versuchten die Verantwortlichen des Verbannungssystems – vom Minister in Peters­
burg über den zuständigen Generalgouverneur bis zu den Gefängnisdirektoren und Auf­
sehern – die Macht zu demonstrieren, mit der sie die Ordnung in den Katorga-Gefäng­
nissen aufrechterhalten wollten. Oft zeigte sich gerade darin ihre Ohnmacht. Die Demü­
tigungen unterschiedlichen Grades wurden von den Häftlingen als Provokation verstan­
Haftbedingungen für politische Gefangene, waren Sträflinge, die durch den damaligen Kommandan­
ten Kononovič eigenmächtig ins „Freie Kommando“ geschickt worden waren, ins Gefängnis zurück­
geholt worden. Vgl. KENNAN Siberia II, S. 207–210.
598 PLESKOV V gody, S. 150. Die Schule wurde vom Gefängnisdirektor Vysockij geschlossen und später
von Pleskov in der Ansiedlung am Baikalsee fortgeführt. Ausführliche Würdigung bei ČEMODANOV
Katorga, S. 68.
599 ČEMODANOV Katorga, S. 67f. Erwähnt auch bei FREJFEL’D Iz prošlogo (okončanie), S. 105.
600 MOŠKINA Katorga, S. 48.
601 Vgl. SCHRADER Languages, S. 111, zur Körperstrafe im Verbannungssystem und DALY Punishment, S.
355, zum Verhältnis von Rückständigkeit und Verbannungssystem im Russischen Reich.

115

OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN Mitteilung Nr. 56

den und erzeugten entsprechend provokative Reaktionen. Diese drückten sich aus in
Fluchtversuchen und Protesten bis hin zur Selbstopferung.
Die Haftbedingungen lassen sich von keinem der Themenkomplexe trennen, welche
die Welt der Katorga beschreiben: Von der Ankunft im „Archiv der Revolutionäre“ über
die Organisation des Zusammenlebens und der Arbeit bis zur Gestaltung der Freiräume
und zur Kommunikation mit der Außenwelt legte das Regime den Rahmen fest für den
Alltag der Häftlinge, der seinerseits ein Spiegelbild der durch die Administration ge­
duldeten Freiheiten und verfügten Einschränkungen darstellt. Wenngleich bereits ein
vielfältiges Bild der Haftbedingungen gezeichnet worden ist, sind die Mechanismen der
Wechselbeziehung zwischen der Häftlingsgesellschaft (mit ihren inneren Brüchen) und
der Administration der Gefängnisse eine gesonderte Betrachtung wert. Die Mechanis­
men sind auch deshalb von Bedeutung, weil sie im Kleinen auf das Verhältnis von (sich
emanzipierender) Gesellschaft und Obrigkeit im ausgehenden Zarenreich insgesamt zu
verweisen vermögen. Überdies korrelierten die Haftbedingungen besonders nach der
Revolution von 1905 mit der sich verschärfenden innenpolitischen Lage;602 zwischen
1906 und dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs häuften sich auch in der Nerčinsker Kat­
orga die Konflikte.
In den Erinnerungsberichten nehmen die Schilderungen vom Kampf der unterdrück­
ten politischen Häftlinge gegen die Gefängnisobrigkeit einen wichtigen Platz ein. Sie
dienten bereits in den Memoiren, noch stärker aber in ihrer Rezeption durch die sowje­
tische Forschung, als Beispiel für die auch in der Katorga zu allem entschlossenen Re­
volutionäre.603 Nicht dieser Topos und nicht die Details der einzelnen Ereignisse inter­
essieren aber primär, sondern die Auskünfte, die sie über das Funktionieren eben jener
Mechanismen der Wechselbeziehungen zu geben vermögen, die zeigen, in wessen Hän­
den die Macht tatsächlich lag.
4.6.1. Symbole der Demütigung – Zwischen Duldung und Aufbegehren
Zwischen den Vorgaben und der Wirklichkeit klaffte in der Katorga des ausgehenden
Zarenreichs immer eine große Lücke. Das traf auf die fehlenden Arbeitsmöglichkeiten
für Zwangsarbeitshäftlinge zu, aber auch das Regime im Gefängnis entsprach selten ge­
nau den Reglementen. Deren Einhaltung war Zyklen unterworfen, die von äußeren Fak­
toren – politischen Veränderungen, neuen Haftkonzepten – bestimmt waren. Relative
Freiheiten, die nach einiger Zeit zu Traditionen wurden, konnten plötzlich umgestoßen
werden zugunsten einer vermeintlich exakteren, häufig auch willkürlichen Auslegung
alter oder neuer Vorschriften. Oft gingen jene, die den Sturm entfachten, in ihm alsbald
unter; scharfe Bedingungen ließen sich kaum je lange halten.
Demütigungen sind mit Symbolen verbunden. Zeichenhaft erfolgte die Verwandlung
des gewöhnlichen Häftlings in einen katoržanin vor dem Transport nach Osten durch
602 Vgl. die Ausführungen im Kap. 2.1 (S. 23) und 2.3 (S. 31).
603 Für die Rezeption in der sowjetischen Forschung vgl. die Beiträge von PATRONOVA Karijskaja tragedia,
S. 81–103, und TAGAROV Protesty, S. 62–88, die auf Memoiren und auf Archivquellen beruhen, aber
in der bekannten Art wenig Erhellung bringen, sondern in additiver Form oft dramatisierend die Er­
eignisse nachzeichnen.

116

4.6. Provokation, Widerstand, Flucht: Die Häftlinge und die Gefängnisadministration

das Rasieren der rechten Kopfhälfte, das Anlegen der eisernen Fesseln und das Ein­
kleiden in den uniformen grauen Mantel, den chalat.604 Symbolhafte Handlungen waren
es auch, die in den Augen der politischen Sträflinge die Haftumstände später in den Kat­
orga-Gefängnissen besonders schwer erträglich machten. Zu diesen zählten – weiterhin
– das Rasieren und die Fesseln, die Körperstrafe sowie, vor allem seit der formellen
Gleichstellung der politischen mit den kriminellen Katorga-Häftlingen 1890, die Frage
der Begrüßung und der Anrede durch die Gefängnisadministration.605 Die Androhung,
Anordnung oder Vollstreckung der Körperstrafe sowie die verbale Behandlung der „Po­
litischen“ entwickelten sich zum Angelpunkt der Beziehungen zwischen den Insassen
und der Verwaltung, weil die katoržane nicht bereit waren, auf das zu verzichten, was
sie als für ihre Würde als Menschen grundlegend erachteten. Die Körperstrafe bedeutete
den schärfsten Angriff auf ihre physische und psychische Integrität.606 Aber sie emp­
fanden auch das Duzen (tykanie) durch die Aufseher und Gefängnisleitung und deren
Begrüßungsformel „Smirno, šapki doloj! Zdorovo, rebjata!“ („Achtung, Mützen ab!
Guten Tag, Burschen!“) mit der vorgesehenen Antwort der Häftlinge „Zdravja želaju,
vaše blagorodie!“ („Ich wünsche Gesundheit, Euer Wohlgeboren!“) als erniedrigend
und weigerten sich, nach den Vorstellungen der Obrigkeit zu reagieren.607 Für ihre Wür­
de – und jene ihrer Mitgefangenen – waren sie bereit, Karzerhaft auf sich zu nehmen, in
den Hungerstreik zu treten und, in dessen Konsequenz, nötigenfalls auch ihr eigenes Le­
ben zu opfern.608
Die meisten dieser Symbole relativierten sich im Katorga-Gefängnis mindestens teil­
weise. Das galt nicht für die Phasen der Verschärfungen, die sich in Nižnjaja Kara zwi­
schen 1881/2 und 1885 über eine längere Zeit erstreckten609 und in der Nerčinsker Kat­
orga zwischen 1910 und 1912 gehäuft auftraten. Vor und nach dem Intermezzo der Här­
te und der Proteste waren die Haftbedingungen an der Kara vergleichsweise locker. Im
vorübergehenden Gefängnis für die „Politischen“ in Srednjaja Kara 1881 befanden sich
die Aufseher bis auf die morgendlichen und abendlichen Kontrollen und die militärische
Bewachung außerhalb der Umfriedung des Gefängnisses, so dass die Häftlinge sich in
Gebäude und Hof frei bewegen konnten.610 Auch in der zweiten Hälfte der achtziger Jah­
604 Das Rasieren betraf, wie früher dargelegt, natürlich nur die Männer. Vgl. die Ausführungen im Kap.
3.2.2 (S. 47).
605 Vgl. für die Haftbedingungen nach 1890 das Reglement, das bei FOMIN Katorga, S. 20–24, abgedruckt
ist.
606 Vgl. stellvertretend für weitere Einschätzungen KON Pod znamenem, S. 301.
607 Die Regelungen zur Begrüßung sind in dem bei FOMIN Katorga, S. 20–24, dokumentierten Reglement
ebenfalls festgehalten, vgl. ebd., S. 22. Beispiele für die Probleme bei der Umsetzung bei SLOMJANSKIJ
V Algačach, S. 139f., OZEROV Put’, S. 158f., und FOMIN Katorga, S. 38f. (für Kutomara). Der General­
gouverneur wünschte statt mit „vaše blagorodie“ mit „vaše prevoschoditel’stvo“ („ihre Exzellenz“)
angesprochen zu werden, vgl. ŽUKOVSKIJ-ŽUK V dni, S. 177.
608 Zur Karzerhaft vgl. SLOMJANSKIJ V Algačach, S. 141. Im Karzer von Algači herrschte große Kälte und
eine Wanzenplage; die Essensration betrug pro Tag 500 Gramm Brot sowie Wasser. Zur Opferbereit­
schaft vgl. u.a. KON Pod znamenem, S. 310f.
609 Die Zeit zwischen 1881 und 1885 war für die „Politischen“ an der Kara durch eine massive Ein­
schränkung der Freiräume (Korrespondenz, Arbeitsmöglichkeit, Hofgang, Fesseln) und die Sistierung
des „Freien Kommandos“ gekennzeichnet, vgl. KENNAN Siberia II, S. 208f., 216, 259f. sowie LEVČEN­
KO Pobeg, S. 56, BOGDANOVIČ Posle pobega, S. 73f., und MOŠKINA Katorga, S. 24f.
610 LEVČENKO Pobeg, S. 55.

117

OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN Mitteilung Nr. 56

re, im politischen Gefängnis von Nižnjaja Kara, ließ die Gefängnisadministration den
Sträflingen viel Freiraum, so dass Feliks Kon sogar zu sagen wagt: „Innerhalb des Ge­
fängnisses waren wir die Herren …“611 – was die Ausführungen über die Organisation
des Häftlingsalltags bereits bestätigt haben. Die einzige der obrigkeitlichen Symbol­
handlungen, die zum Unbehagen der katoržane konsequent durchgeführt wurde, war das
Rasieren der Kopfhälfte, um die Fluchtgefahr zu verringern, wie es offiziell hieß, aber
ebenso sehr dürfte die Zeichenhaftigkeit dieses Vorgangs den Ausschlag gegeben haben.
Wegen der Fluchtgefahr war es auch verboten, gewöhnliche Schuhe zu tragen, während
sonst eigene Wäsche erlaubt war.612 Am zufriedensten war Kon über den Umgang mit
den Fesseln:
„Am besten verhielt es sich mit den Fesseln. Sie waren bei uns im Kleidersack aufbe­
wahrt … Der Leitung gelang es nicht, uns dazu zu zwingen, sie zu tragen, und sie kapitu­
lierte, indem sie nur durchsetzte, dass wir sie trugen während des Besuchs einer höheren
Obrigkeit.“613

Zu einer anderen Einschätzung kommt Leo Deutsch, der sich über die „Härten des Ge­
fängnisregimes“ beklagt und weiterhin anführt: „das Rasieren des Kopfhaares, das mit
peinlicher Regelmäßigkeit vollzogen wurde, der fortwährende Anblick der verhassten
Gendarmen, der Appell morgens und abends, die Revisionen usw.“614. Über die demüti­
genden Praktiken, welche die Haft mit sich brachte, besteht keinerlei Zweifel; ange­
sichts der Tatsache, dass Deutsch sich im offiziell härtesten Strafvollzug des Zarenrei­
ches befand, und vor dem Hintergrund der durch die Administration geduldeten Freiräu­
me lässt sich allerdings gleichwohl nach der Verhältnismäßigkeit dieser Klage fragen.615
Ob der friedlichen Koexistenz mit der Obrigkeit in den achtziger Jahren fühlte sich der
Revolutionär Kon jedoch anscheinend beim Abfassen seiner Memoiren – diese erschie­
nen 1926 – unter Rechtfertigungsdruck. Selbstkritisch nennt er die Stimmung im Ge­
fängnis spießbürgerlich. Obwohl sie sich erst spät (1888) aufzulehnen begannen, hätten
aber spätestens jene Häftlinge, die 1905 an der Revolution beteiligt waren, bewiesen,
dass ihre „revolutionäre Flamme“ nicht erloschen sei.616 Ähnlich rechtfertigend äußert
sich Vladimir Pleskov für die Zeit nach 1908 in Zerentuj; im Umgang mit der Adminis­
tration hätten die „Politischen“ bewusst vielfach laviert, um nicht unnötig Kräfte zu ver­
brauchen, die für den revolutionären Kampf noch benötigt würden.617 Dass ein von Zwi­
schenfällen, Provokationen und Auseinandersetzungen möglichst ungestörter Häftlings­
611 KON Pod znamenem, S. 274.
612 KON Pod znamenem, S. 274.
613 KON Pod znamenem, S. 274.
614 DEUTSCH Sechzehn Jahre, S. 233. Vgl. auch ŽUKOV Iz nedr, S. 75.
615 Der Kommandant des politischen Gefängnisses in Nižnjaja Kara, Nikolin, der bis 1887 im Amt war,
schilderte gegenüber Kennan das Leben der „Politischen“ sehr positiv (KENNAN Siberia II, S. 178–
181); diese Schilderungen enthalten einige Übertreibungen, gleichen aber jenen, die in den Häftlings­
berichten Deutschs und Kons zu lesen sind. Kennan, der diesem Bild heftig widerspricht, hatte keinen
Zugang zum politischen Gefängnis, sondern bezog seine Informationen aus zweiter Hand.
616 KON Pod znamenem, S. 263f. In diesem Zusammenhang betont Kon seine „Objektivität“ in der Schil­
derung der Ereignisse. Die Selbstrechtfertigung wie auch dieser Hinweis ist im Kontext der Ent­
stehungszeit des Erinnerungsberichts festzumachen und zeigt, dass der Standort des Memoiristen bei
der kritischen Lektüre und Auswertung stets mitgedacht werden muss.
617 PLESKOV V gody, S. 143.

118

4.6. Provokation, Widerstand, Flucht: Die Häftlinge und die Gefängnisadministration

alltag allen Beteiligten zugute kam, musste hinter der ideologischen Argumentation ver­
schwinden. Eine zentrale Rolle in der Kommunikation zwischen dem Häftlingskollektiv
und der Obrigkeit kam dem starosta, dem Vorsteher der Kommune, zu. Er musste die
Interessen der Häftlinge bei der Gefängnisleitung vorbringen, ohne diese zu provozie­
ren.618
Die Änderung der Strafpolitik 1890 führte, wie bereits in anderen Zusammenhängen
dargestellt, wenigstens für das letzte Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts zu einer strikteren
Anwendung einiger Zwangsmaßnahmen.619 Die Fußfesseln waren nun bei allen Sträf­
lingen wieder Pflicht, ebenso die offizielle Gefängniskleidung. Nach Auseinanderset­
zungen zwischen der Gefängnisadministration und den „Politischen“ erwirkten diese
aber, dass bei den umstrittenen Begrüßungsformeln vom Reglement abgewichen wur­
de.620 Die rechte Kopfhälfte wurde weiterhin regelmäßig rasiert, bei harschem Regime
sogar dann, wenn es sich um einen Epileptiker handelte, der eigentlich von der Maßnah­
me befreit sein sollte.621
Nach der Revolution von 1905, als die Zahl der politischen Häftlinge wieder stark
anstieg und revolutionär gestimmte, breite Bevölkerungssegmente in der Katorga Ein­
zug hielten, herrschte, je nach Gefängnis unterschiedlich lange, die insgesamt wohl frei­
heitlichste Zeit in den Haftanstalten des Nerčinsker Kreises.622 Der glücklose Vorsteher
der Nerčinsker Katorga Metus (er wurde später ermordet) sprach bei seinem Amtsantritt
vom „Regime eines Klubs“ und von einer „empörenden Verhöhnung des Gesetzes“; so
wurden in Zerentuj damals keine Fesseln getragen, die Zellentüren standen offen, die
Häftlinge trugen ihre eigene Kleidung, kommunizierten mit der Außenwelt und hatten
freie Hand bei der Organisation ihres Kollektivs.623 Wenngleich ab 1907 das Regime
wieder anzog, blieben viele Freiräume bis 1910 offen, zumal in Gornyj Zerentuj – und
im Frauengefängnis Mal’cevskaja, obwohl das vermutlich in besonderem Maße unbeab­
sichtigt war. Denn die weiblichen politischen Katorga-Sträflinge wurden 1907 auf An­
ordnung des Generalgouverneurs von den Männern in Akatuj separiert und sollten unter
strengen Bedingungen in einem eigenen Gefängnis ihre Haft verbüßen.624 In Mal’cevska­
ja bestanden jedoch bis 1911 (als die Überführung von 1907 unter umgekehrten Vorzei­
chen rückabgewickelt wurde) besonders große Freiräume. Die demütigenden Symbol­
handlungen der Obrigkeit waren auf ein Minimum beschränkt – es gab keine Fesseln,
618 Das galt über die ganze Zeit der Katorga hinweg; vgl. für Nižnjaja Kara in den achtziger Jahren KON
Pod znamenem, S. 269, für Akatuj 1890 ČUJKO God, S. 112f., und für Zerentuj 1908–1910 PLESKOV
„Vol’nyj universitet“, S. 166, und ČEMODANOV Katorga, S. 57f. aus Sicht des Gefängnisdirektors. Vgl.
die Ausführungen im Kap. 4.2.2. (S. 79) zur politischen Organisation in der Kommune.
619 Vgl. das Reglement bei FOMIN Katorga, S. 20–24.
620 ORLOV Ob Akatue, S. 106f.
621 FREJFEL’D Iz prošlogo (okončanie), S. 98.
622 Vgl. RADZILOVSKAJA/ORESTOVA Katorga, S. 19, und ŽUKOV Režim, S. 120f.
623 ŽUKOV Režim, S. 120. Vgl. auch FOMIN Katorga, S. 25. Zur Ermordung Metus’ vgl. ŽUKOV Režim, S.
123.
624 Bei FOMIN Katorga, S. 25, ist das Telegramm von Metus an den Gefängniskommandanten von Akatuj
vom 2. Februar 1907 abgedruckt, worin Metus die Überführung der Frauen nach Mal’cevskaja ver­
fügt; ebd., S. 24, findet sich die Anweisung des Generalgouverneurs Ėbelov an Metus vom 6. Januar
1907 zur Verschärfung der Haftbedingungen in Akatuj sowie im künftigen Frauengefängnis von Mal’­
cevskaja.

119

OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN Mitteilung Nr. 56

keine Häftlingskleidung, keine erniedrigenden Anreden. Die Frauen seien der Adminis­
tration mit Stolz gegenübergetreten, aber ohne zu provozieren, schreiben Fanni Radzi­
lovskaja und Lidija Orestova.625 Auch Irina Kachovskaja resümiert: „Die weibliche Kat­
orga entbehrte der blutigen Dramatik der Männergefängnisse, aber unser Mal’cevskaja
zeichnete sich ganz besonders durch ein ausgesprochen ruhiges, tatsächlich durch nichts
aufgewühltes Leben aus.“626
Im Zuge der Protestwellen mit blutigen Folgen (Selbstmorde, Körperstrafen) nach
1910 in den Männergefängnissen, die Kachovskaja indirekt anspricht, endete auch für
die Frauen – allerdings ohne dass es zu einem Zusammenstoß gekommen wäre – die
Zeit der relativen Freiheit. In Akatuj herrschte fortan ein anderer Umgangston, aber zu
größeren Auseinandersetzungen kam es, trotz Restriktionen und zeitweiligen Schikanen,
auch hier nicht.627
4.6.2. Typologien und Strategien der Obrigkeit
In der Haltung der Gefängniskommandanten (und ihrer Vorgesetzten) zu den politischen
Sträflingen waren Ambivalenzen selten. Das bedeutete nicht zwingend, dass ihr Regi­
ment besonders unerträglich und ihr Auftreten besonders demütigend gewesen wäre,
aber die meisten brachten – was angesichts ihrer Position im Staatsdienst nicht zu ver­
wundern vermag – den „Politischen“ keine Sympathie entgegen.628 Oft unterschieden sie
aber auch nicht zwischen Staatsgegner und Mensch. Die Verachtung, die daraus folgte,
bereitete den Boden für Provokationen gegenüber den Häftlingen. Einer der wenigen,
die den Menschen und nicht den politischen Delinquenten herausstellten, war, nach der
Einschätzung vieler, der Kommandant an der Kara bis 1881, Kononovič, der die „Politi­
schen“ arbeiten ließ und frühzeitig ins „Freie Kommando“ schickte.629
Plakativ und auf die Glaubwürdigkeit hin nicht überprüfbar hat Gennadij Čemoda­
nov, der zur Katorga abkommandierte Armeeoffizier, Kommandant militärischer Ge­
fängnisbewachungseinheiten und interimistische Gefängnisdirektor, die fehlende
Menschlichkeit am Beispiel seines Nachfolgers an der Spitze des Gefängnisses von
Gornyj Zerentuj, Vysockij, herausgestrichen. Dieser brachte in zwei Käfigen seine sechs
Kanarienvögel aus Russland mit in die Nerčinsker Katorga – dem beschwerlichen Weg
zum Trotz. Vysockij sorge sich sehr um die Vögel und könne nicht ohne sie leben, er­
klärte der mitgereiste Aufseher dem verdutzten Čemodanov.630 Vysockij erwies sich aber
– dieser zweifelhafte Ruhm war ihm bereits vorausgeeilt – als besonders unerbittlicher,
Provokationen und Beleidigungen nicht scheuender Gefängnisdirektor, in dessen kurzer
625 RADZILOVSKAJA/ORESTOVA Katorga, S. 45.
626 KACHOVSKAJA Iz vospominanij, S. 77.
627 PIROGOVA Na ženskoj katorge, S. 155–157.
628 Ein Beispiel dafür ist der Kommandant des politischen Gefängnisses von Nižnjaja Kara bis 1887, Ni­
kolin, der als unangenehm geschildert wird, von den „Politischen“ erklärtermaßen wenig hielt, aber
trotzdem den Gefangenen Freiräume ließ, vgl. DEUTSCH Sechzehn Jahre, S. 223f., KON Pod znamenem,
S. 260 sowie Fußnote 604.
629 Kononovič wird in zahlreichen Quellentexten gewürdigt, vgl. Fußnote 431. Aufgrund der Verschär­
fungen von 1881 und nach deren Folgen trat Kononovič zurück und wurde später Inselkommandant
auf Sachalin.
630 ČEMODANOV Katorga, S. 86.

120

4.6. Provokation, Widerstand, Flucht: Die Häftlinge und die Gefängnisadministration

Amtszeit der Terrorist Egor Sazonov Selbstmord beging und Zerentuj von einer Protest­
welle erfasst wurde. In den Erinnerungsberichten erscheint er als Inbegriff des „Bö­
sen“.631 Čemodanovs Botschaft ist klar: Vysockij waren seine Kanarienvögel mehr wert
als die Menschen – namentlich die „Politischen“ – im Gefängnis.632 Gleichzeitig positio­
niert sich Čemodanov mit seinen Bemerkungen zu Vysockij und überhaupt mit seinen
Memoiren als Gegenpol – als einer jener raren tjuremščiki (Gefängnisbeamte), die den
„Politischen“ Respekt, ja Wertschätzung entgegenbrachten.633 Dadurch gelang es ihm,
Proteste klein zu halten und mit Erfolg an die Besonnenheit und Verhältnismäßigkeit
beider Seiten zu appellieren; dass er keine gewöhnliche Gefängnisbeamten-Karriere
durchlaufen hatte, sondern einen soldatischen Hintergrund besaß, kam ihm dabei ver­
mutlich zustatten.634 Dennoch muss offen bleiben, inwieweit Čemodanov den Herausge­
bern seiner Memoiren als Beispiel für einen „guten Gefängnisdirektor“ gelegen kam und
sich mithin hinter seinen Schilderungen auch eine Portion Selbst- oder Fremdstilisie­
rung verbirgt.635
Das Verhältnis der Obrigkeit zu den „Politischen“ war letztlich durch den immer
wiederkehrenden Versuch geprägt, die Macht über diese Häftlingsgruppe zu gewinnen,
die sehr selbstbewusst agierte. Ihre straffe Organisation im Kollektiv verlieh ihnen eine
vergleichsweise große Schlagkraft, zumal bei Konflikten mit der Obrigkeit die politi­
schen und sozialen Brüche innerhalb der Kommunen durch den gemeinsamen Wider­
stand überdeckt wurden.636 So versuchten die Behörden mitunter, politische Gefangene
zu Begnadigungsgesuchen mit Reuebekenntnissen zu bewegen, um dadurch die Fronten
aufzuweichen und Beweise für den Besserungscharakter der Strafe zu gewinnen.637 Die­
se Versuche fruchteten nur sehr partiell, weil Begnadigungsschreiben in der revolutio­
631 Vgl. FOMIN Katorga, S. 32f., sowie OZEROV Put’, S. 152–154, und den bei VASIL’EV Krukovskij, S.
163–167, abgedruckten Bericht des damals in Zerentuj aktiven Arztes Dr. Krukovskij. Zu Vysockij
und Zerentuj auch ČEMODANOV Katorga, S. 80–100.
632 ČEMODANOV Katorga, S. 89, schreibt nach einer ersten ausführlicheren Begegnung mit Vysockij, wäh­
rend der dieser sich für das Duzen aller Häftlinge stark gemacht hatte: „Offensichtlich waren die
Nachrichten des Gefängnisses über diesen Herrn richtig und nicht übertrieben. Die Hoffnung, die bei
mir aufkam, als ich seine Zärtlichkeit gegenüber seinen Kanarienvögeln sah, brach zusammen.“
633 ČEMODANOV Katorga, S. 66 und 73. Beim Besuch der weiblichen politischen Häftlinge in Mal’cevskaja
stellte er anerkennend fest, man merke auf den ersten Blick, dass es sich um „Politische“ handle, weil
sie sich ordentlich präsentierten.
634 ČEMODANOV Katorga, S. 66, stellt sich vor den Häftlingen als ein Neuling im Gefängniswesen vor, der
aber aus seiner militärischen Erfahrung Respekt und Ordnung durchsetzen wolle. Vgl. auch ebd., S.
76f., als er die „Politischen“ zum Abbruch eines Protestes bewegen konnte, sowie seine Unterredung
mit dem starosta der „Politischen“, ebd., S. 57f. Auch der Nerčinsker Katorga-Kommandant Zabello
würdigte Čemodanovs Amtsführung, die zu einer vielleicht nicht vorbildlichen, aber genügenden und
ohne unnötige Härte erzeugten Ordnung geführt habe, vgl. den Rapport Zabellos, abgedruckt bei
FOMIN Katorga, S. 32f. Er ist an Generalgouverneur Kijaško gerichtet und datiert vom 30. November
1910. Positiv schildert ihn auch METTER Stranička, S. 105, im Zusammenhang mit dem Krankheitsfall
einer Gefangenen, für die er sich einsetzte.
635 Eine eher angestrengt wirkende Passage betrifft etwa die Würdigung Egor Sazonovs, ČEMODANOV Kat­
orga, S. 100. Vgl. die quellenkritischen Anmerkungen im Kap. 1.4 (S. 13f) mit Fußnoten 33, 34, 35,
36 über die problematische, im Vorwort des Bandes erwähnte Einmischung der Herausgeber (Gesell­
schaft der ehemaligen politischen Zwangsarbeiter und Verbannten).
636 Vgl. KRAMAROV Kommuny, S. 141, und generell die Ausführungen im Kap. 4.2.2 (S. 79).
637 So deutet es – plausibel – KON Pod znamenem, S. 278.

121

OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN Mitteilung Nr. 56

nären Häftlingsgesellschaft eines der übelsten Vergehen darstellten. Am ehesten hatten
sie eine Chance bei jenen, die bereits während der Strafuntersuchung mit der Gendarme­
rie kooperiert hatten. Diese wurden in der Katorga zwar nicht gänzlich gemieden – an­
gesichts der Verhältnisse im Gefängnis wäre das auch kaum möglich gewesen –, hatten
es aber im Kollektiv sehr schwer, wie Kon für Nižnjaja Kara berichtet.638 Die Frage der
Begnadigung war hochgradig ideologisch besetzt, weil für einen richtigen Revolutionär
das Leben nicht verloren war, wenn er im Gefängnis saß. Reue zu zeigen, bedeutete,
dem Sozialismus abzuschwören und sich dadurch von der revolutionären Bewegung ab­
zusetzen.639 Wer es trotzdem versuchte oder sich nicht gegen das Angebot der Behörden
wehrte, wurde später, in der noch stärker politisierten Phase nach der Revolution von
1905, aus der Kommune ausgeschlossen.640 Stets ging es aus der Sicht der Kommunen
darum, die Linien geschlossen zu halten, weil auch das Leben im Gefängnis als revolu­
tionärer Kampf gesehen wurde.
Eine andere Strategie, die von Häftlingsseite der Obrigkeit unterstellt wurde, war die
Instrumentalisierung der Kriminellen für die Anliegen der Administration. Die Gleich­
stellung der „Politischen“ mit den Kriminellen 1890 dürfte mit der Hoffnung verbunden
gewesen sein, die Durchmischung der Häftlingsgesellschaft würde die Macht der wider­
borstigeren, zu allem bereiten politischen Sträflinge schwächen. Bisweilen gelang es der
Gefängnisleitung, die Kriminellen von Solidarisierungen mit den „Politischen“ abzuhal­
ten oder gar noch gegen diese aufzubringen.641 Die Macht der politischen Gefangenen im
Innern der Gefängnisse konnte dadurch aber nicht gebrochen werden, und Berichte über
eine erfolgreiche folgenschwere Instrumentalisierung der Kriminellen durch die Ad­
ministration fehlen.
Die ineffizienten Verwaltungs- und Befehlsstrukturen sowie eine allzu enge Ver­
zahnung verschiedenster privater und obrigkeitlicher Interessen verhinderten zudem ein
erfolgreiches Funktionieren des Katorga-Apparats in Transbaikalien. Die lokale Gefäng­
nisadministration ließ sich meist von den Reaktionen der politischen Häftlinge über­
raschen und nahm für jede neue Entwicklung sogleich Rücksprache mit der nächsthö­
heren Instanz.642 Eine Bereitschaft der Gefängnisleitung, für ihre Handlungen selbst Ver­
antwortung zu übernehmen, schien nicht vorhanden gewesen zu sein.643 Dadurch trafen
oft jene die Entscheidungen, die nur mittelbar über die tatsächlichen Verhältnisse und
die leichte Provozierbarkeit der Häftlinge im Bild waren. Auch höhere Chargen zeigten
sich in außerordentlichen Situationen hilflos, wie die Reaktion des Nerčinsker KatorgaKommandanten Zabello nach dem Selbstmord Sazonovs beweist.644 Čemodanovs Blick
638 KON Pod znamenem, S. 280.
639 KON Pod znamenem, S. 281f., vergleicht den Sozialismus mit einem religiösen Bekenntnis.
640 Das galt für Gornyj Zerentuj nach 1906, PLESKOV V gody, S. 146f., und PLESKOV „Vol’nyj universitet“,
S. 170.
641 Vgl. FREJFEL’D Iz prošlogo (okončanie), S. 92f., und SLOMJANSKIJ V Algačach, S. 143.
642 Auch Čemodanov ließ sich von den Entwicklungen um Sazonov überraschen, vgl. ČEMODANOV Kat­
orga, S. 94.
643 Vgl. die Korrespondenz via Telegramm während der Proteste in Nižnjaja Kara 1888/89, FOMIN Trage­
dija, S. 120–137, und für die Proteste in Zerentuj und Akatuj nach 1907 ŽUKOV Režim, S. 120–129.
644 ČEMODANOV Katorga, S. 97. Ebenfalls naiv reagierten die Verantwortlichen während der Proteste in
Nižnjaja Kara 1889, als sie nicht an die Kommunikationskanäle der Häftlinge zwischen dem Frauenund dem Männergefängnis dachten, vgl. KON Pod znamenem, S. 310f.

122

4.6. Provokation, Widerstand, Flucht: Die Häftlinge und die Gefängnisadministration

hinter die Kulissen der Katorga-Verwaltung legt die Substrukturen der Administration
offen. Zabellos Gattin spielte darin, seinen Schilderungen nach zu urteilen, eine nicht
unwichtige Rolle, indem sie gute Beziehungen zum Gefängnisapparat unterhielt und
sich unter anderem auch erfolgreich für Čemodanovs Stellvertreter, den dieser gerne
losgeworden wäre, einsetzte.645 Gute Beziehungen zwischen der Gattin des Gefängnisdi­
rektors von Akatuj in den neunziger Jahren und den „Politischen“ – Lev Frejfel’d war
als Arzt maßgeblich an ihrer Genesung beteiligt – beförderten umgekehrt den Abgang
des bei den politischen Gefangenen besonders verhassten Vizekommandanten.646 Per­
sönliche Verbindungen zählten oft mehr als Kompetenz, und mitunter war die Gefäng­
nisverwaltung – etwa in Kutomara 1912 – vor allem mit Intrigen beschäftigt. 647 Am Bei­
spiel der Nerčinsker Katorga-Strukturen zeigt sich mithin ein weit verbreitetes und ge­
fährlich blockierendes Übel des gesamten Reiches, die Schwerfälligkeit der Bürokratie
und ihre Anfälligkeit für Korruption.648
Ein düsteres Kapitel obrigkeitlicher Härte betraf die medizinische Versorgung der
Häftlinge. Im politischen Gefängnis an der Kara litten viele Häftlinge an Tuberkulose
und anderen chronischen Krankheiten, wurden aber nicht adäquat betreut und von den
übrigen Gefangenen auch nicht separiert.649 Dasselbe galt für die psychisch Kranken. Die
Betreuung war in den achtziger Jahren ebenso wie auch später meist unzureichend, weil
viele Gefängnisse bloß über eine Hausapotheke und einen schlecht ausgebildeten Feld­
scher verfügten. Mitunter konnte sich dadurch ein Häftling mit medizinischem Hin­
tergrund als Ersatz für einen nicht existenten „freien“ Arzt empfehlen; so übernahm
Frejfel’d in den neunziger Jahren erst in Akatuj und anschließend in Zerentuj die Auf­
gaben des Gefängnisarztes.650 In Mal’cevskaja fehlte aber ein Arzt, obwohl im Gefängnis
160 Frauen einsaßen; der Feldscher konnte wenig helfen, und der den „Politischen“
wohlgesonnene Arzt des Gefängnisses Zerentuj, Rogalev, kam nur sporadisch vorbei.
Auch bei sich rasch ausbreitenden, grippeartigen Erkrankungen blieb die medizinische
Hilfe dürftig.651 Als eine politische Gefangene an einer Blinddarmentzündung erkrankte
und eine Operation nötig wurde, mussten ihre Mitgenossinnen um ihren Transport nach
Gornyj Zerentuj kämpfen; Čemodanov, der damals dort als Gefängnisdirektor amtete,
erwirkte, dass sie nach Irkutsk zur Operation gebracht werden konnte.652 1907 wurde in
Akatuj auf Anordnung des Generalgouverneurs die Aufnahme ins Gefängnislazarett er­

645 ČEMODANOV Katorga, S. 59.
646 FREJFEL’D Iz prošlogo (okončanie), S. 100. Vgl. auch ORLOV Ob Akatue, S. 108.
647 Ein Beispiel dafür liefert ČEMODANOV Katorga, S. 109f., der Kommandant der militärischen Bewa­
chung war (konvojnaja komanda) und, weil er die Praktiken des neuen Gefängniskommandanten Go­
lovkin in Kutomara kritisierte, von diesem telephonisch abgehört wurde; Golovkin erreichte auch die
Entlassung von Čemodanovs Sekretär, weil dieser ihm zu gefährlich wurde.
648 Vgl. zum Russischen Reich insgesamt ROGGER Russia, S. 22 und 64.
649 MOŠKINA Katorga, S. 34f. Vgl. auch RADZILOVSKAJA/ORESTOVA Katorga, S. 27.
650 FREJFEL’D Iz prošlogo (okončanie), S. 94, 99, 102–104. Auch an der Kara übernahmen Häftlinge die
ärztliche Betreuung, vgl. MOŠKINA Katorga, S. 34, und DEUTSCH Sechzehn Jahre, S. 230.
651 RADZILOVSKAJA/ORESTOVA Katorga, S. 26f. Nach der Überführung der politischen Gefangenen aus Mal’­
cevskaja nach Akatuj 1911 änderte sich daran nichts; der Arzt kam, wie PIROGOVA Na ženskoj katorge,
S. 167, erklärt, nur einmal pro Monat vorbei.
652 ČEMODANOV Katorga, S. 69–72, und METTER Stranička, S. 104–108.

123

OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN Mitteilung Nr. 56

schwert, da der Administration der Umstand nicht behagte, dass Ärzte oft sehr rasch
dem Wunsch der Häftlinge nach einem Aufenthalt in der Krankenstation nachkamen.653
Eine sehr bedeutende Rolle kam den Ärzten schließlich im Zusammenhang mit der
Körperstrafe zu. Sie mussten vor der Vollstreckung konsultiert werden, und nur sie hat­
ten die Möglichkeit, den – politischen, aber auch kriminellen – Häftlingen die qualvolle,
lebensgefährdende und erniedrigende Strafe zu ersparen, indem sie ihren Gesund­
heitszustand als zu kritisch für deren Vollzug beschrieben.654 Allerdings geschah es
auch, dass die Gefängnisleitung – unrechtmäßig – an den Ärzten vorbei handelte.655 So
ergriffen die Ärzte oft, im Sinne der Menschlichkeit, Partei für die „Politischen“, mit
denen manche auch einen vertraulichen Umgang pflegten.656 Dadurch schwächten sie die
Position der Gefängnisadministration in deren mitunter fast verzweifeltem Kampf um
die Kontrolle über das Gefängnis.
4.6.3. Die „Tragödien“ – Zusammenstöße von Obrigkeit und Häftlingsgesellschaft
Jede der Symbolhandlungen, welche die Gefängnisadministration vornahm oder die von
einer höheren Verwaltungsinstanz eingefordert wurde, barg die Gefahr eines Zusam­
menstoßes mit der gut organisierten, stets entschlossen auftretenden Häftlingsgesell­
schaft der „Politischen“ in sich. In der Regel wussten die örtlichen Gefängniskom­
mandanten um die Sensibilität dieser Fragen, und auch dann, wenn ihre Verachtung ge­
genüber den politischen Häftlingen größer war als der Respekt, suchten die meisten von
ihnen das Einvernehmen mit den Insassen – denn es lag auch in ihrem Interesse, Auf­
ruhr zu vermeiden, der ihre eigene Position in Frage gestellt hätte.657 Gleichwohl kam es
im Laufe der vier Jahrzehnte zwischen 1877 und 1917 zu mehreren Protestwellen, die
stets mit Todesopfern unter den „Politischen“, aber auch mit einem Wechsel in der zu­
ständigen Administration endeten. Alle diese als „Tragödien“ in die Geschichte einge­
gangenen Zusammenstöße – 1889 im Kara-Tal, 1910 bis 1912 in Gornyj Zerentuj, Al­
gači und Kutomara – sowie die ebenfalls turbulente und blutige Zeit des harten Regimes
an der Kara 1880 bis 1885 wurden durch höhere Amtsträger (Generalgouverneure) oder
durch neue, mit dem Auftrag der Härte ausgestattete Kommandanten ausgelöst und kor­
relierten stets zu politischen Entwicklungen auf Reichsebene. Die direkten Auswirkun­
gen der als „Reaktion“ bezeichneten Phase unter Alexander III. in den achtziger Jahren
des 19. Jahrhunderts auf die Katorga sind nicht ganz klar.658 Hingegen war die Zeit nach
653 Ein entsprechender Befehl des Generalgouverneurs vom 12. Oktober 1907 ist bei FOMIN Katorga, S.
27, abgedruckt.
654 Beispiele finden sich für die Zeit der Proteste in Gornij Zerentuj, als der Arzt Dr. Krukovskij „Poli­
tische“ vor der Prügelstrafe bewahrte, vgl. FOMIN Katorga, S. 35. Auch der Feldscher von Šamanka
stellte sich den – vor allem Kriminellen – angedrohten Körperstrafen konsequent entgegen, vgl.
GUBEL’MAN Šamanka, S. 185.
655 FOMIN Katorga, S. 44, für Kutomara.
656 Zum Arzt als Kommunikationsfigur vgl. das Kap. 4.5.4. (S. 111); vgl. auch VASIL’EV Krukovskij, S.
163f.
657 Auf den Umstand, dass die örtlichen Verantwortlichen bewusste Provokationen scheuten, weil sie die
Reizbarkeit der Gefangenen kannten, verweist auch KON Pod znamenem, S. 287.
658 Vgl. Kap. 2.2 (S. 25). KON Pod znamenem, S. 285, begründet die Haftverschärfungen in der zweiten
Hälfte der 1880er Jahre mit einem neuen, schärferen Kurs in Petersburg.

124

4.6. Provokation, Widerstand, Flucht: Die Häftlinge und die Gefängnisadministration

der Revolution 1905 in doppelter Hinsicht ein Nährboden für ernste Konflikte in der
Katorga. Auf der einen Seite folgten auf die Revolution die wohl blutigsten Jahre des
russischen Zarenreichs überhaupt mit einer unzimperlichen Strafpolitik. Auf der anderen
Seite hatte sich, wie bereits mehrfach dargestellt, die Häftlingsgesellschaft nach 1905
drastisch vergrößert und bezüglich ihres sozialen Hintergrunds und des Grads ihrer Poli­
tisierung stark verändert. Die neue Generation der katoržane war entschlossener denn je,
auch in den Katorga-Gefängnissen alles dem revolutionären Geist unterzuordnen.659 Die
Petersburger Vorgaben der Ära Stolypin erreichten die Nerčinsker Katorga mit Verzöge­
rung, weil diese erst den Ansturm bewältigen musste und überdies in den Gefängnissen
Kommandanten amtierten, denen an Auseinandersetzungen mit den Insassen wenig ge­
legen war.660 Diese freiheitliche Zeit verschärfte auf beiden Seiten die Reaktion, als, je
nach Gefängnis, zwischen 1907 und 1910 der Wind drehte und die Obrigkeit mittels neu
eingesetzter, Härte demonstrierender Gefängnisvorsteher die an die Häftlingskollektive
übergegangene Macht zurückzuholen versuchte. Gerade jene Gefängniskommandanten,
die ihren Gefangenen keinen Respekt entgegenzubringen bereit waren, bewiesen jedoch
letztlich die Ohnmacht des Systems und ihre eigene Hilflosigkeit gegenüber protestie­
renden Sträflingen, wenn sie zu radikalen Strafmaßnahmen – von Karzer- bis zu Kör­
perstrafen – greifen mussten. Damit perpetuierten sie den Konflikt, den die Häftlinge in­
sofern beherrschten, als sie zu allem bereit waren. Nach dem Hungerstreik war ihre letz­
te Waffe der (kollektive) Selbstmord, der als Protest für die Behandlung einer weibli­
chen „Politischen“ 1889 in Nižnjaja Kara von den Männern gewählt wurde und der
1910 auch in Zerentuj (Sazonov) und 1911/12 in Algači und Kutomara den Höhepunkt
der Eskalation bildete.661
Die Tatsache, dass in Mal’cevskaja zu jener Zeit, da die Situation im nahe gelegenen
Männergefängnis von Zerentuj eskalierte, die friedlichen Beziehungen zwischen den
„politischen Frauen“ und der Leitung fortdauerten, ist bemerkenswert. Geschlechtsspe­
zifisches Verhalten dürfte dabei aber weniger den Ausschlag gegeben haben als Beson­
nenheit auf beiden Seiten662 sowie der Umstand, dass es entscheidend vom Gefängnis­
kommandanten abhing, wie strikt die Vorgaben umgesetzt wurden. Das Wechselspiel
von Provokation und Gegenprovokation konnte, bei geschickter Amtsführung, vermie­
den werden. Das legen auch Einschätzungen des damaligen Vorstehers der Nerčinsker
659 Vgl. ŽUKOV Režim, S. 121, und PLESKOV „Vol’nyj universitet“, S. 164f. und 176 (Beschwörung des re­
volutionären Kampfs unter allen Bedingungen).
660 ŽUKOV Režim, S. 121, führt als Beispiel für jene Gefängnisdirektoren, die eher auf ihre eigenen Vor­
teile als auf die Umsetzung der Bestrafungs- und Besserungskriterien bei den Häftlingen bedacht wa­
ren, den damaligen Kommandanten von Akatuj, Zubkovskij, an.
661 Zusammenfassend: FOMIN Katorga, S. 32–37 (Zerentuj), 38–49 (Kutomara), 49–53 (Algači). Für Kara
vgl. zusammenfassend PATRONOVA Karijskaja tragedia, S. 81–103, sowie KON Pod znamenem, S. 287–
320. Kon unternahm zweimal aus Solidarität und als Protestsignal zusammen mit Mithäftlingen einen
Selbstmordversuch. Die Selbstmorde und Selbstmordversuche erfolgten mittels Opium in Nižnjaja
Kara, Morphium in Zerentuj (Sazonov).
662 Nach seinem Besuch in Mal’cevskaja macht sich ČEMODANOV Katorga, S. 74, Gedanken über den Um­
stand, dass ihm, nach seinem Eindruck, die weiblichen Gefangenen zutraulicher gegenübertraten als
die männlichen in Gornyj Zerentuj. Er verbietet sich eine einfache, auf ihn selbst gemünzte Erklärung,
fragt sich aber, ob es mit einem frauenspezifischen Charakterzug zu tun haben könnte. RADZILOV­
SKAJA/ORESTOVA Katorga, S. 45, erklären, ein Direktor vom Schlage Vysockijs hätte auch in Mal’cevs­
kaja für Proteste gesorgt.

125

OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN Mitteilung Nr. 56

Katorga, Zabello, nahe, der in seinem Rapport über die Ereignisse in Zerentuj 1910 fest­
hält, Vysockijs Vorgänger Čemodanov habe es geschafft, auch bei korrekter Umsetzung
der Vorgaben die Ruhe unter den „Politischen“ zu bewahren. Vysockij habe sich hinge­
gen seinem, Zabellos, Rat widersetzt.663 Das verdeutlicht nicht nur den Spielraum, der
den Gefängniskommandanten offenstand, und damit die Dehnbarkeit des obrigkeitli­
chen Auftrags. Es verweist auch auf den Stellenwert der beiderseitigen Kooperationsbe­
reitschaft. Dass, einerseits, die Voraussetzungen dafür fehlten, wenn Vysockij in Zeren­
tuj und der Generalgouverneur Kijaško später in Algači und Kutomara zielsicher von
Anfang an genau jene Verhaltensweisen an den Tag legten, die bekanntermaßen von den
„Politischen“ nicht toleriert wurden (es ging insbesondere um das Duzen, die Begrü­
ßungsformeln und die Androhung von Körperstrafe),664 lässt sich nicht leugnen. Ander­
seits waren die politischen Sträflinge vor allem nach 1905 bereit, auf praktisch jede Pro­
vokation einzutreten, jeden – auch vergleichsweise kleinen – Anlass als hingeworfenen
Fehdehandschuh zu interpretieren oder, bei handfesteren Gründen, die Spirale der Eska­
lation kräftig weiterzudrehen. Kon, der in seiner Schrift stets darum bemüht ist, die län­
gere ruhige Periode in Nižnjaja Kara zu rechtfertigen, äußert sich besonnen, ohne aber
die radikale Bereitschaft zum Äußersten zu leugnen:
„Dort, wo Hunderte auf einen unbedachten oder unbeabsichtigten Schritt eines einzelnen
blicken, gewöhnen sich die Leute an die Gefahr, lernen sich zu beherrschen und sich
nicht in ausgelegte Netze ziehen zu lassen; spät, aber manches Mal auch stürmisch, er­
örtern sie die Frage nach dem Protest, ehe er beginnt; aber hat er einmal begonnen, füh­
ren sie den Protest bis zum Ende und fliehen entweder oder sterben.“ 665

Die Schwelle zum Protest und durchaus auch zur Gegenprovokation war in Zerentuj,
Algači und Kutomara bedeutend tiefer. So löste die Bestrafung eines Häftlings mit Spa­
ziergangsverbot wegen angeblicher Beleidigung von Čemodanovs Stellvertreter in Ze­
rentuj einen Hungerstreik aus Solidarität aus.666 Bei den Zusammenstößen ab 1910 ging
es zwar um mehr – letztlich, wie immer, um die Würde der „Politischen“. Aber der
Zweck ging über die Verteidigung der eigenen Integrität hinaus. Geschickt nutzten die
katoržane ihre Drähte zur Außenwelt, um die Vorgänge in der Nerčinsker Katorga pu­
blikumswirksam innert kürzester Zeit an die Neva und in die Öffentlichkeit zu tragen.
Die Fortsetzung des revolutionären Kampfs im Gefängnis war insofern mehr als nur
eine rhetorische Floskel.667 War diese Episode mehr als ein Hilferuf und kann sie als eine
Instrumentalisierung der (erst in Rudimenten im Zarenreich bestehenden) Öffentlichkeit
663 Der Rapport findet sich bei FOMIN Katorga, S. 32f. Er ist an Generalgouverneur Kijaško gerichtet und
datiert vom 30. November 1910.
664 Für Kutomara vgl. bes. ŽUKOVSKIJ-ŽUK V dni, S. 177–180, für Zerentuj und Algači OZEROV Put’, S.
152–162, und SLOMJANSKIJ V Algačach, S. 139–148.
665 KON Pod znamenem, S. 287.
666 ČEMODANOV Katorga, S. 76f. Hier konnte Čemodanov mit dem Appell an die Verhältnismäßigkeit und
erforderliche Besonnenheit auf beiden Seiten die Situation vor einer Eskalation bewahren.
667 Interessanterweise möchte TAGAROV Protesty, S. 81, den Umstand betonen, dass die „Politischen“ den
Protest auch zur Verbreitung der Vorkommnisse in der Katorga nutzten. Er bemängelt dabei die Me­
moirentexte, die den Protest allein mit der Würde des Menschen begründeten und darob den „großar­
tigen Akt der politischen Erziehung der Massen“ vergessen ließen. Er streicht also die kommunikative
Leistung heraus und geht nicht darauf ein, dass die Instrumentalisierung des Protestes diesen in sei­
nem Wesen auch veränderte.

126

4.6. Provokation, Widerstand, Flucht: Die Häftlinge und die Gefängnisadministration

gelesen werden, die noch zusätzlich die These vom Wechselspiel zwischen Häftlingsge­
sellschaft und Obrigkeit belegen, das die „Tragödien“ bedingte?
4.6.4. Flucht und Fluchtversuche
Unabhängig von der Härte des Regimes im Katorga-Gefängnis existierten im Leben der
Häftlinge Momente, die den Gefängnisaufenthalt zur schieren Qual werden ließen. Das
Gefühl des Eingesperrtseins, der auf Jahre hinaus festgeschriebenen Trennung von der
Landschaft, die das Gefängnis umgab, und von dem Lebensumfeld der Vergangenheit
beschränkte sich nicht auf die Anfangszeit, als die Eindrücke vom Transport noch frisch
und die Eingrenzung der Welt noch neu war.668 Jedes Frühjahr, wenn die Natur in Trans­
baikalien spät und zögerlich, dann explosionsartig erwachte, ergriff die Sträflinge die
große Sehnsucht nach der Freiheit. „Der Frühling war allgemein die schwierigste Zeit
im Gefängnis“669, schreibt Ivan Starodubcev, und Leo Deutsch hält fest, im Frühling sei
das Leben im Gefängnis kaum noch zu ertragen gewesen.670
Das Frühjahr war daher auch die Jahreszeit der Fluchtgedanken und der Fluchtversu­
che. Was auch immer die Gefängnisadministration unternahm, um die Fluchtgefahr zu
minimieren – die Flucht blieb, als Erzähltopos, Traum und in der konkreten Erwägung
und Vorbereitung, unter den Häftlingen dauernd präsent.671 Das betraf ausnahmslos alle
Jahrzehnte des ausgehenden Zarenreichs; dennoch lassen sich innerhalb dieser Periode
Unterschiede zwischen einer früheren Phase – die achtziger und neunziger Jahre – und
einer späteren Phase – die Zeit nach 1905 – festmachen. „Sich auf die Flucht vorzube­
reiten in dieser Zeit war nicht nur ein Verlangen der Seele, sondern auch Ausdruck gu­
ten Tons“672, schreibt Vitaševskij für die 1880er Jahre. Die Flucht in den achtziger Jah­
ren aus dem politischen Gefängnis an der Kara und später in den neunziger Jahren aus
Akatuj war, zum einen, ein alternativer Vorgang der Auflehnung gegen das herrschende
harte Gefängnisregime. Der als „Flucht der Acht“ in die Geschichte der politischen Kat­
orga eingegangene Fluchtversuch vom April 1882 aus Nižnjaja Kara wurzelte wesent­
lich in der Verschärfung der Haftbedingungen 1881, als das „Freie Kommando“ ge­
schlossen und den politischen Häftlingen die Arbeitsmöglichkeit geraubt worden war.673
Zum andern zeigte sich die darüber hinausgehende, persönliche Motivation der zur
Flucht unbedingt bereiten Sträflinge deutlich disparater als in den Jahren nach 1905.
Während Levčenko im Vorfeld des Ausbruchs vom April 1882 schlicht das geringe Al­
ter der meisten katoržane und deren natürlichen Wunsch nach der Rückkehr in die Hei­
668 Vgl. KACHOVSKAJA Iz vospominanij, S. 77, sowie die Ausführungen dazu zu Beginn von Kap. 4.1 (S.
65).
669 STARODUBCEV Na Nižnej Borze, S. 213.
670 DEUTSCH Sechzehn Jahre, S. 231.
671 Vgl. MELSCHIN Im Lande 2, S. 351. Mel’šin-Jakubovič lässt den Gefängnisdirektor „Lutschesarow“
(Archangel’skij) im Frühjahr an den Verstand der Sträflinge appellieren, auf die seiner Ansicht nach
wenig aussichtsreichen Fluchtversuche zu verzichten. Der Erfolg blieb aus. Vgl. auch RADZILOVSKAJA/
ORESTOVA Katorga, S. 44.
672 VITAŠEVSKIJ Na Kare, S. 110.
673 Vgl. KENNAN Siberia II, S. 229, DEUTSCH Sechzehn Jahre, S. 219f., und BOGDANOVIČ Posle pobega, S.
75, wo es heißt: „Die Situation der Gefangenen wurde mit jeder Woche schwieriger […]. […] Als
einzige Rettung erschien die Flucht.“

127

OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN Mitteilung Nr. 56

mat erwähnt,674 beschreibt Vitaševskij eine Vielzahl unterschiedlicher Haltungen und
Beweggründe, wie sie damals im Gefängnis aufgetreten waren: vom glühenden Revolu­
tionär, der alles daran setzen wollte, in den Schoss der Bewegung zurückzukehren, über
Häftlinge, die sich im Stillen einen geruhsamen Alltag in der Freiheit vorstellten oder
aus hoffnungslos langen Strafen ausbrechen wollten, bis hin zu Abenteurerseelen, die
wenig Rücksichten auf sich und andere zu nehmen gewillt waren. Schließlich gab es
jene, die aus verschiedenen Gründen kein Interesse an einer Flucht zeigten. 675 Die unter­
schiedlichen Ansichten führten zwingend zu Spannungsmomenten unter den Häftlin­
gen.676
In der Katorga nach 1905 bewegte sich die Diskussion über die Flucht in einem ande­
ren Kontext. Das schlägt sich auch in den Erinnerungsberichten nieder, die, wie alle der
zwischenrevolutionären Zeit, im Ton schärfer und in der ideologischen, die Fortsetzung
der revolutionären Arbeit im Gefängnis repetierenden Darstellung penetranter sind.
Ebenso hebt ein sowjetischer Aufsatz über die Flucht aus der Verbannung in der Zeit
von 1906 bis 1917 die beispiellose Selbstaufopferung der Verbannten hervor, die alles
unternommen hätten, um in den Kampf zurückzukehren.677 Trotz dieser ideologischen
Überzeichnung in den Quellen und der Rezeption ist unbestritten, dass die „Politischen“
nun eine um ein Vielfaches größere Zahl darstellten als noch zehn oder zwanzig Jahre
zuvor und dass der Fluchtdiskurs unter dem Einfluss der ausgeprägten, deutlich konse­
quenteren Politisierung stand, die sich auch in der sehr straffen Organisation der Kom­
munen manifestierte. Individuelle Fluchtmotivationen zählten nun nichts mehr; das Ziel
einer Flucht konnte nur ein revolutionäres sein. Als es in Gornyj Zerentuj 1907 zu den
bereits beschriebenen Auseinandersetzungen zwischen Sozialdemokraten und Sozialre­
volutionären um den Fluchthilfe-Fonds kam, musste auch Grigorij Kramarov den Letzt­
genannten insofern Recht geben, als die Flucht „kein persönlicher, sondern ein poli­
tischer Akt“ sei und daher nicht jeder, der es wünsche, mit der Unterstützung des Kol­
lektivs fliehen dürfe.678
Dieser „politische Akt“ stand im Vordergrund; die Fluchtversuche der „Politischen“
aus der Katorga waren nach 1905 nicht primär eine andere Form der Auflehnung gegen
das Gefängnisregime – zumindest in Gornyj Zerentuj nutzten die Häftlinge gerade die
Phase der großen Freiräume, um Anstalten für eine Flucht zu treffen. 1908 gruben die
zu lebenslänglicher Haft verurteilten „Politischen“ (die bei einer Flucht nur eine Haft­
verlängerung riskierten) einen Tunnel, der ingenieurtechnisch eine Meisterleistung war
– was sogar der Gefängnisdirektor eingestehen musste –, führte er doch vom ersten
Stock des zweistöckigen Steinbaus ins Erdreich und von dort unter dem Fundament des
674 LEVČENKO Pobeg, S. 56.
675 VITAŠEVSKIJ Na Kare, S. 110f. Eine – nicht direkt auf die Flucht bezogenen – Typologie der „Poli­
tischen“ in Nižnjaja Kara stellt auch KON Pod znamenem, S. 264f., auf. Er unterscheidet vier Häft­
lingstypen: jene, die allen revolutionären Eifer abgelegt haben und auf eine Begnadigung warten;
jene, die sich zwar nicht begnadigen lassen wollen, aber nur noch auf die Ansiedlung (poselenie) war­
ten; jene, die sich im Gefängnis vielen Situationen einfach stellen und sich möglichst gut für die revo­
lutionäre Bewegung zu erhalten versuchen; jene, die auf jede Erniedrigung reagieren und ebenfalls
voller revolutionären Feuers sind.
676 BOGDANOVIČ Posle pobega, S. 76.
677 CHASIACHMETOV Organizacija, S. 54.
678 Vgl. KRAMAROV Kommuny, S. 136. Zur Spaltung in der Kommune Kap. 4.2.2 (S. 79).

128

4.6. Provokation, Widerstand, Flucht: Die Häftlinge und die Gefängnisadministration

Gebäudes hindurch, wo er, wäre er rechtzeitig fertig geworden, ins Freie geführt hätte. 679
Obwohl die Häftlinge mithin ziemlich stark in die Bausubstanz des Gefängnisses ein­
griffen (und dies mit wenig Hilfsmitteln), wurde der Tunnel mehrere Monate lang nicht
entdeckt.680 Ähnliche Fluchtstollen kamen 1907 in Algači und Akatuj zum Vorschein,
was die Überführung von als besonders gefährlich eingestuften Häftlingen – unter ande­
rem Sazonov – nach Gornyj Zerentuj zur Folge hatte. Die Installation von Fackeln rund
um das Gefängnis als Sofortmaßnahme der Obrigkeit gegen potentielle Ausbrecher er­
scheint eher als Ausdruck der Hilflosigkeit denn als wirksame Maßnahme.681
Auch die Fluchtpläne an der Kara in den achtziger Jahren waren ursprünglich von ei­
nem Tunnel ausgegangen; das sumpfige Gelände rund um das politische Gefängnis so­
wie Unstimmigkeiten unter den Häftlingen verhinderten aber die Fertigstellung eines
Stollens.682 Die „Flucht der Acht“ gelang über die Werkstätten, die sich direkt neben
dem Gefängnis befanden; die Gefangenen flüchteten in vier Staffeln paarweise. Zwi­
schen dem ersten und dem letzten Paar, dessen Flucht bemerkt wurde und zur Aufde­
ckung der Aktion führte, vergingen, je nach Quelle, zwei bis vier Wochen, während de­
nen die Gefängnisadministration vom Ausmaß der Flucht keine Ahnung hatte. Die höl­
zernen „Mannequins“, die anstelle der Geflohenen auf deren Schlafplätze gelegt wur­
den, taten ihre Wirkung: Beim Appell wurden sie stets – als handle es sich um schlafen­
de Häftlinge – mitgezählt …683 Die Reaktion der auf peinlichste Weise an der Nase her­
um geführten Verwaltung nach der Entdeckung war umso härter; alle Flüchtigen wurden
wieder gefangen, und das überaus harsche Regime dauerte bis 1885.684
Die Ohnmacht der vermeintlich Mächtigen zeigt sich in den Episoden von vor und
nach 1905 drastisch: Weder gelang es der Administration, regelrechte Bauarbeiten am
Gefängnis innerhalb nützlicher Frist aufzudecken oder überhaupt erst zu verhindern,
noch vermochte sie den Überblick über die ihr anvertrauten Häftlinge zu bewahren;
stattdessen fiel sie auf ziemlich plumpe Täuschungsmanöver (Holzpuppen) herein.
Trotz diesen äußerst aufschlussreichen, ebenso erstaunlichen Lücken in der Überwa­
chung der Gefangenen waren Fluchtversuche aus der Katorga aber selten erfolgreich. In
Mal’cevskaja blieben die Fluchtgedanken, wie es heißt, „platonisch“, weil sich die Frau­
en über den logistischen Aufwand im klaren waren. Die Nerčinsker Katorga lag zu sehr
abseits der Schienenstränge, und die umliegende Bevölkerung, die stark kosakisch do­
miniert und daher mit dem Staatsdienst verwoben war, wusste, was sie mit Flüchtigen
zu tun hatte.685 Jene nahe dem Gefängnis lebenden Dorfbewohner, mit denen die „Poli­
679 Bei PLESKOV Pobegi, S. 196f., ist der Rapport des Gefängnisdirektors Pokrovskij an den Komman­
danten der Nerčinsker Katorga, Zabello, datiert vom 23. August 1908, abgedruckt.
680 PLESKOV Pobegi, S. 201.
681 ŽUKOV Režim, S. 123–126.
682 BOGDANOVIČ Posle pobega, S. 75f.
683 BOGDANOVIČ Posle pobega, S. 73–91 (nennt zwei Wochen als Zeitraum zwischen Fluchtbeginn und
-ende), LEVČENKO Pobeg, S. 55–72 (selbst unter den Flüchtenden), sowie VITAŠEVSKIJ S. 110–119 (vier
Wochen), berichten über die „Flucht der Acht“. Dokumente (Rapporte, Häftlingsnotizen, Telegram­
me) finden sich bei JAKIMOVA Dokumenty, S. 92–100.
684 Vgl. bes. BOGDANOVIČ Posle pobega, S. 76–91, sowie sehr ausführlich KENNAN Siberia II, S. 230–261.
685 RADZILOVSKAJA/ORESTOVA Katorga, S. 44, BOGDANOV Smert’, S. 107, und PLESKOV Pobegi, S. 194. Vgl.
auch CHASIACHMETOV Organizacija, S. 78, der die Bedeutung der Verbindungen zu lokalen Helfern her­
vorhebt. LEVČENKO Pobeg, S. 67–70, schildert, wie er und sein Fluchtpartner von Jägern in der Taiga

129

OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN Mitteilung Nr. 56

tischen“ vor allem nach 1905 über Mittelspersonen im Austausch standen, bildeten aber
ein Netz möglicher Fluchthelfer. Das mochte zwar auch für katoržane gelten; von gro­
ßer Bedeutung waren die Dorfbewohner und hilfsbereiten Beamten jedoch vor allem für
die zur Flucht entschlossenen ssyl’nye.686 Gerade für die Fluchtversuche waren die Dräh­
te zur Außenwelt daher entscheidend. Mit dem politischen „Roten Kreuz“ („Krasnyj
krest“) besaßen die Revolutionäre eine Organisation, die ihre Fluchtvorhaben zu un­
terstützen trachtete, unter anderem mit Geldspenden.687 Dass nicht jede Flucht an der
fehlenden Bereitschaft der Bevölkerung scheitern musste, belegt das Beispiel des unter
absolut willkürlichen, mysteriösen Umständen in die Katorga zum Eisenbahnbau ge­
langten jungen Schweizers Mark Séchaud, der nach vielen Jahren zusammen mit einem
Mithäftling erfolgreich quer durch Russland fliehen und immer wieder in Häusern Un­
terschlupf finden konnte.688
4.7. Sachalin – die andere Katorga
Kein Ort in der Katorga verdient die Bezeichnung „andere Welt“ eher als die fernöstli­
che Insel Sachalin. Das Eiland am östlichen Ende der eurasischen Landmasse des Russi­
schen Reiches war eine „andere Welt“ in mehrfacher Hinsicht: als Teil der Topographie
der Katorga, als ein Stück Erde mit hervorstechenden klimatischen Eigenschaften und,
vor allem, als eine „Katorga in der Katorga“. Die Katorga-Welt von Sachalin gehorchte
spezifischen Regeln – das hat bereits die „Weltreise“ nach Sachalin, der Transport, ge­
zeigt. Und nicht ohne Grund ist die Liste der Bezeichnungen, mit der die Insel im Laufe
der relativ kurzen Geschichte als Strafkolonie (1868 bis 1906) bedacht wurde, lang –
„Insel der Verbannung“ („ostrov izgnanija“), „Insel der Verzweiflung“ („ostrov otčaja­
nija“), „Insel der Tränen“ („ostrov slez“) sind nur ein Auszug daraus.689 Man muss kein
Legendenbildner sein, um festzuhalten, dass Sachalin, neben der Festung Schlüsselburg
(Šlissel’burg) bei Petersburg, der wohl berüchtigteste Ort der Katorga war. Die Zahl je­
ner Verurteilten, die, wie der politische Häftling Anatolij Ermakov, aktiv danach trach­
nach kurzem Beisammensein als Entlaufene überführt und der Gendarmerie übergeben wurden.
686 PLESKOV Pobegi, S. 192, und CHASIACHMETOV Organizacija, S. 65. Letzterer nennt Fluchthilfeorganisa­
tionen auch für Gornyj Zerentuj und Akatuj für 1906/07, ohne aber einen konkreten Fluchtversuch zu
erwähnen.
687 KRAMAROV Kommuny, S. 138, sowie ANDREEV Revoljucionery-narodniki, S. 27, und CHASIACHMETOV
Organizacija, S. 63. Vgl. auch DALY Political Crime, S. 92, der die Flucht auch aus dem Gefängnis für
relativ leicht und erfolgreich hält wegen der Transsibirischen Eisenbahn. Allerdings wiegen die Ge­
genargumente, die den Quellen zu entnehmen sind (vgl. Fußnote 670), namentlich die abgelegene Si­
tuierung der Nerčinsker Katorga, wohl stärker. CHASIACHMETOV Organizacija, S. 65, nennt als Flucht­
route aus der Nerčinsker Katorga den Weg über Vladivostok und Harbin. Das erste Fluchtpaar der
„Acht“ aus Nižnjaja Kara war in Vladivostok beim Besteigen des Schiffes, das die Sicherheit ge­
bracht hätte, verhaftet worden, vgl. die Nacherzählung der Ereignisse bei DEUTSCH Sechzehn Jahre,
S. 221.
688 SÉCHAUD 28 Jahre, S. 20–27, schildert die Flucht der beiden Katorga-Sträflinge.
689 Zu finden bei SENČENKO Revoljucionery, S. 102, und DOROŠEVIČ Sachalin, S. 6. Senčenko nennt den
zweiten Teil seiner Monographie zu den russischen Revolutionären auf Sachalin „Na ostrove otver­
žennych“ („Auf der Insel der Ausgestoßenen“); die Überschrift ist dem Titel von Petr Jakubovičs (L.
Mel’šins) literarischen Erinnerungen „V mire otveržennych“ („In der Welt der Ausgestoßenen“)
nachempfunden.

130

4.7. Sachalin – die andere Katorga

teten, auf der Insel statt auf dem Festland die Katorga-Strafe zu verbüßen, war ver­
schwindend klein; eher noch verstümmelten sich die Gefangenen selbst, um nicht an
diesen Ort verschickt zu werden, von dem es angeblich keine Rückkehr gab.690
Die Katorga von Sachalin war eine „andere Katorga“, aber in gewissem Sinne war
sie das ins Extreme gewendete Beispiel für die Zwangsarbeit und das Verbannungssys­
tem im ausgehenden Zarenreich. Nirgendwo waren die Missstände des Verbannungssys­
tems, die Überforderung, die Ohnmacht, die Korruption und die Brutalität, größer und
augenfälliger als auf der Insel. Das war, wie Andrew Gentes in einem Beitrag zu den
Anfängen der Sachaliner Verbannung besonders nachdrücklich herausgestrichen hat,691
insofern ein bitteres Paradoxon, als der Einrichtung der Strafkolonie auf der Insel Sa­
chalin die Hoffnung zugrunde lag, das nicht mehr zeitgemäße und nicht mehr richtig
funktionierende System von Katorga und Ssylka im Rahmen der Reformbestrebungen
der sechziger Jahre exemplarisch auf eine neue Grundlage zu stellen. Dieses Vorhaben
musste aber scheitern, weil der Entscheid von 1871, Sachalin – analog den insularen
Strafkolonien der Briten und Franzosen und auch aus strategischen Gründen – durch den
Strafvollzug zu kolonisieren, wider besseres Wissen um die klimatischen Verhältnisse
und die wirtschaftlichen Möglichkeiten gefällt worden war.692 Das harsche Klima mit
großen Temperaturschwankungen im Jahresverlauf und hoher Feuchtigkeit (mit hartnä­
ckigem Nebel und Dunst als Folge) sowie die für die Landwirtschaft ungeeigneten Bö­
den verhinderten eine agrarbasierte Kolonisierung, die angesichts der nur bescheidenen
Ausbeutungsmöglichkeiten der Kohlevorkommen im Mittelpunkt des Vorhabens
stand.693 Anstatt, wie beabsichtigt, die Katorga in einer neuen Form – jener der Strafko­
lonie – zukunftsfähig zu machen, verkam das Experiment Sachalin durch die Ignoranz
gegenüber der Realität zu einem Desaster, wurde die Insel zu einer „menschengemach­
ten Hölle“ (Gentes), in der nicht zuletzt aufgrund der großen Kompetenzen des Insel­
kommandanten – dieser verfügte auch über die juristische Gewalt694 – und einer überfor­

690 ERMAKOV Dva goda, S. 153–155. Er interessierte sich für die Sachaliner Katorga so sehr, dass er sich
nicht damit abzufinden bereit war, dass die zuständige Kommission für ihn das Katorga-Zentralge­
fängnis Aleksandrovsk bei Irkutsk vorsah. Sein Wille wurde schließlich, trotz der ihm bescheinigten
angeschlagenen Gesundheit, respektiert.
691 GENTES Sakhalin Policy, S. 1–31, für die unmittelbar folgenden Ausführungen bes. S. 14–20 zu den
Problemen der Katorga allgemein als Hintergrundfolie für die Ausweitung auf Sachalin. Vgl. auch die
Bemerkungen im Kap. 3.1.2 (S. 46) sowie zur Debatte über das Verbannungssystem Kap. 5 (S. 137).
692 GENTES Sakhalin Policy, S. 1, 7–13 und 20–23, zeichnet den Entscheidungsprozess detailliert nach
und legt dar, wie die gewonnen Daten über die meteorologischen Verhältnisse und über die daraus re­
sultierenden Bedingungen für die Landwirtschaft entweder völlig realitätsfern interpretiert oder ein­
fach ignoriert wurden. Die Entscheidung für die Errichtung der Strafkolonie wurde offiziell von einer
Kommission 1871 gefällt, war aber bereits von oben (vom Innenminister, vom Generalgouverneur,
vielleicht auch vom Zaren selbst) vorbestimmt. Bereits zuvor (1868/69) waren erste Sträflinge, gleich­
sam probehalber, auf die Insel geschickt worden. Erst 1875 wurde aber begonnen, die Umsetzung der
Katorga-Strukturen auf Sachalin anzugehen (S. 23f.).
693 GENTES Sakhalin Policy, S. 1 und 6 zum Klima und zu den Kohlevorkommen; ebenfalls DE WINDT Si­
beria, S. 57f., sowie ČECHOV Ostrov Sachalin, S. 117f., zu den meteorologischen Verhältnissen (Tem­
peraturtafel) und den Folgen für die landwirtschaftliche Nutzbarkeit der Insel.
694 GENTES Sakhalin Policy, S. 26f.

131

OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN Mitteilung Nr. 56

derten Bürokratie eine besonders große Willkür in der Behandlung der Sträflinge
herrschte.695
Am eindringlichsten von allen zeitgenössischen Reisenden, deren Interesse die Insel
der Verbannten geweckt hat, beschrieb Anton Čechov in seiner literarischen Reportage
„Ostrov Sachalin“ die Zustände auf Sachalin; was er an Atmosphärischem einfing, galt
für die gesamte Ssylka und Katorga auf der Insel, wenngleich er nur das Schicksal der
kriminellen Sträflinge nachzeichnen konnte.696 Auch die britischen Reisenden Charles
Hawes und Harry De Windt und der russische Journalist Vlas Doroševič beschränkten
sich, von wenigen Seitenblicken abgesehen, auf die Katorga der ugolovnye. Um die „an­
dere Katorga“ von Sachalin – in Abgrenzung zur transbaikalischen – vorstellbar zu ma­
chen, sind in diesem Abschnitt allerdings die Bedingungen für die „Politischen“ auf der
Insel von vordringlichem Interesse.697
Auf Sachalin war das Eiland selbst das Gefängnis – auch für die Katorga-Sträflinge.
Haftanstalten gab es zwar, wenngleich sie erst im Laufe der Jahre errichtet worden wa­
ren.698 Ihr Zustand variierte, nicht anders als auf dem Festland, von Ort zu Ort.699 Nur ein
Bruchteil der in den neunziger Jahren – je nach Quelle – zwischen 5000 und 6000 zu
Katorga-Strafen Verurteilten (die „Politischen“ machten einen verschwindend kleinen
Anteil von ihnen aus) saß aber tatsächlich in den Gefängnissen ein.700 Die offizielle
„Karriere“ sah zwar für Häftlinge mit langen Strafen zuerst einen Gefängnisaufenthalt
unter harten Bedingungen (Fesseln, Kopfrasur) vor, der in einen milderen Strafvollzug
und zuletzt in die Ansiedlung überging, doch siedelten jene, die mit ihren Familienange­
hörigen auf die Insel gekommen waren, von Anfang an zusammen mit diesen in Bauern­
wirtschaften und gab es auch für alleinstehende katoržane mit kürzeren Haftfristen
meist rasch die Möglichkeit, das Gefängnis hinter sich zu lassen und bei Ansiedlern un­
terzukommen.701 Das war mit dem Arbeitsregime gekoppelt. In der ersten Phase der Haft
war schwere Zwangsarbeit, ohne Ausnahme für die „Politischen“, im Wald, in der Koh­
leförderung oder beim Wegebau zu leisten. Im Unterschied zur transbaikalischen Kat­
orga mangelte es auf Sachalin nie an Arbeit, sofern die Sträflinge nutzbringend einge­
setzt wurden, und es war auch die Fluchtgefahr nicht im selben Maß ein Thema wie auf
dem Festland.702 Allerdings ging die Sachaliner Katorga-Verwaltung bald dazu über, die
695 Vgl. KACZYNSKA Gefängnis, S. 110f.
696 Vgl. THOMAS „Die Insel Sachalin“, S. 149–158, zur Zensur, der Čechov unterworfen war, bes. 152f.
697 Als Beitrag zur dem Verbannungssystem innewohnenden Einseitigkeit ist auch die auf weiteren Me­
moiren und auf Archivmaterialien beruhende Darstellung Ivan Senčenkos (SENČENKO Revoljucionery)
nützlich.
698 KACZYNSKA Gefängnis, S. 110.
699 ČECHOV Ostrov Sachalin, S. 91–96, schildert das Gefängnis von Aleksandrovsk durchaus positiv; die
Häftlinge genossen viele Freiheiten – unter anderem waren die Türen und Fenster im Sommer offen –
und trugen keine Ketten, bis auf jene, die einem speziellen Trakt untergebracht waren, wo es dem­
gegenüber bedeutend unansehnlicher war und harscher zu und her ging. Für andere Gefängnisse, wie
jenes in der Kohlestadt Duė, fand er weniger positive Worte (S. 137–139).
700 DE WINDT Siberia, S. 53f., und SENČENKO Revoljucionery, S. 95.
701 SENČENKO Revoljucionery, S. 103 und 127.
702 DE WINDT Siberia, S. 104f., lobt, dass es hier für alle Arbeit gebe. SENČENKO Revoljucionery, S. 102,
vergleicht die Sachaliner Katorga mit jener an der Kara und zieht unter anderem aus dem Umstand,
dass auf der Insel auch „Politische“ schwere Arbeit leisten mussten, den Schluss, die Katorga an der
Kara sei leichter zu ertragen gewesen. Kaczynskas unbelegte Aussage, wonach die Mehrheit der

132

4.7. Sachalin – die andere Katorga

oft einigermaßen gebildeten „Politischen“ vorwiegend in der Administration zu beschäf­
tigen. Senčenkos Einwand, die Obrigkeit habe dies nur getan, um die politischen Häft­
linge noch besser, nämlich buchstäblich mit eigenen Augen, kontrollieren zu können,
wirkt etwas konstruiert.703 Wer für Schreib- oder Buchhaltungsaufgaben eingesetzt wur­
de, war nur noch auf dem Papier ein katoržanin. Ermakovs Gefährte Anatolij Gavrilov
etwa besorgte sich, nachdem er sich um eine ihm passende Stelle als Verwaltungsmitar­
beiter bemüht hatte, umgehend ein Zimmer außerhalb des Gefängnisses und befand sich
damit in nicht viel anderen Umständen, als wenn er sich in der Ssylka befunden hätte.704
Ermakov selber, ein Arbeiter, sollte nach Ansicht des sehr zuvorkommenden Gefängnis­
kommandanten von Rykovskoe, Sobolev, ebenfalls administrative Arbeiten überneh­
men, zog aus ideologischen Gründen – er wollte als Revolutionär nicht in den Dienst
des Staates treten – stattdessen aber schwere Holzfällertätigkeit vor und blieb vorerst im
Gefängnis. Weil er sich aber der Arbeit im Wald bald verweigerte, schickte ihn Sobolev
als Schreibgehilfen zu einem „Politischen“, der eine Mühle betrieb und eigentlich gar
keiner zusätzlichen Hilfskraft bedurft hätte; die beiden richteten es sich gemütlich ein.705
Auf diese Weise – und diese Beispiele waren keine Einzelfälle – verflossen die Grenzen
zwischen Katorga und Ssylka. Die dem Verhalten der Behörden ohnehin, auch auf dem
Festland, innewohnende Willkür war dadurch noch um eine Komponente reicher – wer
wie lange oder überhaupt im Gefängnis einsitzen musste, lag letztlich im Ermessens­
spielraum der lokalen Beamten und führte zwingend zu einer Chancenungleichheit.
Ermakovs Erinnerungsbericht erscheint in weiten Teilen als ein Gegenbild zur Dar­
stellung und Quelleninterpretation Senčenkos; die Sachaliner Katorga wird zwar als kor­
ruptes, schlecht geführtes, ineffektives und leicht aushöhlbares Zwangsarbeitssystem ge­
schildert, nicht aber als ausgesprochen unmenschliches Regime, wie dies Senčenko im­
mer und immer wieder, gerade für die „Politischen“, betont. Wichtige Ursache für die­
sen deutlichen Akzentunterschied dürfte, neben dem ideologisch bedingten Interesse
Senčenkos an einer drastischen Darstellung der Zustände, der Umstand sein, dass Erma­
kov erst nach der Jahrhundertwende auf der Insel weilte. Besonders die ersten andert­
halb Jahrzehnte der bloß zwei Dekaden dauernden politischen Katorga auf Sachalin (die
ersten „Politischen“ waren 1886 in den Fernen Osten geschickt worden706) waren von ei­
nem harten Regime geprägt. Diesem lag vor allem die Furcht der Behörden zugrunde,
die politischen Sträflinge könnten unter den Kriminellen, aber auch unter den Verbann­
ten (ssyl’nye) revolutionär agitieren und diese zu Aufständen animieren.707 Gleichwohl
Sträflinge im Kohleabbau beschäftigt gewesen sei, ist angesichts der geringen Fördermengen und der
damit verbundenen vergleichsweise wenigen Arbeitsplätzen, wie es GENTES Sakhalin Policy, S. 6, dar­
legt, abzulehnen (KACZYNSKA Gefängnis, S. 110).
703 SENČENKO Revoljucionery, S. 100. Positiver seine Einschätzung S. 146.
704 ERMAKOV Dva goda, S. 162f. DOROŠEVIČ Sachalin, S. 265, verweist ebenfalls darauf, dass die „Politi­
schen“ oft leichte (administrative) Zwangsarbeitsaufgaben bekleidet und daher in einer „anderen Kat­
orga“ gelebt hätten.
705 ERMAKOV Dva goda, S. 163–167. Ermakovs Hauptbeschäftigung lag darin, seinem Genossen jeden
Abend Bücher vorzulesen.
706 SENČENKO Revoljucionery, S. 89.
707 Diese Furcht war in der gesamten Katorga sehr stark verbreitet, vgl. GENTES Sakhalin Policy, S. 19.
Vgl. auch SENČENKO Revoljucionery, S. 99f. und 120. Ganz am Schluss, während des russisch-japani­
schen Krieges, der auch auf der Insel ausgefochten wurde, nahm angeblich die Härte nochmals zu.

133

OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN Mitteilung Nr. 56

zeichnete sich gerade die Sachaliner Katorga – durchaus mit Vorbildcharakter für den
Nerčinsker Kreis708 – dadurch aus, dass die „Politischen“ und die Kriminellen von An­
fang an nicht getrennt untergebracht wurden und offiziell für alle dieselben Bedingun­
gen herrschten – inklusive der höchst umstrittenen Körperstrafe, die auf der Insel gene­
rell, ohne Rücksicht auf politische Sträflinge, ausgiebig praktiziert wurde.709 Der Vor­
wurf, die Administration habe die ugolovnye immer wieder gegen die „Politischen“ auf­
gehetzt, taucht auch bei Senčenko auf.710 Die „Politischen“ waren jedoch untereinander
ebenso wenig einig; weniger der parteipolitische als der soziale Bruch zwischen Arbei­
tern und Intellektuellen spielte eine Rolle, wie Ermakov bereits sehr bald zu hören be­
kam.711 Von politischen Aktivitäten berichtet er nicht explizit; allerdings fand der Ge­
fängnisdirektor Sobolev bei einer Durchsuchung von Ermakovs Zimmer illegale, nicht
näher umschriebene Broschüren.712 Vertraut man den Schilderungen Senčenkos, der, von
seinem Hintergrund her nicht überraschend, den revolutionären, propagandistischen
Umtrieben auf der Insel große Beachtung schenkt, gelang es den politischen Sträflingen
trotz dem als harsch dargestellten Alltag, unter der Bevölkerung – unter Multiplikatoren
(vor allem Lehrern) und Schülern –, unter den Kriminellen und den Soldaten zu agitie­
ren.713 Auch wenn Senčenko auf die „grausamen Bedingungen“ verweist, die den revolu­
tionären Kampf sehr stark erschwert hätten und daraus das umso heroischere Engage­
ment der Revolutionäre herleitet:714 Dass es den „Politischen“ überhaupt möglich war,
ihre Ideen unter diesen Bevölkerungsschichten zu verbreiten, geheime Treffen abzuhal­
ten, die Drähte zur Außenwelt zu pflegen (auf legalem und illegalem Weg) und wider
die offiziellen Richtlinien selbst als Lehrer tätig zu sein,715 sind Zeichen dafür, dass die
Freiräume so klein auch nicht gewesen sein konnten. Die katoržane unterhielten regel­
mäßige „konspirative Briefwechsel“ mit Weggefährten in der Freiheit, korrespondierten
aber auch mit Genossen in Sibirien, die vermutlich dort in der Katorga oder in der Ver­
bannung lebten.716 Die Willkür der Behörden, die stets drohte, war wohl eine der größten
Einschränkungen; um den „Politischen“ das Knüpfen von Netzwerken zu erschweren,
versetzten die Behörden sie ständig, so dass sie in der Regel nie lange derselben Tätig­
708 Vgl. die Erwägungen zur neuen Strafpolitik 1890 (FOMIN Katorga, bes. S. 17) und Fußnote 441.
709 Vgl. SENČENKO Revoljucionery, S. 108. ČECHOV Sachalin, S. 353–363, schildert eindrücklich die Voll­
streckung einer Prügelstrafe an einem Kriminellen. DE WINDT Siberia, S. 92, ließ sich die verschiede­
nen Prügelinstrumente (rozga, plet’) zeigen.
710 SENČENKO Revoljucionery, S. 98.
711 ERMAKOV Dva goda, S. 161. Laut SENČENKO Revoljucionery, S. 92, gab es mehr Arbeiter als Akademi­
ker. Gleichzeitig bemerkt er aber auch, die Mehrheit der „Politischen“ seien dvorjane (Adlige) gewe­
sen, was sich jedoch in ihrem Verhalten nicht niedergeschlagen habe … (ebd., S. 93). Auch Ermakovs
Gefährte Gavrilov gehörte zum Adel und war in Moskau im Gefängnis daher auch besser behandelt
worden, vgl. ERMAKOV Dva goda, S. 152.
712 ERMAKOV Dva goda, S. 175.
713 SENČENKO Revoljucionery, S. 105, 116 und 119f.
714 Vgl. SENČENKO Revoljucionery, S. 105 und 126.
715 SENČENKO Revoljucionery, S. 113 und 116 (konspirative Treffen, Lehrtätigkeit).
716 SENČENKO Revoljucionery, S. 112–114, und ERMAKOV Dva goda, S. 174. Der katoržanin Ivan Mejsner
schrieb Gedichte, die er seinen Mitstreitern und Angehörigen in Russland schickte; dabei nahm er
auch Bezug auf Ereignisse in der Katorga, etwa auf die „Tragödie von Kara“ 1888/89. Die Verse
Mejsners, die an jene Jakubovičs aus der Katorga von Akatuj erinnern, sind bei Senčenko abgedruckt
(S. 113).

134

4.7. Sachalin – die andere Katorga

keit nachgehen konnten.717 Hinzu kam die problematische wirtschaftliche Situation. Die
meisten politischen Sträflinge waren, ohne in ihrem früheren Leben je entsprechende
Erfahrungen gesammelt zu haben, gezwungen, in der Landwirtschaft tätig zu sein; die
Subsistenzwirtschaft stand im Vordergrund, weil die Böden wenig ergiebig waren. Die
„Politischen“ werden dabei von Senčenko als eigentliche landwirtschaftliche Pioniere
gewürdigt – so dass es fast nach einer Apologie der Kolonisation auf Sachalin klingt.718
Pioniere in einem anderen Sinn waren verschiedene politische Sträflinge, die sich
nach der ersten Phase ihrer Katorga-Strafe der wissenschaftlichen Erkundung des Ei­
lands annahmen und sich damit akademischen Ruhm erwarben. Bronislav Pilsudskij
(Piłsudski) führte umfangreiche ethnographische Studien über die eingeborenen Völker
der Insel (Ainu, Nivchen, Oroken) durch, deren Ergebnisse er einerseits in europäischen
Fachorganen veröffentlichte und anderseits, zusammen mit den ergänzenden For­
schungen des politischen Verbannten Lev Šternberg, ins Regionalmuseum von Aleksan­
drovsk einbrachte, an dessen Einrichtung auch weitere „Politische“ beteiligt waren.719
Andere bauten Schulen und Bibliotheken auf, erforschten die meteorologischen oder bo­
tanischen Verhältnisse auf der Insel, publizierten in der auf dem Festland erscheinenden
Zeitung „Amurskij kraj“ („Region Amur“) über das Leben auf Sachalin und engagierten
sich bei der medizinischen Betreuung der Bevölkerung.720 Auch diese Lichtblicke, die
Auskunft über die Freiräume geben, gehörten zur Strafkolonie Sachalin, und sie zeigen,
dass die Administration durchaus gewillt war, von dem intellektuellen Potential zu pro­
fitieren, das es auf die Insel verschlagen hatte721 – was beiden Seiten zugute kam.
Das Verhältnis zwischen den katoržane und den Vertretern der Staatsmacht ist mit­
hin auch auf Sachalin nicht mit der simplen Dichotomie zwischen „guten“ Sträflingen
und „böser“ Obrigkeit zu fassen. Letztere besaß ohne Zweifel einen besonders üblen
Ruf wegen ihrer Miss- und Vetternwirtschaft und Willkür. Strafen, selbst die in Russ­
land bis 1905 wenig verbreitete Todesstrafe, wurden rasch verhängt und sofort voll­
streckt; auch „Politische“ mussten jederzeit die schärfsten Bestrafungen gewärtigen.722
Und in den Gefängnissen waren noch zu Čechovs und De Windts Zeiten – also in den
717 SENČENKO Revoljucionery, S. 127; vgl. auch DOROŠEVIČ Sachalin, S. 265, zum Damoklesschwert der
Willkür.
718 SENČENKO Revoljucionery, S. 146. Zu den Schwierigkeiten, von den Ernten zu leben, vgl. ČECHOV
Ostrov Sachalin, S. 122, und ERMAKOV Dva goda, S. 168 und 171. Letzterer unterhielt einen kleinen
Garten, um sich ernähren zu können, da er für seine spätere Aufgabe als Aufseher über Straßenbau­
arbeiten nicht entlöhnt wurde.
719 SENČENKO Revoljucionery, S. 128–130. Bronislav Pilsudskij (Piłsudski) war der Bruder Józef Piłsuds­
kis, des polnischen Generals und Politikers. Vgl. die Ausführungen über Pilsudskij, Šternberg und die
Lage der politischen Sträflinge bei DALOS Reise, S. 42–56. Vgl. auch FORSYTH History, S. 194, sowie
das Kapitel XIV bei HAWES Uttermost East, S. 248–276, zu den Sitten des Volks der Nivchen („Gil­
jaken“).
720 Zusammenfassend SENČENKO Revoljucionery, S. 130–145 und 147.
721 In den Straflagern der Sowjetzeit gab es namentlich auf Solovki und entlang des Belomor-Kanals
zahlreiche Koryphäen unter den Häftlingen, die in ihren Fachgebieten tätig waren oder ortsspezifische
Forschungen machten – etwa der Philosoph, Theologe und Naturwissenschaftler Pavel Florenskij auf
Solovki oder der Historiker Nikolaj Anciferov am Belomor-Kanal. Während Anciferov (vorerst) nach
Leningrad zurückkehren konnte, wurde Florenskij erschossen. Vgl. zu den wissenschaftlichen und
kulturellen Aktivitäten der Gefangenen auf Solovki und am Belomor-Kanal SCHLÖGEL St. Petersburg,
S. 8–10, SCHLÖGEL Seele, S. 34–38, sowie die Bemerkungen weiter vorne in Fußnote 572.

135

OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN Mitteilung Nr. 56

neunziger Jahren – Häftlinge zur besonderen Demütigung Tag und Nacht an Schubkar­
ren gekettet, eine Strafmethode, die in der Nerčinsker Katorga zwei Jahrzehnte vorher
abgeschafft worden war.723 Im direkten Umgang zwischen den „Politischen“ und den Be­
hörden waren die Muster von demütigenden Forderungen und Symbolhandlungen und
von Provokationen und Gegenprovokationen dieselben wie in Transbaikalien. Auch auf
Sachalin versuchte die Obrigkeit, die Sträflinge zu duzen und zu zwingen, zur Ehrerbie­
tung die Mütze beim Gruß zu heben, und auch hier kam es zu Protesten, die sich rasch
über den Kreis der eigentlich Betroffenen hinaus ausweiteten und mit harten Strafen be­
antwortet wurden.724 Allerdings herrschte nicht selten ein durchaus vertrauensvoller Um­
gang von „Politischen“ und Vertretern der Staatsmacht – ein Umstand, der in der beson­
deren Prägung der Insel als Strafkolonie und ihrer mehrheitlich aus Verbannten beste­
henden Gesellschaft wurzelte. Ermakov berichtet davon, dass die Aufseher von den Kri­
minellen Ehrbezeugungen erwarteten, den „Politischen“ aber selbst fast unterwürfig be­
gegneten.725 Diese Beobachtung deutet an, was Čechov und Doroševič in ihren ausführli­
chen Schilderungen der Sachaliner Lebensumstände für kriminelle Verbannte panora­
maartig ausbreiten: dass die eingangs zitierten negativen Bezeichnungen der Strafkolo­
nie für die Mehrheit der Inselbewohner, die Kriminellen, erst recht jener „menschenge­
machten Hölle“ entsprach, von der Gentes spricht.
Die Flucht, schließlich, bot sich, wenngleich sie immer wieder versucht wurde, als
Ausweg nicht an;726 insofern erfüllte sich zumindest eine Erwartung jener Kreise, die
sich Ende der sechziger Jahre für Sachalin als Strafkolonie ausgesprochen hatten. Ein
Eiland ohne Wiederkehr war Sachalin jedoch, zumindest für die „Politischen“ (deren
Schwerarbeit begrenzt war), nicht. Viele durften sich nach einigen – zuweilen: vielen –
Jahren des Aufenthalts auf der Insel auf dem russischen Festland im Fernen Osten nie­
derlassen und später auch in den europäischen Teil des Imperiums zurückkehren.

722 Vgl. KACZYNSKA Gefängnis, S. 111, und SENČENKO Revoljucionery, S. 108 (Vollstreckung der Prügel­
strafe).
723 DE WINDT Sachalin, S. 61 und 64, und ČECHOV Ostrov Sachalin, S. 148f., zu den in Voevodsk an Kar­
ren gefesselten Sträflingen (Kriminelle). Vgl. Anhang Bild 7 (S. 164).
724 SENČENKO Revoljucionery, S. 106–111.
725 ERMAKOV Dva goda, S. 171. In seinem historischen Rückblick erwähnt auch DALOS Reise, S. 52f., die
oft vergleichsweise zuvorkommende Art des Umgangs der Behördenvertreter mit den politischen Ver­
bannten.
726 SENČENKO Revoljucionery, S. 95 und 121.

136

5. Besserung – Bestrafung – Repression. Zum Schluss

5. Besserung – Bestrafung – Repression. Zum Schluss
Um nach Sachalin zu gelangen, reiste Anton Čechov 1890 auf dem Land- und Flussweg
von Moskau bis an die Mündung des Amur. Die beschwerliche Fahrt auf dem sibirskij
trakt ostwärts war seine persönliche Erschließung Sibiriens. Seine Briefe, vor allem aber
seine in der Zeitschrift „Novoe Vremja“ abgedruckten, während der Reise entstandenen
und von unterwegs an die Redaktion übermittelten Notizen unter dem Titel „Iz Sibiri“
(„Aus Sibirien“) dokumentieren die Annäherung an die „andere Welt“ – auch an jene
der Verbannten.727 Mit deren Schicksal hatte sich Čechov noch vor Antritt seiner Unter­
nehmung intensiv auseinandergesetzt; auf der Fahrt mischte sich nun das Gelesene mit
der Anschauung, die ihn in seiner tiefgreifenden Kritik des Verbannungssystems erst
recht bestärkte, wie unter anderem aus dem folgenden Notat hervorgeht:
„Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass man in fünfzig bis hundert Jahren auf unsere le­
benslänglichen Strafen mit dem gleichen Unverständnis und dem gleichen Gefühl der
Peinlichkeit zurückblicken wird, mit dem wir heute auf das Abhacken eines Fingers der
linken Hand zurückblicken. Und ich bin ebenfalls zutiefst davon überzeugt, dass wir, ob­
wohl wir aufrichtig und klar erkannt haben mögen, dass die lebenslange Dauer von Stra­
fen überholt und mit Vorurteilen behaftet ist, trotzdem nicht imstande sind, dem Elend
abzuhelfen.“728

Čechov fand sich als Kritiker des Verbannungssystems im ausgehenden Zarenreich
nicht allein. Über der Frage nach dem Sinn der Ssylka und der Katorga entspann sich
eine jahrzehntelange, bis zum Zusammenbruch des zarischen Staates dauernde Debatte,
die von verschiedenartigen Reformvorschlägen bis zur vollständigen Abschaffung ein
breites Spektrum an Beiträgen hervorbrachte. Čechovs zitierte Reflexion erfasst mit
dem Argument der Rückständigkeit einerseits und mit dem Verweis auf die Unfähigkeit
zum entscheidenden Bruch mit dem System anderseits zwei der Kernfragen in der Dis­
kussion.
Drei Perspektiven beherrschten die Frage nach dem Sinn der Verbannungs- und
Zwangsarbeitsstrafe in Sibirien. Erstens wurden im Zuge der immer größere Ausmaße
annehmenden Verbannung die Stimmen derer laut, welche die negativen Folgen für die
sibirische Bevölkerung beklagten. Denn viele der Tausenden von Verschickten fanden
in Sibirien kein Auskommen, zogen als Landstreicher herum und wurden erst recht kri­
minell.729 Zweitens wuchs, im Zusammenhang mit der Frage der Rückständigkeit gegen­
über dem Westen und der neuen Sensibilität für westeuropäische Strafpraktiken, insbe­
sondere für den darin zentralen Aspekt der Besserung, auch mit Blick auf die Bestraften
das Unbehagen über die Verbannungsstrafe. Die Verbannung in die „Wildnis“ wurde
zusehends als geradezu kontraproduktiv für die Besserung der Individuen angesehen.730
In diese doppelte Kritik mischte sich, drittens, die Wahrnehmung der Missstände und
der Überforderung der Verwaltung bei der Umsetzung der Strafe, die von der Organisa­
tion und Finanzierung des Transports über die Schwierigkeit, geeignete Orte und – im
727 Zur Entstehungsgeschichte der Reisenotizen „Iz Sibiri“ vgl. THOMAS „Die Insel Sachalin“, S. 152.
728 ČECHOV Aus Sibirien, S. 422 (im russischen Original ČECHOV Iz Sibiri, S. 27).
729 Detaillierte Kritik in diesem Sinne findet sich bei Nikolaj Jadrincev, vgl. JADRINCEV Sibir’, S. 171–
227, bes. 225–227. Vgl. zusammenfassend WOOD Crime, S. 227, und DALY Punishment, S. 356.
730 Zur Diskussion im Rahmen der Gefängnisreformen vgl. ADAMS Politics, S. 135–137.

137

OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN Mitteilung Nr. 56

Falle der Katorga – genügend Arbeitsmöglichkeiten für die Verbannten zu finden, bis
zur Überwachung derselben reichte.731 Im Zuge der Gefängnisreformen kamen konkrete
Reformprojekte zur Sprache – etwa im Jahr 1886 die Aufhebung der Katorga-Gefäng­
nisse in Transbaikalien und die Umwandlung der Etappengefängnisse in zeitgemäßer or­
ganisierte Strafanstalten732 –, aber aus Geldmangel setzte sich kaum eines der Vorhaben
durch. Der Entschluss zur Einrichtung der Katorga auf Sachalin, der eine direkte Ant­
wort auf die Misere im Verbannungssystem sein sollte,733 bewirkte fatalerweise genau
das Gegenteil; die Insel Sachalin wurde rasch zum Synonym für die akuten Krisensymp­
tome des Systems.734 Mögen auch Čechov und Kennan mit ihren Schilderungen, in de­
nen sie den Verstummten eine Sprache gaben, Reformschritte wie die Einschränkung
der gerichtlichen Verbannungsstrafe durch das Gesetz vom 12. Juni 1900 indirekt beför­
dert haben, so wurden doch praktisch keine der Missstände im Vollzug der KatorgaStrafe für politische Häftlinge nachhaltig behoben.
Der Grund dafür lag, neben der grundsätzlichen Trägheit des zarischen Beamten­
apparats, auch darin, dass die Verbannungs- und Zwangsarbeitsstrafe unterschiedliche
politische Ziele miteinander verknüpfte. Die Rückständigkeit des russischen Strafsys­
tems im Vergleich zu Westeuropa, wo die Verbannung als Form der Bestrafung weitge­
hend ausgedient hatte, bringt Jonathan Daly in Verbindung mit dem Umstand, dass mit
Sibirien der Verbannungsort kein Überseeterritorium, sondern eine zu entwickelnde
Großregion im eigenen Staatswesen darstellte.735 Dadurch vermengten sich zwangsläufig
Besiedlungs-, Kolonisierungs- und Strafpolitik,736 wenngleich die Katorga, wie die vor­
angegangenen Ausführungen verdeutlicht haben, durch die wenig effektive Arbeitsleis­
tung der Sträflinge die wirtschaftliche Erschließung Sibiriens im ausgehenden Zaren­
reich nur marginal zu beeinflussen vermochte.
Die Verbannungsstrafe wirkte als Folge dieser Politik in mehrfacher Weise grenzzie­
hend. Als Raum war Sibirien dafür prädestiniert, im europäischen Teil des Imperiums
unerwünschte Elemente zu verschlucken, die zugleich zur Kolonisierung und Erschlie­
ßung beitragen sollten. Die Grenzziehung entlang des Uralgebirges aber wurde zugleich
als eine kulturelle Markierung wahrgenommen – Sibirien war nicht nur geographisch
das „andere Russland“, sondern entwickelte sich auch durch die gesellschaftliche Gene­
se zu einem kulturell anderen, im europäischen Teil des Imperiums als freiheitlich und
zukunftsweisend bewunderten und als wild und „asiatisch“ verachteten Raum.737 Nicht
weniger als die räumliche war die soziale Dimension der „inneren Grenze“ entschei­
dend, welche die Ssylka und die Katorga im Russischen Reich zogen.738 Die Rück­
731 Vgl. zusammenfassend WOOD Crime, S. 232.
732 Vgl. ADAMS Politics, S. 136.
733 Zu den Voraussetzungen vgl. GENTES Sakhalin Policy, S. 14–20.
734 GENTES Sakhalin Policy, S. 29, spricht in diesem Zusammenhang von „the worst tendencies of imperi­
al Russia’s criminal justice system“.
735 DALY Punishment, S. 357.
736 Vgl. zur Differenzierung von Besiedlungs- und Kolonisierungspolitik SUNDERLAND ‚Colonization
Question‘, S. 210–213.
737 Vgl. dazu FIGES Natasha’s Dance, S. 378f., vor allem aber BASSIN Imperialer Raum, S. 384–391 zu den
negativen, S. 395–399 zu den positiven Wahrnehmungen Sibiriens durch das europäische Russland.
738 Vgl. zur Frage der sozialen Grenzen durch die Körperstrafen im Zarenreich in der ersten Hälfte des
19. Jahrhunderts den Aufsatz von SCHRADER Branding the Exile, S. 19–40, bes. 19–22. Die Überle­

138

5. Besserung – Bestrafung – Repression. Zum Schluss

ständigkeit der Strafform maß sich, folgt man Foucault, im westeuropäischen Kontext
am Grad der Körperlichkeit und der Bedeutung des Bestrafungs- statt des Umerzie­
hungsvorgangs.739 Die zarische Verbannungs- und Zwangsarbeitsstrafe war nicht nur
durch die sie begleitende, erst spät abgeschaffte Brandmarkungs- und Prügelpraxis eine
zutiefst körperliche Strafe; durch die beschwerliche Bewältigung des Weges, durch die
symbolhaften, markierenden Eingriffe wie Kopfrasur und Fußfesseln und – im Falle der
Katorga-Häftlinge – durch die Zwangsarbeit blieb sie es bis zuletzt. Der Akt der Ver­
bannung war überdies ein Akt der Bestrafung und nicht der Besserung oder Umerzie­
hung. Zusammen mit der räumlichen zog die Verbannung eine soziale Grenzlinie, die
für die Betroffenen weitaus endgültiger war als eine Gefängnisstrafe und die Sibirien,
den Raum, zur „anderen Welt“, zum Topos, machte.
Zu dieser „anderen Welt“ gehörte die Welt der politischen Katorga – oder, vielleicht
genauer: gehörten die Lebenswelten der Katorga mit ihren phasen- und gefängnisbe­
dingten Unterschieden und mit dem Weg nach Osten, der eine eigenständige Welt und
eine Annäherung an den Alltag in der Katorga zugleich darstellte. Für das Verständnis
der Bedeutung der Katorga-Strafe (und der Verbannung überhaupt) ist die Reise der
Häftlinge an den Ort des Strafvollzugs elementar. Die physische Bewältigung des
Raumes zwischen dem europäischen Russland und Transbaikalien, bis Ende des 19.
Jahrhunderts über Tausende von Kilometern mit dem Schiff auf den Flüssen und vor al­
lem zu Fuß auf dem sibirskij trakt, führte den Sträflingen die räumlichen, ethnischen
und kulturellen Dimensionen des Imperiums vor Augen und ließ sie die Bedeutung der
Verbannung in die Abgeschiedenheit der transbaikalischen Täler eindringlich erfahren.
Zugleich lernten sie das soziale Umfeld der Katorga kennen. Die Differenziertheit, mit
der die „Politischen“ in ihren Erinnerungen den Weg schildern, ist erstaunlich. Oft wi­
derspiegeln die Berichte hierüber ein positiveres Lebensgefühl als später über die Eintö­
nigkeit des Gefängnisalltags, weil die Reise allen Strapazen zum Trotz eine Abwechs­
lung und eine Begegnung mit dem Fremden bot, wie sie danach für Jahre nicht mehr
möglich waren. Ebenso aber widerspiegelt der Weg nach Osten die technische Entwick­
lung in den letzten Jahrzehnten des Zarenreiches – die Fertigstellung der Transsibiri­
schen Eisenbahn war nicht nur für die Verkehrserschließung Sibiriens allgemein revolu­
tionär, sondern auch für die Reise der Verbannten. Deren Wahrnehmung des Imperiums
und der Größe des Raumes jedoch relativierte sich durch die raschere Eisenbahnreise
beträchtlich.740
In der eigentlichen Welt der Katorga für die politischen Sträflinge, ab Anfang der
achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts und bis 1890 im politischen Gefängnis von Nižnja­
ja Kara getrennt von den Kriminellen und ab 1890 in unterschiedlicher Intensität und In­
teraktion gemeinsam mit diesen in den Gefängnissen der Nerčinsker Katorga, stand die
Häftlingsgesellschaft im Mittelpunkt des Gefängnisalltags. Zwar setzte formell die Ge­
fängnisadministration den Rahmen, innerhalb dessen sich die Sträflinge zu bewegen
hatten; aber die Bemerkung des polnischen Revolutionärs Feliks Kon, wonach die ka­
gungen lassen sich für das Verbannungssystem überhaupt weiterentwickeln.
739 Vgl. FOUCAULT Überwachen, S. 16–18. Ebd., S. 359, verwirft Foucault auch den Nutzen der Deportati­
on.
740 SCHIVELBUSCH Eisenbahnreise, S. 18, schreibt dazu: „Indem die sinnliche Anschauung der Erschöpfung
verlorengeht, geht die der räumlichen Entfernung verloren.“

139

OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN Mitteilung Nr. 56

toržane letztlich die Ordnung in den transbaikalischen Haftanstalten bestimmt hätten,741
scheint mehr als revolutionäre Rhetorik gewesen zu sein. In Vorwegnahme ihrer politi­
schen und gesellschaftlichen Vorstellungen praktizierten sie ein weitgehend kollektives
Leben; die meisten Güter und auch die eintreffenden finanziellen Unterstützungsleistun­
gen fielen an die Kommune und wurden gleichmäßig auf die Mitglieder verteilt. Das
egalitäre Gesellschaftsmodell der „Politischen“ und die hierarchische Struktur der Kri­
minellen waren, wie sich nach der Gleichstellung der beiden Häftlingskategorien 1890
zeigte, im Grunde nicht kompatibel; darüber hinaus unterschieden sie sich in ihrem
Wertekanon diametral. Das führte zu immer wiederkehrenden Reibereien zwischen den
Häftlingsgruppen und letztlich auch zum Scheitern eines gemeinsamen Alltags. Zwar
gab es zuweilen fruchtbare Interaktionen, vor allem dann, wenn die „Politischen“ die
Kriminellen unterrichteten, aber die Unberechenbarkeit der Beziehungen vergiftete das
Klima, so dass die beiden Lebenswelten nebeneinander existierten, auch ohne räumliche
Trennung.
Die Zwangsarbeit, die per definitionem zur Katorga-Strafe hätte gehören sollen, fris­
tete für die politischen Häftlinge paradoxerweise während des größten Teils der betrach­
teten Zeitspanne ein Nischendasein. Nirgendwo sonst zeigt sich die Unfähigkeit der Be­
hörden in der Organisation des Verbannungssystems drastischer als hier. Die Logistik
der Bewachung der „Politischen“ bei Außenarbeiten und überhaupt bei der Bereitstel­
lung von genügend Arbeitsmöglichkeiten für diese überforderte die Verwaltung. Die so­
zialen Folgen der erzwungenen Untätigkeit in dafür nicht ausgelegten Gefängnissen und
die Unmöglichkeit, sich der beständigen Nähe der Mitgefangenen zu entziehen, sind an­
hand des politischen Gefängnisses von Nižnjaja Kara in den achtziger Jahren zu erken­
nen. Die Bergwerksarbeit, die nach der Schließung der Gefängnisse an der Kara für „Po­
litische“ und der Zusammenführung der politischen und der kriminellen Katorga-Häft­
linge in Akatuj und später in weiteren Gefängnissen des Nerčinsker Kreises für alle zum
Strafvollzug gehörte, wurde von den Sträflingen fast schon als Wohltat aufgenommen,
wenngleich den euphorischen Stimmen aus dem Kreis der Gefangenen das Schicksal je­
ner entgegengehalten werden muss, die sich in den Minen für ihr ganzes weiteres Leben
gesundheitliche Schäden holten. Der wirtschaftliche Ertrag der Bergwerksarbeit blieb
aber gering. Erst während des Ersten Weltkriegs, als nach einer Unterbrechung von
mehr als einem Jahrzehnt wieder politische Häftlinge zu Außenarbeiten verpflichtet
wurden, hielt eine auf Normen basierende, den Einsatz des Häftlings stimulierende Ar­
beitsordnung Einzug, die gleichsam ein Propädeutikum für die Zwangsarbeitsheere der
Lagerwelten des 20. Jahrhunderts darstellte. Im Unterschied zu diesen galt es in der
transbaikalischen Katorga als Privileg, arbeiten zu können, aber der Preis dafür war
auch hier lebensbedrohend.
Die fehlende Arbeit während der achtziger Jahre und ab der Jahrhundertwende kom­
pensierten die katoržane mit Bildungs- und Kulturaktivitäten; angesichts der Monotonie
des Alltags hinter den Gefängnismauern nahmen diese Aktivitäten einen für die soziale
Verfassung der Häftlinge zentralen Stellenwert ein. Handelte es sich in Nižnjaja Kara
noch vorwiegend um individuelle Lektüre und Weiterbildung, fand später, zumal nach
1905, ein breites Spektrum an Unterrichtsstunden statt, während denen von der Alpha­
741 KON Pod znamenem, S. 274.

140

5. Besserung – Bestrafung – Repression. Zum Schluss

betisierung bis zum literarischen oder naturwissenschaftlichen Kolloquium alles gebo­
ten wurde. Die Häftlinge führten sogar selber Theaterstücke auf, deren Darbietungen
auch von der Bevölkerung der Umgebung besucht wurden. Die politische Stoßrichtung
dieser Aktivitäten ist evident. Hier wurde Umerziehung nicht durch die Administration,
sondern durch die Häftlinge selbst geleistet. Der Übergang zur Propaganda war fließend;
die Drähte zur Außenwelt mittels Postsendungen, Briefkontakt und selbst Telegrammund Telephonverkehr rissen kaum je ab. Die Freiräume für die Sträflinge, die sogar un­
gestört vom Gefängnis aus politische Beziehungen unterhalten konnten, waren mithin
erstaunlich groß. Wichtige Funktionen als Schnittstellen der Kommunikation übernah­
men wohlwollende Ärzte und insbesondere jene Häftlinge, die nach der Verbüßung ih­
rer Frist im Gefängnis ins „Freie Kommando“, oft in der Nähe der Gefängnisbauten,
entlassen worden waren.
Unter der Oberfläche einer scheinbaren politischen Homogenität der Häftlingsgesell­
schaft der „Politischen“ taten sich allerdings Brüche auf, die mit der zunehmenden Viel­
falt revolutionärer Gruppierungen zum Ende des 19. Jahrhunderts hin und mit der Riva­
lität zwischen den entstehenden größten Parteien, den Sozialdemokraten und den Sozial­
revolutionären, zu politischen Spannungen und mitunter zu Spaltungen führten. Auch
die soziale Einheit war fragil, zumal sich, parallel zur politischen Diversifikation, die
soziale Herkunft der politischen Gefangenen differenzierte. Für beide Tendenzen, für
die steigende Politisierung innerhalb der Häftlingsgesellschaft und für die Zunahme der
sozialen Heterogenität, ist die Zeit nach der Revolution von 1905 ein wichtiger Ein­
schnitt. War zum Beginn des 20. Jahrhunderts die Zahl der politischen Katorga-Häft­
linge stark zurückgegangen, nahm sie nach der Niederschlagung der revolutionären Um­
triebe nach 1905 drastisch zu. Der Zustrom vieler Soldaten, Matrosen und Arbeiter ver­
änderte die Zusammensetzung der politischen Katorga. Besonders im Zusammenleben
über politische und soziale Grenzen hinweg, aber auch in der Gestaltung des unmittel­
baren Lebensumfelds im Gefängnis, lassen sich geschlechtsspezifische Unterschiede aus
den Erinnerungsberichten herauslesen. Nach den verwendeten Quellentexten von Insas­
sinnen des Frauengefängnisses Mal’cevskaja zu urteilen, kam es dort zu keinen politi­
schen Fraktionierungen.
Allen Friktionen zum Trotz fanden die Häftlinge spätestens in ihrem Widerstand ge­
gen die Gefängnisadministration zur Geschlossenheit zurück. Die Häftlingsberichte mö­
gen die Stärke des kollektiven Lebens aus ideologischen Gründen idealisieren; an der
Bedeutung der weitgehenden Solidarität innerhalb der Häftlingsgesellschaft während
Auseinandersetzungen mit der Obrigkeit, als die sich zumeist die lokale Verwaltung,
mitunter aber auch Katorga-Verantwortliche und Generalgouverneure darstellten, ist an­
gesichts des Politisierungsgrads nicht zu zweifeln. Gleichzeitig haben die Ausführungen
gezeigt, dass die Darstellung der Proteste und der Beziehungen zwischen den Gefange­
nen und der Administration einer differenzierten Analyse unbedingt bedarf. Denn die
Erinnerungsberichte aus den vier betrachteten Jahrzehnten der politischen Katorga sind
voller dramatischer Schilderungen der Unterdrückung durch die Gefängnisobrigkeit und
der kämpferischen Auflehnung der Häftlinge gegen ein unmenschliches Regime. Nuan­
cierte Memoirentexte sind selten. Die sowjetische Forschung schließt an die Überbeto­
nung der Auseinandersetzungen an und schreibt die Botschaft von der Fortsetzung des

141

OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN Mitteilung Nr. 56

revolutionären Kampfs hinter den Gefängnismauern fort. Die Episodenhaftigkeit der
Zusammenstöße zwischen den „Politischen“ und der Administration kommt kaum zum
Vorschein, ebensowenig wie das Verhältnis von Obrigkeit und Sträflingsgesellschaft als
Wechselbeziehung begriffen wird, für die der Habermassche Begriff der Kommunikati­
on erweitert werden muss – Kommunikation muss nicht verständigungsorientiert sein.
Die kommunikative Dimension ebenso wie die Episodenhaftigkeit ist für den Cha­
rakter der Vorfälle und für die Haftbedingungen insgesamt bedeutungsvoll. Das Aufbre­
chen einer absolut dichotomischen Interpretation der Koexistenz von Bewachern und
Bewachten – und damit eine auf die Ursachen der Proteste differenzierter eingehende
Sichtweise – ermöglicht es, zum einen, zu erkennen, dass bereits für den damaligen
Strafvollzug gängige Symbolhandlungen als Provokation aufgefasst wurden, weil sie
den „Politischen“ als demütigend erschienen; zum andern legt es offen, wie sehr durch
oft ungeschicktes, hilfloses Agieren einer überforderten Obrigkeit rasch eine Kaskade
von Provokationen und Gegenprovokationen ausgelöst wurde, welche die Eskalation der
Ereignisse zuletzt keiner der beiden Frontseiten mehr zuordnen ließ. Die Häftlingsge­
sellschaft der „Politischen“ kämpfte für die Würde; nicht dafür, die Würde als Mensch
im Kampf ums Überleben zu bewahren, wie dies den Alltag in den Lagerwelten des 20.
Jahrhunderts auszeichnete, sondern primär für die Würde, als politische, als privilegierte
Gefangene behandelt zu werden. Auf die Haftbedingungen bezogen, bedeutete das, dass
die Kräfte der Häftlinge und ihre Lebensumstände die Form eines Widerstands, der
nicht auf das Überleben an sich ausgerichtet war, zuließen. Die elementaren Bedürfnisse
der Gefangenen waren erfüllt – die Kost bewegte sich, aller Kritik daran zum Trotz, im
Rahmen des damals für den hart arbeitenden russischen Bauernstand üblichen, die
Wohnverhältnisse entsprachen, abgesehen vom Eingesperrtsein, denjenigen in einer Fa­
brikunterkunft. Der Umgang mit der Frage der Würde stellt bis heute im weltweiten
Strafvollzug eine Gratwanderung dar.
Die Episodenhaftigkeit der Verschärfungen und Zusammenstöße ist bedeutsam. Hät­
ten diese durchgehend das Gefängnisklima beherrscht, wären die Bildungs- und Kul­
turaktivitäten und die starke Prägung des Gefängnisalltags durch die Kommunen un­
denkbar gewesen und eben auch der Kampf um zweifellos hehre, aber vor dem Hin­
tergrund der Überlebensfrage eher marginale Ziele. In der Episodenhaftigkeit manifes­
tierte sich aber auch die Willkür der Obrigkeit in der Handhabung der Strafvollzugs­
praktiken. Die Willkür wiederum, durch welche sich das zarische Vorgehen gegen die
Gegner der herrschenden Ordnung generell auszeichnete, zeigt, dass Macht und Ohn­
macht auch in der Katorga nah beisammen lagen. Die Macht der vergleichsweise klei­
nen Gruppen der „Politischen“ in den Gefängnissen war groß, und die Handlungen der
Verwaltung, welche eigentlich am längeren Hebel saß und über die Macht hätte verfü­
gen müssen, zeugten oft von Hilflosigkeit und legten ein von Inkompetenz und Vettern­
wirtschaft geprägtes Gebaren offen. Zwischen den Anordnungen übergeordneter, aber
auch lokaler Stellen und deren Durchsetzung klaffte eine große Lücke. Die politischen
Häftlinge anderseits agierten mitunter erstaunlich professionell, etwa indem sie ihre
Kanäle zur Außenwelt zur Verbreitung der dramatischen Höhepunkte in Gefängnissen
gezielt ausnutzten. Auch in dieser Hinsicht lassen sich zwischen den Mechanismen der
Wechselbeziehungen von Obrigkeit und Häftlingsgesellschaft in den Katorga-Gefäng­

142

5. Besserung – Bestrafung – Repression. Zum Schluss

nissen Transbaikaliens und den politisch-gesellschaftlichen Verhältnissen im gesamten
Imperium Bezüge herstellen: Die Opposition war in ihrem Organisierungsgrad dem
schwerfälligen Beamtenapparat oft einen Schritt voraus.
Der Vergleich zwischen der historischen Makroebene, wie sie im Kapitel 2 und be­
sonders in der Darstellung der Ereignisse von 1905 zur Darstellung kommt, und der Mi­
kroebene der Welt der Katorga zeigt das Bild einer von Ohnmacht erfassten Macht im
Großen wie im Kleinen. Das bedeutet nicht, dass die Nerčinsker und Sachaliner Katorga
als Modell der Verhältnisse im ausgehenden Zarenreich zu gelten hätten. Aber die von
erstaunlichen Freiräumen und Entfaltungsmöglichkeiten einerseits und von erniedrigen­
den Symbolhandlungen, Willkür, Unterdrückung und Unfähigkeit der Verwaltung ande­
rerseits geprägte Lebenswelt der katoržane erweist sich als ein Spiegel der auf Reichs­
ebene vorherrschenden Mechanismen und Verhaltensweisen. Dazu passt auch die nie
verstummende, aber auch nie zu grundlegenden Veränderungen führende Diskussion
über den Sinn des Verbannungssystems – auf der Makro- wie auf der Mikroebene ver­
pufften die Reformvorhaben zu einem guten Teil in der Weite der Bürokratie und des
Raumes.
Die Katorga war keine Besserungsstrafe, obwohl sie im russischen Strafgesetzbuch
unter diese Kategorie fiel. Die Paradoxie der Besserung bestand im zarischen Zwangs­
arbeitssystem erstens im Umstand, dass entgegen der ursprünglichen Definition der Kat­
orga und des im westeuropäischen Strafdiskurs hervorgehobenen erzieherischen Nut­
zens der Arbeit742 über Jahrzehnte den „Politischen“ gar keine Arbeitsmöglichkeiten ge­
boten wurden, und zweitens darin, dass die Erziehungs- und damit auch Besserungs­
anstrengungen von Seiten der politisierten Häftlinge und nicht der Gefängnisobrigkeit
kamen. Die zahlreichen Freiräume im Gefängnis und die als Wechselbeziehung zu be­
greifenden Konflikte mit der Administration schränkten den Repressionsgrad der Haft,
vor dem Hintergrund des historischen Kontextes, stellen- und phasenweise ein.
Das Vorhaben, die bisherigen historiographischen Paradigmata in der Erforschung
der Katorga-Strafe für politische Sträflinge in Transbaikalien und auf Sachalin aufzubre­
chen im Versuch, die Lebenswelt(en) der Katorga vom Weg nach Osten über den Alltag
in den Gefängnissen bis zu den Aufständen und den meist gescheiterten Fluchtversu­
chen zu rekonstruieren, hat neue, überraschende Facetten zutage gefördert und zu einer
differenzierten Einschätzung der zarischen Zwangsarbeitsstrafe beigetragen. Auf theore­
tisch-methodischer Ebene einerseits und auf einer noch stärker forcierten Kon­
textualisierung anderseits ließen sich die Ergebnisse noch vertiefen. So müsste die le­
bensweltliche Methode, wie sie Heiko Haumann, aber auch, von der Sozialgeschichte
ausgehend, Rudolf Vierhaus skizziert haben,743 stärker reflektiert werden. Die Wahrneh­
mung der Häftlinge gälte es weiter zu hinterfragen und in der Alltagswelt außerhalb der
Gefängnisse vermehrt zu kontextualisieren. Gruppendynamische und sozialpsycholo­
gische Ansätze wären bei einer weitergehenden Analyse der Häftlingsgesellschaft her­
anzuziehen; die Unterschiede zwischen den Lebenswelten der kriminellen und der poli­
tischen Delinquenten sollte genauer herausgearbeitet werden. Für den äußeren, räumli­
742 Vgl. FOUCAULT Überwachen, S. 308.
743 Vgl. HAUMANN Geschichtsschreibung, S. 105–122, und Vierhaus, Rekonstruktion, S. 7–28, sowie Fuß­
note 22.

143

OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN Mitteilung Nr. 56

chen und historischen, Rahmen könnte eine tiefergreifende Auseinandersetzung mit dem
Diskurs über die Erschließung und Kolonisierung Sibiriens die Positionierung der Kat­
orga bzw. des ganzen Verbannungssystems im ausgehenden Zarenreich verdeutlichen.
Nicht zuletzt haben sich auch immer wieder die Grenzen der Erinnerungsliteratur als
vorwiegend berücksichtigte Quellengattung eröffnet; archivalisches Material zur Ergän­
zung hätte zuweilen als Korrektiv fungieren können. Auf die alltagsgeschichtlich wich­
tigen Fragen nach Sexualität, Sterblichkeit und Tod gaben die herangezogenen Er­
innerungsberichte überdies keine Antwort; besonders die Sexualität und sexuelle Bezie­
hungen waren bis auf die mit Abscheu beobachteten Verhaltensweisen der Kriminellen
mit einem Tabu belegt.
Die Ergebnisse zeigen gerade auch bezüglich der Parallelen von Vorgängen und Me­
chanismen auf der Ebene des Imperiums und der Katorga, dass es sich durchaus lohnt,
die Katorga und das Verbannungssystem aus dem historiographischen Schattendasein
der Gegenwart hervorzuholen. Das gilt ebenso bezüglich des oft leichtfertigen Umgangs
mit dem Thema dort, wo es doch ans Licht gerückt wird: in populärwissenschaftlichen
Darstellungen und Medienberichten. Oft ist die Überschrift „Gulag der Zaren“ rasch ge­
schrieben, zuweilen garniert mit einem Bild aus den Lagerwelten des 20. Jahrhunderts.
Die kritische Auseinandersetzung mit dem historischen Ort der zarischen Verbannungsund Zwangsarbeitsstrafe geht dabei verloren. Ihn nicht aus den Augen zu verlieren, war
auch die unterschwellige Absicht dieser Untersuchung, die bewusst immer dort, wo es
angebracht schien, in Neben- und Fußnotenbemerkungen die ganz anderen Umstände
des sowjetischen Lagers bewusst zu machen versuchte. Die Beklemmung angesichts des
Nebeneinanders von Gulag-Erinnerung und unscheinbarem, für die ehemaligen Zwangs­
arbeiter und Verbannten der Zarenzeit errichtetem Gebäude am Petersburger TroickijPlatz hat so ihre Fortsetzung in dieser Studie gefunden.

144

6. Bibliographie

6. Bibliographie
6.1. Quellen
BOGDANOV Smert’

BOGDANOVIČ Posle pobega

ČECHOV Iz Sibiri

ČECHOV Ostrov Sachalin

ČECHOV Aus Sibirien

ČEMODANOV Katorga
ČUJKO God

DE WINDT Siberia

DEUTSCH Sechzehn Jahre
DOROŠEVIČ Sachalin
ERMAKOV Dva goda
EROCHOV Priiski

FIGNER Pis’ma
FOMIN Tragedija

FREJFEL’D Iz prošlogo

BOGDANOV, S. Smert’ P. G. Uspenskogo. In: Kara i drugie tjur’my nerčinskoj
katorgi: sbornik vospominanij, dokumentov i materialov. Red. A. DikovskajaJakimova i V. Pleskov. (Vsesojuznoe obščestvo političeskich katoržan i ssy­
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sbornik vospominanij, dokumentov i materialov. Red. A. Dikovskaja-Jakimo­
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lencev: istoriko-revoljucionnaja biblioteka žurnala „Katorga i ssylka“). Mo­
skva 1927. S. 73–91.
ČECHOV, A. P. Iz Sibiri. In: A. P. ČECHOV Sobranie sočinenij: tom desjatyj. Iz
Sibiri; ostrov Sachalin; fel’tony, stat’i; zapisnye knižki; dnevniki, 1882–1904.
Moskva 1963. S. 7–42.
ČECHOV, A. P. Ostrov Sachalin. In: A. P. ČECHOV Sobranie sočinenij: tom des­
jatyj. Iz Sibiri; ostrov Sachalin; fel’tony, stat’i; zapisnye knižki; dnevniki,
1882–1904. Moskva 1963. S. 43–394.
ČECHOV, ANTON Aus Sibirien. In: ANTON ČECHOV Die Insel Sachalin. Aus dem
Russischen von Gerhard Dick. Herausgegeben und mit Anmerkungen von Pe­
ter Urban. Zürich 1976. S. 403–435.
ČEMODANOV, G. N. Nerčinskaja katorga: Vospominanija byvšego načal’nika
konvojnoj komandy. Moskva 1924.
ČUJKO, V. God v Akatue. (Iz vospominanij karijca). In: Nerčinskaja katorga:
sbornik nerčinskogo zemljačestva. Red. M. A. Braginskij. (Vsesojuznoe
obščestvo političeskich katoržan i ssyl’no-poselencev). Moskva 1933. S. 101–
119.
DE WINDT, HARRY The New Siberia: Being an Account of a Visit to the Penal
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trict, Eastern Siberia. London 1896.
DEUTSCH, LEO G. Sechzehn Jahre in Sibirien: Erinnerungen eines russischen
Revolutionärs. Stuttgart 1921.
DOROŠEVIČ, VLAS MICHAJLOVIČ Sachalin. Moskva 1996 (Neuausgabe).
ERMAKOV, A. Dva goda na sachalinskoj katorge. In: Katorga i ssylka: istorikorevoljucionnyj vestnik, kniga 27, 1926. S. 151–177.
EROCHOV, A. Kazavskie priiski v period vojny. In: Nerčinskaja katorga: sbor­
nik nerčinskogo zemljačestva. Red. M. A. Braginskij. (Vsesojuznoe obščestvo
političeskich katoržan i ssyl’no-poselencev). Moskva 1933. S. 206–212.
FIGNER, V. N. Pis’ma katoržanok. In: Na ženskoj katorge: sbornik vospomina­
nij. S predisloviem i pod redakciej Very Figner. Moskva 1930. S. 217–221.
FOMIN, A. A. Karijskaja tragedija. (Po archivnym dokumentam). In: Kara i dru­
gie tjur’my nerčinskoj katorgi: sbornik vospominanij, dokumentov i materia­
lov. Red. A. Dikovskaja-Jakimova i V. Pleskov. (Vsesojuznoe obščestvo poli­
tičeskich katoržan i ssyl’no-poselencev: istoriko-revoljucionnaja biblioteka
žurnala „Katorga i ssylka“). Moskva 1927. S. 120–137.
FREJFEL’D, L. Iz prošlogo. In: Katorga i ssylka: istoriko-revoljucionnyj vestnik,
kniga 41, 1928. S. 66–81.

145

OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN Mitteilung Nr. 56

FREJFEL’D Iz prošlogo.
(Okončanie)
GINSBURG Marschroute
GINSBURG Gratwanderung

GUBEL’MAN Šamanka

HAWES Uttermost East

IVANOVSKAJA Pis’ma

IZMAJLOVIČ Iz prošlogo
[Teil 1]
IZMAJLOVIČ Iz prošlogo
[Teil 2]
JAKIMOVA Dokumenty

KACHOVSKAJA Iz vospomi­
nanij
Kantor S puti
Kara i drugie tjur’my

KENNAN Siberia I
KENNAN Siberia II
KENNAN Sibirien
KEYSERLING Graf Keyser­
ling
KON Pod znamenem
KORMIL’CEV Bor’ba

146

FREJFEL’D, L. Iz prošlogo. (Okončanie). In: Katorga i ssylka: istoriko-revolju­
cionnyj vestnik, kniga 42, 1928. S. 88–111.
GINSBURG, JEWGENIJA SEMJONOWNA Marschroute eines Lebens. Aus dem Russi­
schen von Swetlana Geier. Reinbek bei Hamburg 1967.
GINSBURG, JEWGENIA SEMJONOWNA Gratwanderung. Aus dem Russischen von Ne­
na Schawina. Vorwort von Heinrich Böll. Nachwort von Lew Kopelew und
Raissa Orlowa. München Zürich 71997.
GUBEL’MAN, M. Šamanka. In: Nerčinskaja katorga: sbornik nerčinskogo zeml­
jačestva. Red. M. A. Braginskij. (Vsesojuznoe obščestvo političeskich kator­
žan i ssyl’no-poselencev). Moskva 1933. S. 180–192.
HAWES, CHARLES H. In the Uttermost East: Being an account of investigations
among the natives and Russian convicts of the island of Sakhalin. Ed. David
N. Collins. (Siberian Discovery, 3). Richmond 2000 (Nachdruck; Erstausgabe
London 1904).
IVANOVSKAJA, P. Pis’ma o prošlom. (Iz žizni Akatuja v 1890 g.). In: Kara i dru­
gie tjur’my nerčinskoj katorgi: sbornik vospominanij, dokumentov i materia­
lov. Red. A. Dikovskaja-Jakimova i V. Pleskov. (Vsesojuznoe obščestvo poli­
tičeskich katoržan i ssyl’no-poselencev: istoriko-revoljucionnaja biblioteka
žurnala „Katorga i ssylka“). Moskva 1927. S. 138–150.
IZMAJLOVIČ, A. Iz prošlogo [Teil 1]. In: Katorga i ssylka: istoriko-revoljucion­
nyj vestnik, kniga 7, 1923. S. 142–191.
IZMAJLOVIČ, A. Iz prošlogo [Teil 2]. In: Katorga i ssylka: istoriko-revoljucion­
nyj vestnik, kniga 8, 1924. S. 143–174.
JAKIMOVA, A. Dokumenty o pobege s Kary. In: Kara i drugie tju’rmy Nerčin­
skoj katorgi: sbornik vospominanij, dokumentov i materialov. Red. A. Dikov­
skaja-Jakimova i V. Pleskov. (Vsesojuznoe obščestvo političeskich katoržan i
ssyl’no-poselencev: istoriko-revoljucionnaja biblioteka žurnala „Katorga i
ssylka“). Moskva 1927. S. 92–100.
KACHOVSKAJA, I. K. Iz vospominanij o ženskoj katorge. In: Na ženskoj katorge:
sbornik vospominanij. S predisloviem i pod redakciej Very Figner. Moskva
1930. S. 54–90.
KANTOR, R. M. S puti na Karu. (Pis’mo A. A. Zubkovskogo). In: Katorga i
ssylka: istoriko-revoljucionnyj vestnik, kniga 11, 1924. S. 231–237.
Kara i drugie tjur’my nerčinskoj katorgi: sbornik vospominanij, dokumentov i
materialov. Red. A. Dikovskaja-Jakimova i V. Pleskov. (Vsesojuznoe obščest­
vo političeskich katoržan i ssyl’no-poselencev: istoriko-revoljucionnaja biblio­
teka žurnala „Katorga i ssylka“). Moskva 1927.
KENNAN, GEORGE Siberia and the Exile System, Volume one. London 1891
(Nachdruck 1970).
KENNAN, GEORGE Siberia and the Exile System, Volume two. London 1891
(Nachdruck 1970).
KENNAN, GEORGE Sibirien …und der Zar weiß alles: Eine Reise in das russische
Verbannungssystem. Bearbeitet von Kurt-Rudolf Stratemann. Göttingen 2003.
KEYSERLING, ALFRED GRAF Graf Keyserling erzählt … Kaunas, Leipzig 1937.
KON, FELIKS Pod znamenem revoljucii. (Vospominanija). Moskva 1926.
KORMIL’CEV, F. Bor’ba s „ivanami“. In: Nerčinskaja katorga: sbornik nerčins­
kogo zemljačestva. Red. M. A. Braginskij. (Vsesojuznoe obščestvo političes­
kich katoržan i ssyl’no-poselencev). Moskva 1933. S. 130–134.

6.1. Quellen

KOVALIK Revoljucionerynarodniki
KOVAL’SKAJA V Gornom
Zerentue

KRAMAROV Kommuny

KRIVORUKOV Bor’ba
LANSDELL Trough Siberia
LEONHARD Leben
LEVČENKO Pobeg

MAKSIMOV Sibir’ tom 1
MAKSIMOV Sibir’ tom 2
MAKSIMOV Sibir’ tom 3
MARTYNOVSKIJ Na ka­
toržnom položenii
MELKOV Put’

MELSCHIN Im Lande 1

MELSCHIN Im Lande 2

METTER Stranička
MICHLIN Teatr
Na ženskoj katorge
Nerčinskaja katorga

KOVALIK, S. Revoljucionery-narodniki v katorge i ssylke. (Po ličnym vospomi­
nanijam). In: Katorga i ssylka: Istoriko-revoljucionnyj vestnik, kniga 11,
4/1924. S. 139–171.
KOVAL’SKAJA, E. V Gornom Zerentue 90-ch godov. In: Kara i drugie tjur’my
nerčinskoj katorgi: sbornik vospominanij, dokumentov i materialov. Red. A.
Dikovskaja-Jakimova i V. Pleskov. (Vsesojuznoe obščestvo političeskich ka­
toržan i ssyl’no-poselencev: istoriko-revoljucionnaja biblioteka žurnala „Kat­
orga i ssylka“). Moskva 1927. S. 151–160.
KRAMAROV, G. Bol’šaja i malaja kommuny. In: Nerčinskaja katorga: sbornik
nerčinskogo zemljačestva. Red. M. A. Braginskij. (Vsesojuznoe obščestvo po­
litičeskich katoržan i ssyl’no-poselencev). Moskva 1933. S. 135–141.
KRIVORUKOV, I. Bor’ba s „ivanami“ v Aleksandrovskij katorge. In: Katorga i
ssylka: istoriko-revoljucionnyj vestnik, kniga 47, 1928. S. 89–95.
LANSDELL, HENRY Trough Siberia. London 31882.
LEONHARD, SUSANNE Gestohlenes Leben: Schicksal einer politischen Emigrantin
in der Sowjetunion. Frankfurt am Main 1956.
LEVČENKO, N. Pobeg s Kary. In: Kara i drugie tju’rmy Nerčinskoj katorgi:
sbornik vospominanij, dokumentov i materialov. Red. A. Dikovskaja-Jakimo­
va i V. Pleskov. (Vsesojuznoe obščestvo političeskich katoržan i ssyl’no-pose­
lencev: istoriko-revoljucionnaja biblioteka žurnala „Katorga i ssylka“). Mosk­
va 1927. S. 55–72.
MAKSIMOV, SERGEJ VASIL’EVIČ Sibir’ i katorga. V trech častjach: tom 1. SanktPeterburg 1891.
MAKSIMOV, SERGEJ VASIL’EVIČ Sibir’ i katorga. V trech častjach: tom 2. SanktPeterburg 1891.
MAKSIMOV, SERGEJ VASIL’EVIČ Sibir’ i katorga. V trech častjach: tom 3. SanktPeterburg 1891.
MARTYNOVSKIJ, S. Na katoržnom položenii. In: Katorga i ssylka: istoriko-revo­
ljucionnyj vestnik, kniga 12, 5/1924. S. 181–211.
MELKOV, N. Put’ na katorgu. In: Nerčinskaja katorga: sbornik nerčinskogo ze­
mljačestva. Red. M. A. Braginskij. (Vsesojuznoe obščestvo političeskich ka­
toržan i ssyl’no-poselencev). Moskva 1933. S. 82–100.
MELSCHIN, L. [P. F. Jakubovič]. Im Lande der Verworfenen: Tagebuchblätter
eines sibirischen Sträflings, 1. Aus dem Russischen von Michael Feofanoff.
München 1987.
MELSCHIN, L. [P. F. Jakubovič]. Im Lande der Verworfenen: Tagebuchblätter
eines sibirischen Sträflings, 2. Aus dem Russischen von Michael Feofanoff.
München 1987.
METTER, P. F. Stranička prošlogo. In: Na ženskoj katorge: sbornik vospomina­
nij. S predisloviem i pod redakciej Very Figner. Moskva 1930. S. 91–109.
MICHLIN, E. Teatr v Zerentujskoj tjur’me. In: Katorga i ssylka: istoriko-revolju­
cionnyj vestnik, kniga 38, 1928. S. 90–99.
Na ženskoj katorge: sbornik vospominanij. S predisloviem i pod redakciej
Very Figner. Moskva 1930.
Nerčinskaja katorga: sbornik nerčinskogo zemljačestva. Red. M. A. Bragins­
kij. (Vsesojuznoe obščestvo političeskich katoržan i ssyl’no-poselencev). Mo­
skva 1933.

147

OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN Mitteilung Nr. 56

ORESTOVA Komanda

ORESTOVA, L. P. Akatujskaja vol’naja komanda. In: Na ženskoj katorge: sbor­
nik vospominanij. S predisloviem i pod redakciej Very Figner. Moskva 1930.
S. 173–184.
ORLOV Ob Akatue
ORLOV, M. P. Ob Akatue vremen Mel’šina. In: Katorga i ssylka: istoriko-revol­
jucionnyj vestnik, kniga 48, 1928. S. 106–117.
OZEROV Put’
OZEROV, I. Projdennyj put’. In: Nerčinskaja katorga: sbornik nerčinskogo zem­
ljačestva. Red. M. A. Braginskij. (Vsesojuznoe obščestvo političeskich kator­
žan i ssyl’no-poselencev). Moskva 1933. S. 152–162.
PIROGOVA Na ženskoj ka­ PIROGOVA, A. JA. Na ženskoj katorge. In: Na ženskoj katorge: sbornik vospomi­
torge
nanij. S predisloviem i pod redakciej Very Figner. Moskva 1930. S. 145–172.
PIROGOVA Konec
PIROGOVA, A. Konec nerčinskich palačej. In: G. N. Čemodanov. Nerčinskaja
katorga: Vospominanija byvšego načal’nika konvojnoj komandy. Moskau
2
1930. S. 168–172.
PLESKOV Pobegi
PLESKOV, V. Zerentujskie pobegi i podkopy. In: Katorga i ssylka: istoriko-revo­
ljucionnyj vestnik, kniga 8, 1/1924. S. 192–204.
PLESKOV ‚Vol’nyj universi­ PLESKOV, V. ‚Vol’nyj universitet‘ i kul’trabota na katorge. In: Katorga i ssylka:
tet‘
istoriko-revoljucionnyj vestnik, kniga 71, 1930. S. 164–176.
PLESKOV V gody
PLESKOV, V. V gody nevoli i bor’by. In: Nerčinskaja katorga: sbornik nerčins­
kogo zemljačestva. Red. M. A. Braginskij. (Vsesojuznoe obščestvo političes­
kich katoržan i ssyl’no-poselencev). Moskva 1933. S. 142–151.
PRIBYLEVA Moi vospomi­ PRIBYLEVA, A. Moi vospominanija o Kare. In: Russkoe bogatstvo, 1914, 3. S.
nanija
130–150.
RADZILOVSKAJA/ORESTOVA
RADZILOVSKAJA, F. N. / ORESTOVA, L. P. Mal’cevskaja ženskaja katorga. In: Na
Katorga
ženskoj katorge: sbornik vospominanij. S predisloviem i pod redakciej Very
Figner. Moskva 1930. S. 18–53.
RADZILOVSKAJA Komanda
RADZILOVSKAJA, F. N. Mal’cevskaja vol’naja komanda. In: Na ženskoj katorge:
sbornik vospominanij. S predisloviem i pod redakciej Very Figner. Moskva
1930. S. 122–144.
RADZILOVSKAJA/ORESTOVA
RADZILOVSKAJA, F. N. / ORESTOVA, L. P. Statističeskie svedenija o nerčinskoj
Svedenija
ženskoj katorge (s 1906g. po 1917g.). In: Na ženskoj katorge: sbornik vospo­
minanij. S predisloviem i pod redakciej Very Figner. Moskva 1930. S. 225–
232.
ROJTMAN Tjur’ma
ROJTMAN, I. Kadainskaja tjur’ma. In: Nerčinskaja katorga: sbornik nerčinskogo
zemljačestva. Red. M. A. Braginskij. (Vsesojuznoe obščestvo političeskich
katoržan i ssyl’no-poselencev). Moskva 1933. S. 168–173.
SÉCHAUD 28 Jahre
SÉCHAUD, MARK. 28 Jahre in Sibirien: Leidensgeschichte des Sibirischen Sträf­
lings Mark Séchaud, von ihm selbst erzählt. Autor. Übersetzung von Dr. Jo­
hann Bürli. Bern o. J.
SLOMJANSKIJ V Algačach
SLOMJANSKIJ, M. V Algačach. In: Katorga i ssylka: istoriko-revoljucionnyj vest­
nik, kniga 69, 1930. S. 139–148.
SOBOL’ Otryvki
SOBOL’, ANDREJ Otryvki iz vospominanij. In: Katorga i ssylka: istoriko-revolju­
cionnyj vestnik, kniga 13, 1924. S. 153–166.
SOLSCHENIZYN Archipel
SOLSCHENIZYN, ALEXANDER Der Archipel GULAG. 1917–1956: Versuch einer
Band 1
künstlerischen Bewältigung, Band 1. Aus dem Russischen von Anna Peturnig.
Reinbek bei Hamburg 152001 [1978].
STARODUBCEV Gornyj Ze­ STARODUBCEV, I. Gornyj Zerentuj poslednich let. In: Nerčinskaja katorga: sbor­
rentuj
nik nerčinskogo zemljačestva. Red. M. A. Braginskij. (Vsesojuznoe obščestvo
političeskich katoržan i ssyl’no-poselencev). Moskva 1933. S. 174–179.

148

6.1. Quellen

STARODUBCEV Na Nižnej
Borze

STARODUBCEV, I. Na Nižnej Borze. In: Nerčinskaja katorga: sbornik nerčinsko­
go zemljačestva. Red. M. A. Braginskij. (Vsesojuznoe obščestvo političeskich
katoržan i ssyl’no-poselencev). Moskva 1933.S. 213–217.
TIPUNKOV O tom
TIPUNKOV, A. M. O tom, čto bylo. (Vospominanija o Kutomarskoj katoržnoj
tjur’me). In: G. N. Čemodanov. Nerčinskaja katorga: Vospominanija byvšego
načal’nika konvojnoj komandy. Moskva 1924. S. 130–156.
UL’JANINSKIJ Mirovaja voj­ UL’JANINSKIJ, V. Mirovaja vojna i politkatoržane Aleksandrovskogo centrala.
na
In: Katorga i ssylka: istoriko-revoljucionnyj vestnik, kniga 30, 1927. S. 77–85.
Uloženie
Uloženie o nakazanijach ugolovnych i ispravitel’nych. In: Rossijskoe zakono­
datel’stvo X–XX vekov v devjati tomach, tom 6: Zakonodatel’stvo pervoj po­
loviny XIX veka. Red. O. I. Čistjakov. Moskva 1988. S. 274–309.
VASIL’EV Krukovskij
VASIL’EV, I. O čem pisal vrač Krukovskij. In: Nerčinskaja katorga: sbornik ner­
činskogo zemljačestva. Red. M. A. Braginskij. (Vsesojuznoe obščestvo politi­
českich katoržan i ssyl’no-poselencev). Moskva 1933. S. 163–167.
VASIL’EV Promysly
VASIL’EV, I. Novotroickie zolotie promysly. In: Nerčinskaja katorga: sbornik
nerčinskogo zemljačestva. Red. M. A. Braginskij. (Vsesojuznoe obščestvo po­
litičeskich katoržan i ssyl’no-poselencev). Moskva 1933. S. 193–205.
VITAŠEVSKIJ Na Kare
VITAŠEVSKIJ, N. Na Kare. (Smert’ Uspenskogo i pobeg 8-mi). In: Kara i drugie
tjur’my nerčinskoj katorgi: sbornik vospominanij, dokumentov i materialov.
Red. A. Dikovskaja-Jakimova i V. Pleskov. (Vsesojuznoe obščestvo političe­
skich katoržan i ssyl’no-poselencev: istoriko-revoljucionnaja biblioteka žurna­
la „Katorga i ssylka“). Moskva 1927. S. 110–119.
ŽUKOV Katorga
ŽUKOV, N. Tam, gde byla nerčinskaja katorga. In: G. N. Čemodanov. Nerčins­
kaja katorga: vospominanija byvšego načal’nika konvojnoj komandy. Moskva
2
1930. S. 173–181.
ŽUKOV Režim
ŽUKOV, N. N. „Režim kluba ili vozmutitel’nye izdevatel’stva nad zakonom“.
In: Nerčinskaja katorga: sbornik nerčinskogo zemljačestva. Red. M. A. Bra­
ginskij. (Vsesojuznoe obščestvo političeskich katoržan i ssyl’no-poselencev).
Moskva 1933. S. 120–129.
ŽUKOVSKIJ-ŽUK V dni
ŽUKOVSKIJ-ŽUK, I. V dni bor’by. In: Kara i drugie tjur’my nerčinskoj katorgi:
sbornik vospominanij, dokumentov i materialov. Red. A. Dikovskaja-Jakimo­
va i V. Pleskov. (Vsesojuznoe obščestvo političeskich katoržan i ssyl’no-pose­
lencev: istoriko-revoljucionnaja biblioteka žurnala „Katorga i ssylka“). Mosk­
va 1927. S. 168–182.

6.2. Darstellungen
ADAMS Politics
ALEKSEEVA Obščestvo

AMBURGER Geschichte
ANDREEV Revoljucionery-na­
rodniki

APPLEBAUM Gulag

ADAMS, BRUCE F. The Politics of Punishment: Prison Reform in Russia,
1863–1917. DeKalb 1996.
ALEKSEEVA, G. D. Obščestvo byvšich politkatoržan i ssyl’noposelencev.
In: Bol’šaja sovetskaja ėnciklopedija, t. 18. Red. A. Š. Prochorov et al.
Moskva 31974. S. 248.
AMBURGER, ERIK Geschichte der Behördenorganisation Russlands. (Studien
zur Geschichte Osteuropas, 10). Leiden 1966.
ANDREEV, V. M. Revoljucionery-narodniki na katorge i v ssylke. (K istorii
bor’by s sibirskoj administraciej). In: Ssyl’nye revoljucionery v Sibiri
(XIX v. – fevral’ 1917 g.): vypusk 3. Red. N. N. Ščerbakov. Irkutsk 1979.
S. 3–28.
APPLEBAUM, ANNE Gulag: A History. New York etc. 2003.

149

OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN Mitteilung Nr. 56

BABEROWSKI Justizwesen

BABEROWSKI Konstitution

BABEROWSKI Autokratie

BASSIN Imperialer Raum

BAUERKÄMPER / BÖDEKER /
STRUCK Einleitung
BUTLER Civil Rights

CHASIACHMETOV Organizacija

CHASIACHMETOV Sovetskaja is­
toriografija
COLLINS Introduction
CRISP/EDMONDSON Preface
DALOS Reise
DALY Autocracy
DALY Security Police

DALY Punishment

DALY Political Crime
DETKOV Tjur’my

150

BABEROWSKI, JÖRG Das Justizwesen im späten Zarenreich 1864–1914: Zum
Problem von Rechtsstaatlichkeit, politischer Justiz und Rückständigkeit in
Russland. In: Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte 13 (1991). S. 156–
172.
BABEROWSKI, JÖRG Die verhinderte Konstitution: Justiz und Autokratie im
späten Zarenreich 1864–1917. In: Vorträge zur Justizforschung: Ge­
schichte und Theorie, Band 2. Hg. Heinz Mohnhaupt und Dieter Simon.
(Rechtsprechung: Materialien und Studien. Veröffentlichungen des MaxPlanck-Instituts für Europäische Rechtsgeschichte, 7). Frankfurt am Main
1993. S. 369–404.
BABEROWSKI, JÖRG Autokratie und Justiz: Zum Verhältnis von Rechts­
staatlichkeit und Rückständigkeit im ausgehenden Zarenreich 1864–1914.
(Ius commune. Sonderhefte, Studien zur europäischen Rechtsgeschichte,
78). Frankfurt am Main 1996.
BASSIN, MARK Imperialer Raum / Nationaler Raum: Sibirien auf der kogni­
tiven Landkarte Russlands im 19. Jahrhundert. In: Geschichte und Gesell­
schaft 28 (2002). S. 378–403.
BAUERKÄMPER, ARND / BÖDEKER, HANS ERICH / STRUCK, BERNHARD Einleitung:
Reisen als kulturelle Praxis. In: Die Welt erfahren: Reisen als kulturelle
Begegnung von 1780 bis heute. Frankfurt New York 2004. S. 9–30.
BUTLER, W. E. Civil Rights in Russia: Legal Standards in Gestation. In:
Civil Rights in Imperial Russia. Ed. Olga Crisp and Linda Edmondson.
Oxford 1989. S. 1–12.
CHASIACHMETOV, Ė. Š. Organizacija pobegov političeskich ssyl’nych iz Si­
biri v 1906–1917 godach. In: Ssylka i obščestvenno-političeskaja žizn’ v
Sibiri (XVIII – načalo XX v.). Red. L. M. Gorjuškin et al. Novosibirsk
1978. S. 54–91.
CHASIACHMETOV, Ė. Š. Sovetskaja istoriografija sibirskoj političeskoj ssylki
1905–1917 gg. In: Političeskie ssyl’nye v Sibiri (XVIII – načalo XX v.).
Red. L. M. Gorjuškin et al. Novosibirsk 1983. S. 31–49.
COLLINS, DAVID N. Introduction. In: Siberian Discovery, Volume 1. Hg.
David N. Collins. Richmond 2000. S. v–xxix.
CRISP, OLGA / EDMONDSON, LINDA Preface. In: Civil Rights in Imperial Rus­
sia. Hg. Olga Crisp und Linda Edmondson. Oxford 1989. S. v–ix.
DALOS, GYÖRGY Die Reise nach Sachalin: Auf den Spuren von Anton
Tschechow. Hamburg 2001.
DALY, JONATHAN W. Autocracy under Siege: Security Police and Op­
position in Russia, 1866–1905. De Kalb 1998.
DALY, JONATHAN W. The Security Police and Politics in Late Imperial Rus­
sia. In: Russia under the Last Tsar: Opposition and Subversion, 1894–
1917. Hg. Anna Geifman. Oxford 1999. S. 217–240.
DALY, JONATHAN W. Criminal Punishment and Europeanization in Late Im­
perial Russia. In: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas N. F. 47 (2000).
S. 341–362.
DALY, JONATHAN W. Political Crime in Late Imperial Russia. In: The
Journal of Modern History 74 (2002). S. 62–100.
DETKOV, M. G. Tjur’my, lagerja i kolonii Rossii (k 120-letniju Glavnogo
tjuremnogo upravlenija Rossii). Moskva 1999.

6.2. Darstellungen

DVORJANOV V sibirskoj

DVORJANOV, V. P. V sibirskoj dal’nej storone…: Očerki istorii političeskoj
katorgi i ssylki, 60-e gody XVIII v. – 1917 g. Izdanie vtoroe, pere­
rabotannoe i dopolnennoe. Minsk 1985.
ENGELSTEIN Underdevelopment ENGELSTEIN, LAURA Combined Underdevelopment: Discipline and the Law
in Imperial and Soviet Russia. In: American Historical Review 98 (1993).
S. 338–353 und 376–381.
ENGELSTEIN Revolution
ENGELSTEIN, LAURA Revolution and the Theater of Public Life in Imperial
Russia. In: Revolution and the Meanings of Freedom in the Nineteenth
Century. Hg. Isser Woloch. Stanford 1996. S. 315–357.
EROŠKIN Katorga
EROŠKIN, N. P. Katorga. In: Bol’šaja sovetskaja ėnciklopedija, t. 11. Red.
A. Š. Prochorov et al. Moskva 31973. S. 536.
EROŠKIN Ssylka
EROŠKIN, N. P. Ssylka. In: Bol’šaja sovetskaja ėnciklopedija, t. 24. Red. A.
Š. Prochorov et al. Moskva 31976. S. 387–388.
FENNER Goulag
FENNER, JOCELYNE Le goulag des Tsars. Paris 1986.
FIGES Tragödie
FIGES, ORLANDO Die Tragödie eines Volkes: Die Epoche der russischen
Revolution 1891 bis 1924. Aus dem Englischen von Barbara Conrad un­
ter Mitarbeit von Brigitte Flickinger und Vera Stutz-Bischitzky. München
2001.
FIGES Natasha’s Dance
FIGES, ORLANDO Natasha’s Dance: A Cultural History of Russia. London
2003.
FOMIN Katorga
FOMIN, A. A. Nerčinskaja katorga poslednich desjatiletij (1888–1917 gg.).
In: Kara i drugie tjur’my nerčinskoj katorgi: sbornik vospominanij,
dokumentov i materialov. Red. A. Dikovskaja-Jakimova i V. Pleskov.
(Vsesojuznoe obščestvo političeskich katoržan i ssyl’no-poselencev:
istoriko-revoljucionnaja biblioteka žurnala „Katorga i ssylka“). Moskva
1927. S. 15–54.
FORSYTH History
FORSYTH, JAMES A History of the Peoples of Siberia: Russia’s North Asian
Colony, 1581–1900. Cambridge 21996.
FOUCAULT Überwachen
FOUCAULT, MICHEL Überwachen und Strafen: Die Geburt des Gefängnisses.
Aus dem Französischen von Walter Seitter. (Suhrkamp Taschenbuch,
2271). Frankfurt am Main 1994 [1976].
GARMIZA/ŽUKOV Maksimalisty GARMIZA, V. V. /ŽUKOV, A. F. Maksimalisty. In: Bol’šaja sovetskaja ėn­
ciklopedija, t. 15. Red. A. Š. Prochorov et al. Moskva 31974. S. 255.
GEIFMAN Thou Shalt Kill
GEIFMAN, ANNA Thou Shalt Kill: Revolutionary Terrorism in Russia,
1894–1917. Princeton 1993.
GEIFMAN Introduction
GEIFMAN, ANNA Introduction. In: Russia under the Last Tsar: Opposition
and Subversion, 1894–1917. Hg. Anna Geifman. Oxford Malden/Mass.
1999. S. 1–15.
GEIFMAN Terror
GEIFMAN, ANNA Entangled in Terror: The Azef Affair and the Russian Re­
volution. Wilmington/Delaware 2000.
GENTES Ivanova
GENTES, ANDREW A. [Review of Ivanova, Galina Mikhailovna. Labor
Camp Socialism: The Gulag in the Soviet Totalitarian System. Edited by
Donald J. Raleigh. Translated by Carol Flath. Armonk London 2000.] In:
H-Russia, H-Net Reviews, June 2001.
http://www.h-net.msu.edu/reviews/showrev.cgi?path=32567996087055
GENTES Sakhalin Policy
GENTES, ANDREW A. The Institution of Russia’s Sakhalin Policy, from 1868
to 1875. In: Journal of Asian History 36 (2002). S. 1–31.
GENTES Roads
GENTES, ANDREW A. Roads to Oblivion: Siberian Exile and the Struggle
between State and Society in Russia, 1593–1917. PhD diss. Brown Uni­
versity 2002. (unpubl.)

151

OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN Mitteilung Nr. 56

GENTES Exile

GENTES, ANDREW A. Siberian Exile and the 1863 Polish Insurrectionists
According to Russian Sources. In: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas
N. F. 75 (2003). S. 197–217.
GENTES Katorga
GENTES, ANDREW A. Katorga: Penal Labor and Tsarist Siberia. In: The
Siberian Saga: A History of Russia’s Wild East. Hg. Eva-Maria Stolberg.
Frankfurt am Main 2005. S. 73–85.
GOEHRKE Reisen
GOEHRKE, CARSTEN Reisen und Reisetexte aus der Sicht der Geschichts­
wissenschaft. In: Fakten und Fabeln: Schweizerisch-slavische Reisebe­
gegnung vom 18. bis zum 20. Jahrhundert. Hg. Monika Bankowski, Peter
Brang, Carsten Goehrke und Robin Kemball. Basel Frankfurt am Main
1991. S. 29–45.
GOEHRKE Das „andere Russ­
GOEHRKE, CARSTEN Das „andere Russland“: Zu Sibiriens Stellenwert in der
land“
russischen Geschichte. In: Berliner Jahrbuch für Osteuropäische Ge­
schichte 1995. S. 123–150.
GOEHRKE Die Gegenwart
GOEHRKE, CARSTEN Die Gegenwart der Vergangenheit in Sibirien: Reise in
drei Lebenswelten des 20. Jahrhunderts am Jenissei. In: Zwischen Adria
und Jenissei: Reisen in die Vergangenheit. Werner G. Zimmermann zum
70. Geburtstag. Hg. Nada Boškovska, Carsten Goehrke, Caspar Heer und
Anna Pia Maissen. (Die Schweiz und der Osten Europas, 4). Zürich 1995.
S. 57–126.
GOEHRKE Russischer Alltag
GOEHRKE, CARSTEN Russischer Alltag: Eine Geschichte in neun Zeitbildern
vom Frühmittelalter bis zur Gegenwart, Band 2: Auf dem Weg in die Mo­
derne. Zürich 2003.
GORJUŠKIN/DERGAČEV Istoriki
GORJUŠKIN, L. M./ DERGAČEV, A. JU. Sovremennye buržuaznye anglo-ame­
rikanskie istoriki o političeskoj ssylke v Sibiri v XIX – načale XX v. In:
Političeskaja ssylka v Sibiri XIX – nacalo XX v.: Istoriografija i istočniki.
Red. L. M. Gorjuškin. Novosibirsk 1987. S. 74–86.
GORJUŠKIN Predislovie
GORJUŠKIN, L. M. Predislovie. In: Političeskaja ssylka v Sibiri: Nerčinskaja
katorga, tom 1. Red. L. M. Gorjuškin. Novosibirsk 1993. S. 7–21.
HABERMAS Strukturwandel
HABERMAS, JÜRGEN Strukturwandel der Öffentlichkeit: Untersuchungen zu
einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Mit einem Vorwort zur
Neuauflage 1990. (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, 891). Frankfurt
am Main 1990.
HABERMAS Theorie 1
HABERMAS, JÜRGEN Theorie des kommunikativen Handelns, Band 1: Hand­
lungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung. (Suhrkamp Ta­
schenbuch Wissenschaft, 1175). Frankfurt am Main 1995.
HABERMAS Theorie 2
HABERMAS, JÜRGEN Theorie des kommunikativen Handelns, Band 2: Zur
Kritik der funktionalistischen Vernunft. (Suhrkamp Taschenbuch Wissen­
schaft, 1175). Frankfurt am Main 1995.
HAUMANN Geschichte
HAUMANN, HEIKO Geschichte Russlands. München, Zürich 1996.
HAUMANN Geschichtsschreibung HAUMANN, HEIKO. Lebensweltlich orientierte Geschichtsschreibung in den
Jüdischen Studien: Das Basler Beispiel. In: Jüdische Studien: Reflexionen
zu Theorie und Praxis eines wissenschaftlichen Feldes. Hg. Klaus Hödl.
(Schriften des Centrums für Jüdische Studien, 4). Innsbruck 2003. S. 105–
122.
HELLBECK Introduction
HELLBECK, JOCHEN Introduction. In: Autobiographical Practices in Russia –
Autobiographische Praktiken in Russland. Hg. Jochen Hellbeck und Klaus
Heller. Göttingen 2004. S. 11–24.

152

6.2. Darstellungen

HELMEDACH Gewalt

HELMEDACH, ANDREAS Gewalt. In: Studienhandbuch Östliches Europa,
Band 2: Geschichte des Russischen Reiches und der Sowjetunion. Hg.
Thomas M. Bohn und Dietmar Neutatz. Köln 2002. S. 227–236.
HILDERMEIER Revolution
HILDERMEIER, MANFRED Die Russische Revolution 1905–1921. Frankfurt
am Main 1989.
HILDERMEIER Zivilgesellschaft HILDERMEIER, MANFRED Russland oder Wie weit kam die Zivilgesellschaft?
In: Europäische Zivilgesellschaft in Ost und West: Begriff, Geschichte,
Chancen. Hg. Manfred Hildermeier, Jürgen Kocka und Christoph Conrad.
Frankfurt am Main New York 2000. S. 113–148.
HOETZSCH Russland
HOETZSCH, OTTO Russland in Asien: Geschichte einer Expansion. Mit ei­
nem Vorwort von Klaus Mehnert. Stuttgart 1966.
HOFFMANN European Modernity HOFFMANN, DAVID L. European Modernity and Soviet Socialism. In: Russi­
an Modernity: Politics, Knowledge, Practices. Hg. David L. Hoffmann
und Yanni Kotsonis. New York 2000. S. 245–260.
HOFFMANN Einführung
HOFFMANN, PETER Handbuch der Geschichte Russlands, Band 6: Einfüh­
rung in Literatur, Quellen und Hilfsmittel. Unter Mitarbeit von Lothar
Kölm. Hg. Klaus Zernack. Stuttgart 2004.
JADRINCEV Sibir’
JADRINCEV, NIKOLAJ MICHAJLOVIČ Sibir’ kak kolonija: sovremennoe polo­
ženie Sibiri. Ee nuždy i potrebnosti. Ee prošloe i buduščee: Sočinenija,
Tom pervyj. Hg. Ju. L. Mandrika. Tjumen’ 2000 (Neuausgabe; Erstausga­
be St. Peterburg 1882).
KACZYNSKA Gefängnis
KACZYNSKA, ELZBIETA Das grösste Gefängnis der Welt. Sibirien als Straf­
kolonie zur Zarenzeit. Frankfurt am Main New York 1994.
KITTSTEINER „Iconic turn“
KITTSTEINER, HEINZ DIETER „Iconic turn“ und „innere Bilder“ in der Kultur­
geschichte. In: Was sind Kulturwissenschaften? 13 Antworten. Hg. Heinz
Dieter Kittsteiner. München 2004. S. 153–182.
KIZNY Goulag
KIZNY, TOMASZ Goulag: Les Solovki, le Belomorkanal, l’expédition de
Vaïgatch, le théâtre au Goulag, la Kolyma, la Vorkouta, la voie morte.
Edition, direction artistique et réalisation Dominique Roynette. Aus dem
Polnischen von Laurence Dyèvre. Paris 2003.
KLER Karijskaja katorga
KLER, L. S. Karijskaja katorga: Ee mesto i rol’ v karatel’noj sisteme sa­
moderžavija. In: Ssyl’nye revoljucionery v Sibiri (XIX v. – fevral’ 1917
g.): vypusk 9. Red. N. N. Ščerbakov. Irkutsk 1985. S. 217–231.
KLER Organy
KLER, L. S. Organy upravlenija Nerčinskoj katorgi (seredina XIX v. –
1917 g.). In: Ssyl’nye revoljucionery v Sibiri (XIX v. – fevral’ 1917 g.):
vypusk 11. Red. N. N. Ščerbakov. Irkutsk 1989. S. 139–157.
KLUGE Sibirien
KLUGE, ROLF-DIETER. Sibirien als kulturelle und literarische Provinz. In: Si­
birien: Ein russisches und sowjetisches Entwicklungsproblem. Hg. Gert
Leptin. (Osteuropaforschung, 17). Berlin 1986. S. 217–250.
KODAN Katorga
KODAN, S. V. Katorga. In: Otečestvennaja istorija: Istorija Rossii s drevne­
jšich vremen do 1917 g.: ėnciklopedija, t. 2. Moskva 1996. S. 529–531.
KOLESNIKOVA memuaristika
KOLESNIKOVA, LARISA ALEKSANDROVNA Narodničeskaja memuaristika: po
materialam istočnikogo kompleksa žurnala „Katorga i ssylka“: mono­
grafija. Nižnij Novgorod 1999.
KON Predislovie
KON, FELIKS. Predislovie. In: Kara i drugie tjur’my nerčinskoj katorgi:
sbornik vospominanij, dokumentov i materialov. Red. A. Dikovskaja-Ja­
kimova i V. Pleskov. (Vsesojuznoe obščestvo političeskich katoržan i
ssyl’no-poselencev: istoriko-revoljucionnaja biblioteka žurnala „Katorga i
ssylka“). Moskva 1927. S. 11–13.

153

OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN Mitteilung Nr. 56

KONSTANTINOV Katorga

KONSTANTINOV, M. Katorga i ssylka v Sibiri. In: Sibirskaja sovetskaja ėnci­
klopedija, t. 2. Moskva 1931. Sp. 575–622.
KOTSONIS Introduction
KOTSONIS, YANNI Introduction: A Modern Paradox – Subject and Citizen in
Nineteenth- and Twentieth-Century Russia. In: Russian Modernity: Polit­
ics, Knowledge, Practices. Hg. David L. Hoffmann und Yanni Kotsonis.
New York 2000. S. 1–16.
KRAMAROV„Katorga i ssylka“ KRAMAROV, G. M. „Katorga i ssylka“. In: Sovetskaja istoričeskaja ėnci­
klopedija, t. 7. Red. E. M. Žukov et al. Moskva 1965. Sp. 124.
KRUSENSTJERN Selbstzeugnisse KRUSENSTJERN, BENIGNA VON Was sind Selbstzeugnisse? Begriffskritische
und quellenkundliche Überlegungen anhand von Beispielen aus dem 17.
Jahrhundert. In: Historische Anthropologie 2 (1994). S. 462–471.
LAUCHLAN Separate Realm
LAUCHLAN, IAIN Separate Realm? The Okhrana Myth and Imperial Russian
‚Otherness‘, 1881–1917. In: Imperial and National Identities in Pre-Re­
volutionary, Soviet, and Post-Soviet Russia. Hg. Chris J. Chulos und Jo­
hannes Remy. (Finnish Literature Society: Studia Historica, 66). Helsinki
2002. S. 70–99.
LIEVEN Security Police
LIEVEN, D. C. B. The Security Police, Civil Rights, and the Fate of the
Russian Empire, 1855–1917. In: Civil Rights in Imperial Russia. Hg.
Olga Crisp und Linda Edmondson. Oxford 1989. S. 235–262.
LINCOLN Eroberung
LINCOLN, W. BRUCE Die Eroberung Sibiriens. Aus dem Amerikanischen
von Xenia Osthelder und Bernd Rullkötter. München Zürich 1996.
LINDNER Zeichen
LINDNER, RAINER Im Reich der Zeichen: Osteuropäische Geschichte als
Kulturgeschichte. In: Osteuropa 53 (2003), S. 1757–1771.
MARGOLIS Sistema
Margolis, A. D. Sistema sibirskoj ssylki i zakon ot 12 ijunja 1900 goda.
In: Ssylka i obščestvenno-političeskaja žizn’ v Sibiri (XVIII – načalo XX
v.). Red. L. M. Gorjuškin et al. Novosibirsk 1978. S. 126–140.
MARGOLIS Analiz
MARGOLIS, A. D. Sociologo-statističeskij analiz biografii katoržan-učast­
nikov vtorogo ėtapa osvoboditel’nogo dviženija. In: Tjur’ma i ssylka v
imperatorskoj Rossii: issledovanija i archivnye nachodki. Red. A. D. Mar­
golis. Moskva 1995. S. 181–192.
Marks Road
MARKS, STEVEN G. Road to Power: The Trans-Siberian Railroad and the
Colonization of Asian Russia, 1850–1917. Ithaca NY 1991.
MEDICK Mikrohistorie
MEDICK, HANS Mikrohistorie. In: Lexikon der Geschichtswissenschaft:
Hundert Grundbegriffe. Hg. Stefan Jordan. Stuttgart 2002. S. 215–218.
MELAMED „Sibir’ i ssylka“
MELAMED, E. I. „Sibir’ i ssylka“ Džordža Kennana i ee istočnikovedčes­
kaja osnova. In: Sibirskaja ssylka: sbornik naučnych statej, vypusk 1 (13).
Red. N. N. Ščerbakov et al. Irkutsk 2000. S. 56–66.
MERRIDALE Steinerne Nächte
MERRIDALE, CATHERINE Steinerne Nächte: Leiden und Sterben in Russland.
Aus dem Englischen von Enrico Heinemann, Karin Schuler und Karin
Miedler. München 2001.
MOŠKINA Katorga
MOŠKINA, ZOJA VENJAMINOVNA Nerčinskaja političeskaja katorga vtoraja po­
lovina XIX veka. Čita 1998.
MURAV „Vo glubine Sibirskikh MURAV, HARRIET „Vo glubine Sibirskikh Rud“: Siberia and the Myth of
Rud“
Exile. In: Between Heaven and Hell: The Myth of Siberia in Russian Cul­
ture. Hg. Galya Diment und Yuri Slezkine. New York 1993. S. 95–111.
NORA Geschichte
NORA, PIERRE Zwischen Geschichte und Gedächtnis: Die Gedächtnisorte.
In: Zwischen Geschichte und Gedächtnis. Hg. Ulrich Raulff. (Kleine Kul­
turwissenschaftliche Bibliothek, 16). Berlin 1990. S. 11–33.
Nerčinskij kraj
O., L. Nerčinskij kraj. In: Na ženskoj katorge: sbornik vospominanij. S
predisloviem i pod redakciej Very Figner. Moskva 1930. S. 15–17.

154

6.2. Darstellungen

OBERTREIS Priess

OBERTREIS, JULIA [Rezension zu Priess, Sebastian. Strafe und Textpro­
duktion: Apologetisches Bekenntnis und literarische Kompensation: Dis­
kurse über Lagerhaft. (Berliner slavistische Arbeiten, 16). Frankfurt am
Main 2002]. In: Osteuropa 53 (2003). S. 1866–1867.
Ot sostavitelej
Ot sostavitelej. In: Nerčinskaja katorga: sbornik nerčinskogo zemljačest­
va. Red. M. A. Braginskij. (Vsesojuznoe obščestvo političeskich katoržan
i ssyl’no-poselencev). Moskva 1933. S. 5f.
PATRONOVA Karijskaja tragedija PATRONOVA, A. G. Karijskaja tragedija 1889 goda. (Po vospominanijam
politkatoržan i dokumentam Gosudarstvennogo archiva Čitinskoj oblasti).
In: Ssyl’nye revoljucionery v Sibiri (XIX v. – fevral’ 1917 g.): vypusk 9.
Red. N. N. Ščerbakov. Irkutsk 1985. S. 81–103.
PIPES Old Regime
PIPES, RICHARD Russia Under the Old Regime. London New York 1974.
PLESKOV Nerčinskaja katorga PLESKOV, V. Nerčinskaja katorga. In: Sibirskaja sovetskaja ėnciklopedija,
t. 3. Moskva 1932. Sp. 740–744.
PRIBYLEV Karijskaja katorga
PRIBYLEV, A. Karijskaja katorga. In: Sibirskaja sovetskaja ėnciklopedija, t.
2. Moskva 1931. Sp. 531–534.
PRIESS Strafe
PRIESS, SEBASTIAN Strafe und Textproduktion: Apologetisches Bekenntnis
und literarische Kompensation: Diskurse über Lagerhaft. (Berliner slavis­
tische Arbeiten, 16). Frankfurt am Main 2002.
RABE Widerspruch
RABE, VOLKER Der Widerspruch von Rechtsstaatlichkeit und strafender
Verwaltung in Russland 1881–1917: Motive, Handhabung und Auswir­
kungen der administrativen Verbannung von Revolutionären. Karlsruhe
1985.
RABE Justiz
RABE, VOLKER Die Justiz. In: Handbuch der Geschichte Russlands, Band 3:
1856–1945. Von den autokratischen Reformen zum Sowjetstaat. II. Halb­
band. Hg. Gottfried Schramm. Stuttgart 1992. S. 1528–1576.
ROGGER Russia
ROGGER, HANS Russia in the Age of Modernisation and Revolution, 1881–
1917. London New, York 1983.
ŠČERBAKOV Iz istorii
ŠČERBAKOV, N. N. Iz istorii karatel’noj politiki carizma v načale XX sto­
letija. In: Ssyl’nye revoljucionery v Sibiri (XIX v. – fevral’ 1917 g.): vy­
pusk 3. Red. N. N. Ščerbakov. Irkutsk 1979. S. 69–86.
SCHIVELBUSCH Eisenbahnreise SCHIVELBUSCH , WOLFGANG Geschichte der Eisenbahnreise: Zur Industriali­
sierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert. Frankfurt am Main 32004
[München Wien 1977].
SCHLÖGEL Seele
SCHLÖGEL, KARL „Die Seele Petersburgs“ von Nikolai P. Anziferow: Ein
legendäres Buch und sein unbekannter Autor. In: Nikolai Anziferow. Die
Seele Petersburgs: Mit einem Vorwort von Karl Schlögel. Deutsch von
Renata von Maydell. München Wien 2003. S. 7–46.
SCHLÖGEL Im Raume
SCHLÖGEL, KARL. Im Raume lesen wir die Zeit: Über Zivilisationsge­
schichte und Geopolitik. München Wien 2003.
SCHLÖGEL St. Petersburg
SCHLÖGEL, KARL. St. Petersburg – Die Stadt am Weißmeer-Ostsee-Kanal.
In: Berliner Osteuropa Info, Nr. 20, 2004. S. 5–13.
SCHRADER Branding the Exile SCHRADER, ABBY M. Branding the Exile as „Other“: Corporal Punishment
and the Construction of Boundaries in Mid-Nineteenth-Century Russia.
In: Russian Modernity: Politics, Knowledge, Practices. Hg. David L.
Hoffmann und Yanni Kotsonis. New York 2000. S. 19–40.
SCHRADER Languages
SCHRADER, ABBY M. Languages of the Lash: Corporal Punishment and
Identity in Imperial Russia. De Kalb 2002.

155

OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN Mitteilung Nr. 56

SCHRAMM Staat

SCHRAMM, GOTTFRIED Der zarische Staat und die verfasste Gesellschaft. In:
Handbuch der Geschichte Russlands, Band 3: 1856–1945. II. Halbband.
Hg. Gottfried Schramm. Stuttgart 1992. S. 1300–1411.
SCHROER Räume
SCHROER, MARKUS Räume, Orte, Grenzen: Auf dem Weg zu einer Sozio­
logie des Raums. Frankfurt am Main 2006.
SENČENKO Revoljucionery
SENČENKO, IVAN ANDREEVIČ Revoljucionery Rossii na Sachalinskoj katorge.
Južno-Sachalinsk 1963.
SEROŠEVSKIJ Ssylka i katorga
SEROŠEVSKIJ, VACLAV Ssylka i katorga v Sibiri. In: Sibir’ – eja sovremennoe
sostojanie i eja nuždy: sbornik statej. Red. I. S. Mel’nik. Sankt-Peterburg
1908. S. 201–233.
SERVICE Lenin
SERVICE, ROBERT Lenin: Eine Biographie. Aus dem Englischen von Holger
Fließbach. München 2000.
SKRIPILEV N. G. Černyševskij SKRIPILEV, E. A. N. G. Černyševskij na nerčinskoj katorge. In: Političeskie
ssyl’nye v Sibiri (XVIII – načalo XX v.). Red. L. M. Gorjuškin et al. No­
vosibirsk 1983. S. 61–82.
STADELBAUER Erschliessung
STADELBAUER, JÖRG. Die Erschliessung Sibiriens: Räumliche Gefügemuster
eines historischen Prozesses. In: Sibirien: Ein russisches und sowjetisches
Entwicklungsproblem. Hg. Gert Leptin. (Osteuropaforschung, 17). Berlin
1986. S. 11–33.
STADELMANN Das revolutionäre STADELMANN, MATTHIAS Das revolutionäre Russland in der Neueren Kultur­
Russland
geschichte: Diskursive Formationen und soziale Identitäten. (Erlanger
Studien zur Geschichte, 4). Erlangen Jena 1997.
STARK Frauen
STARK, MEINHARD. Frauen im Gulag: Alltag und Überleben 1936–1956.
München Wien 2003.
STEPHAN Leben
STEPHAN, ANKE Erinnertes Leben: Autobiographien, Memoiren und OralHistory-Interviews als historische Quellen. In: Digitales Handbuch zur
Geschichte und Kultur Russlands und Osteuropas.
http://www.vifaost.de/geschichte/handbuch. (Juni 2006). S. 1–31.
STEPHAN Far East
STEPHAN, JOHN J. The Russian Far East: A History. Stanford 1994.
STETTNER „Archipel GULag“ STETTNER, RALF „Archipel GULag“: Stalins Zwangslager – Terrorinstru­
ment und Wirtschaftsgigant. Entstehung, Organisation und Funktion des
sowjetischen Lagersystems 1928–1956. Paderborn, München, Wien,
Zürich 1996.
STOLBERG Raumerschließungs­ STOLBERG, EVA-MARIA Raumerschließungsprozesse im Sibirien des ausge­
prozesse
henden Zarenreiches: Ein Forschungsdesiderat der Russlandhistoriogra­
phie. In: Archiv für Sozialgeschichte 42 (2002). S. 315–334.
STOLBERG Pazifik
STOLBERG, EVA-MARIA Auf zum Pazifik: Die Bedeutung der Transsibiri­
schen Eisenbahn für die Vernetzung des eurasischen Raumes 1891–1914.
In: Die Internationalität der Eisenbahn 1850–1970. Hg. Monika Burri, Ki­
lian T. Elsasser und David Gugerli. (Interferenzen: Studien zur Kulturge­
schichte der Technik, 7). Zürich 2003. S. 293–308.
STOLYPIN/KRIWOSCHEÏN Koloni­ STOLYPIN, P. A. / KRIWOSCHEÏN, A. W. Die Kolonisation Sibiriens: Eine
sation
Denkschrift. Einzige berechtige Übersetzung von Carl Erich Gleye. Berlin
1912.
STÖKL Geschichte
STÖKL, GÜNTHER Russische Geschichte: Von den Anfängen bis zur Gegen­
wart. 6., erweiterte Auflage. Mit einem Nachwort, einer Zeittafel und ei­
ner aktuellen Bibliographie von Manfred Alexander. (Kröners Taschen­
buchausgabe, 244). Stuttgart 1997.

156

6.2. Darstellungen

SUNDERLAND ‚Colonization
Question‘
TAGAROV Uzniki

TAGAROV Učeba

TAGAROV Protesty

TEICHMANN Lohr

THOMAS Geschichte
THOMAS „Die Insel Sachalin“

TORKE Kalender

TORKE Einführung
Čechov
VIERHAUS Die Rekonstruktion

VOROB’EV Prozess

WEIN Sibirien
WELZER Gedächtnis

WOOD Sex and Violence

SUNDERLAND, WILLARD The ‚Colonization Question‘: Visions of Colon­
ization in Late Imperial Russia. In: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas
N. F. 48 (2000). S. 210–232.
TAGAROV, Z. T. Političeskie uzniki Nerčinskoj katorgi v 1903–1905 go­
dach. In: Ssyl’nye revoljucionery v Sibiri (XIX v. – fevral’ 1917 g.):
vypusk 4. Red. N. N. Ščerbakov. Irkutsk 1979. S. 86–98.
TAGAROV, Z. T. Obščeobrazovatel’naja učeba i kul’turnaja rabota politi­
českich zaključennych na Nerčinskoj katorge. In: Ssyl’nye revoljucionery
v Sibiri (XIX v. – fevral’ 1917 g.): vypusk 5. Red. N. N. Ščerbakov. Ir­
kutsk 1980. S. 71–84.
TAGAROV, Z. T. Protesty političeskich katoržan Zerentujskoj, Algačinskoj i
Kutomarskoj tjurem v 1910–1912 gody. In: Ssyl’nye revoljucionery v
Sibiri (XIX v. – fevral’ 1917 g.): vypusk 6. Red. N. N. Ščerbakov. Irkutsk
1981. S. 66–82.
TEICHMANN, CHRISTIAN [Rezension zu Lohr, Eric. Nationalizing the Russian
Empire: The Campaign Against Enemy Aliens During World War I. Cam­
bridge 2003]. In: H-Soz-u-Kult, 21. 06. 2004. URL: http://hsoz­
kult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2004-2-189
THOMAS, LUDMILA Geschichte Sibiriens: Von den Anfängen bis zur Gegen­
wart. Berlin [Ost] 1982.
THOMAS, LUDMILA „Die Insel Sachalin“ von A. P. Čechov – eine historische
Quelle. In: Jahrbuch für die Geschichte der sozialistischen Länder Euro­
pas 30 (1986). S. 146–158.
TORKE, HANS-JOACHIM Kalender. In: Lexikon der Geschichte Russlands:
Von den Anfängen bis zur Oktober-Revolution. Hg. Hans-Joachim Torke.
München 1985. S. 193.
TORKE, HANS-JOACHIM Einführung in die Geschichte Russlands. München
1997.
Urban, Peter (Hg.). Čechov: Sein Leben in Bildern. Zürich 1987.
VIERHAUS, RUDOLF. Die Rekonstruktion historischer Lebenswelten: Pro­
bleme moderner Kulturgeschichtsschreibung. In: Wege zu einer neuen
Kulturgeschichte. Hg. Hartmut Lehmann. (Göttinger Gespräche zur Ge­
schichtswissenschaft, 1). Göttingen 1995. S. 7–28.
VOROB’EV, VLADIMIR VASIL’EVIČ Der historisch-geographische Prozess der
Erschließung Sibiriens und des Fernen Ostens bis 1917. In: Die Erschlie­
ßung Sibiriens und des Fernen Ostens: Geschichte, Konzeptionen, Ergeb­
nisse, Vergleiche. Hg. im Auftrage der Akademie der Wissenschaften der
UdSSR, Sibirische Abteilung, Institut für Geographie, Irkutsk, und der
Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald, Sektion Geographie, von V.
V. Vorob’ev und J. U. Gerloff. (Ergänzungsheft Nr. 258 zu Petermanns
Geographischen Mitteilungen). Gotha 1988. S. 11–25.
WEIN, NORBERT Sibirien. (Perthes Regionalprofile). Gotha, Stuttgart 1999.
WELZER, HARALD Gedächtnis und Erinnerung. In: Handbuch der Kulturwis­
senschaften, Band 3: Themen und Tendenzen. Hg. Friedrich Jaeger und
Jörn Rüsen. Stuttgart Weimar 2004. S. 155–174.
WOOD, ALAN Sex and Violence in Siberia: Aspects of the Tsarist Exile
System. In: Siberia: Two Historical Perspectives. Hg. John Massey Stew­
art und Alan Wood. London 1984. S. 23–42.

157

OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN Mitteilung Nr. 56

WOOD Crime

WOOD Introduction

WOOD ‚Wild East‘

Zaionchkovsky Autocracy
ŽUKOV Iz nedr

158

WOOD, ALAN Crime and Punishment in the House of the Dead. In: Civil
Rights in Imperial Russia. Ed. Olga Crisp and Linda Edmondson. Oxford
1989. S. 215–233.
WOOD, ALAN Introduction: Siberia’s Role in Russian History. In: The His­
tory of Siberia: From Russian Conquest to Revolution. Hg. Alan Wood.
London, New York 1991. S. 1–16.
WOOD, ALAN Russia’s ‚Wild East‘: Exile, Vagrancy and Crime in Nine­
teenth-century Siberia. In: The History of Siberia: From Russian Conquest
to Revolution. Ed. Alan Wood. London, New York 1991. S. 117–139.
ZAIONCHKOVSKY, PETER A. The Russian Autocracy under Alexander III.
Edited and translated by David R. Jones. Gulf Breeze 1976.
ŽUKOV, N. N. Iz nedr archiva. (Materialam k istorii nerčinskoj katorgi). In:
Nerčinskaja katorga: sbornik nerčinskogo zemljačestva. Red. M. A.
Braginskij. (Vsesojuznoe obščestvo političeskich katoržan i ssyl’no-pose­
lencev). Moskva 1933. S. 7–81.

7. Anhang

7. Anhang
7.1. Karte

Karte 1: Kara-Tal und südlicher Nerčinsker Kreis (Karte: M. Fellmann).

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OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN Mitteilung Nr. 56

7.2. Plan des Gefängnisses von Nižnjaja Kara

1. Eingangstor
2. Palisade
3. Zelle Synedrion
4. Zelle Dvorjanka
5. Zelle Jakutka

6. Krankenzimmer
7. Aborte
8. Korridor
9. Zelle Volost’
10 Schränke für Brot bzw. Bücher

11 Küche
12 Bad
13 Hof mit Einzelzellen
14 Bewachung

Plan 1: Das politische Gefängnis von Nižnjaja Kara (nach: Kara i drugie tjur’my, S. 8).

160

7.3. Photos und Zeichnungen

7.3. Photos und Zeichnungen
7.3.1. Katorga

Abb. 1: Etappengefängnis auf dem Weg in die Katorga (nach: KENNAN Siberia I, S. 387).

Abb. 2: Gebäude des politischen Gefängnisses von Nižnjaja Kara (nach: Kara i drugie tjur’my, S. 14).

161

OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN Mitteilung Nr. 56

Abb. 3: Das politische Gefängnis von Nižnjaja Kara (mit Palisade) (nach: KENNAN Siberia II, S. 224).

Abb. 4: Gefängnis und Umgebung von Algači (nach: KENNAN Siberia II, S. 291).

162

7.3. Photos und Zeichnungen

Abb. 5: Gefängnisverwaltung und ehemaliges Gefängnis in Akatuj (nach: DE WINDT Siberia, S. 255).

Abb. 6: Anschmieden von Fußfesseln in Aleksandrovsk (Sachalin) (nach: DE WINDT Siberia, S. 95).

163

OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN Mitteilung Nr. 56

Abb. 7: An eine Schubkarre geketteter Sträfling auf Sachalin (nach: DE WINDT Siberia, S. 99).

164

7.3. Photos und Zeichnungen

7.3.2 Gulag

Abb. 8: Allgemeiner Lagerpunkt von Ajač-Jaginsk (Titelbild der amerikanischen Ausgabe von Anne App­
lebaums Gulag-Monographie).

165

OSTEUROPA-INSTITUT MÜNCHEN Mitteilung Nr. 56

7.4. Tabellen
7.4.1. Ständische Zusammensetzung der katoržane

Adlige
Geistliche
Kaufleute
raznočincy
Ausl. Untertanen
Kleinbürger
Bauern
Unbekannt
Total

1882–1893
Anzahl
Prozent
51
29,3
12
6,9
15
8,6
13
7,5
2
1,1
56
32,2
13
7,5
12
6,9
174
100

1861–1893
Anzahl
Prozent
147
36,5
40
9,9
27
6,7
30
7,4
7
1,8
91
22,6
38
9,4
23
5,7
403
100

Politische Katorga insgesamt (auch Schlüsselburg)
Aus: Margolis, Analiz, S. 186

7.4.2. Soziale und berufliche Zusammensetzung der katoržane

Beamte
Offiziere
Ärzte, Lehrer,
Ingenieure,
Literaten u.a.
Studenten
Berufs-revo­
lutionäre

1882–1893
Anzahl Prozent
7
4,0
8
4,7

1861–1893
Anzahl Prozent
23
5,7
24
6,0

10
25

5,7
14,4

34
101

8,4
25,1

50

28,7

84

20,8

Politische Katorga insgesamt (auch Schlüsselburg)
Aus: MARGOLIS Analiz, S. 187

166
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