Der Verband „Freie Ukraine“ im Kontext der deutschen Ukraine-Politik des Ersten Weltkriegs
Item
- Title
- Identifier
- Creator
- has publication year
- Is Part Of
- volume
- has URL
- extracted text
-
Der Verband „Freie Ukraine“ im Kontext der deutschen Ukraine-Politik des Ersten Weltkriegs
-
BV013896736
-
Kuraev, Oleksyj
-
2000
-
Mitteilungen OEI
-
35
-
https://www.dokumente.ios-regensburg.de/publikationen/mitteilungen/mitt_35.pdf
-
https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0168-ssoar-63276-3
-
OSTEUROPA-INSTITUT M ÜNCHEN
Mitteilungen
Nr. 35
August 2000
OLEKSYJ KURAEV
Der Verband „Freie Ukraine“ im Kontext der
deutschen Ukraine-Politik des Ersten Weltkriegs
ISBN 3-921396-56-5
Scheinerstraße 11, D-81679 München, Tel. (089) 99839-60
Fax: (089) 9 81011 0, E-Mail: Beyer-Thoma@t-online.de
Redaktion : Reinhard F rötschn er
Herausgeber: Hermann Beyer-Thoma
Inhalt
1 Literaturbericht und Forschungsaufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5
2 Die „ukrainische Frage“ in der deutschen Presse in den Kriegsjahren
1914–1915 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
3 Die Anfänge der deutschen Publizistik zur „ukrainischen Frage“ . . . . . . . . . . . . . . 18
4 Politische Strategie und propagandistische Aktionen Deutschlands in
bezug auf die Ukraine im Sommer 1915 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20
5 München, zweite Hälfte 1915 – der Kampf um die erste deutsche
„ukrainische Zeitschrift“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22
6 Deutsche Eliten und die Gründung des Verbandes „Freie Ukraine“ . . . . . . . . . . . . 26
7 Die Spezialmissionen des Münchener Zahnarztes Dr. Heinrich Schupp –
von der Balkan-Politik zur „ukrainischen Aktion“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30
8 Der Verband „Freie Ukraine“ und seine Zeitschrift „Osteuropäische
Zukunft“ als intellektuelles Laboratorium und Propagandamedium der deutschen
Ukraine-Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41
9 Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9.1 Veröffentlichte Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9.2 Archivalien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9.3. Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9.3.1. Nachschlagewerke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9.3.2. Spezielle Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Osteuropa-Institut München: Mitteilungen 35/2000
45
45
45
46
46
46
3
1 Literaturbericht und Forschungsaufgaben
In der Menge der deutschen Publizistik zur Ukraine-Politik Deutschlands im Ersten
Weltkrieg kommt dem vom Verband deutscher Förderer ukrainischer Freiheitsbestrebungen
organisierten und von seinem „amtlichen Organ“1, der Zeitschrift „Osteuropäische Zukunft“,
durchgeführten politischen und wissenschaftlichen Informations- und Meinungsaustausch
zu den Aufgaben Deutschlands hinsichtlich der Ukraine eine besonders wichtige Rolle zu.
Die publizistischen Arbeiten deutscher Verfasser zur „ukrainischen Frage“ des ersten
Kriegsjahres demonstrieren wenig Kenntnis der Ukraine und enthalten nur ganz allgemeine
Formulierungen der Kriegsziele in diesem geopolitischen Raum. 2 Die deutsche militärische
und politische Führung, die schon vor Kriegsausbruch gute Beziehungen zu den nationalukrainischen politischen Kreisen (vorzüglich Ostgaliziens) angeknüpft hatte, zeigte nach
dem Scheitern der Blitzkriegspläne im September 1914 besonderes Interesse an der
publizistischen Tätigkeit der antirussisch gesinnten Ukrainer und breitete diese auf
Deutschland aus. Der Großteil der Veröffentlichungen deutscher Autoren vor 1916 beruht
faktologisch auf den Angaben der ukrainischen Publizistik.
Obwohl im Verlaufe des Jahres 1915 die Zahl der publizistischen Arbeiten deutscher
Verfasser zum Problemkreis „Ukraine“ stieg, kamen deren Autoren meistens nicht über die
verallgemeinerte Idee der Abtrennung der (Ost)Ukraine von Rußland und der „Insurgierungskonzeption“.3 Eine konkretere Darstellung der politischen, wirtschaftlichen und
militärischen Interessen und eine Analyse der unmittelbaren Perspektiven Deutschlands
hinsichtlich der Ukraine findet sich damals noch nicht.
Die Situation änderte sich prinzipiell Ende 1915 / Anfang 1916. Die Gründung des Verbandes deutscher Förderer ukrainischer Freiheitsbestrebungen „Freie Ukraine“ am 11. Dezember 1915, der ersten den ukrainischen Angelegenheiten gewidmeten deutschen Organisation, kennzeichnete einen Wendepunkt in der öffentlichen Erörterung der ukrainischen und
deutschen Interessen. Deutsche politische, militärische und wissenschaftliche Experten
entfalteten gemeinsam mit den führenden ukrainischen Publizisten eine beeindruckende
Tätigkeit zur Verbreitung von ausführlichen Sachkenntnissen über die Naturschätze und
die wirtschaftliche Lage der Ukraine sowie über die Geschichte, Kultur und politischen
Bestrebungen der Ukrainer. Die überwiegend zu diesem Zwecke im Januar 1916 gegründete
1 Osteuropäische Zukunft: Amtliches Organ des Donau-, Balkan- und Schwarzmeerländerverbandes „Dubvid“, Berlin und München, des Verbandes deutscher Förderer ukr ainischer Fr eiheitsbes trebung en „Freie
U kraine“, Berlin und München (ab Dezember 1917 – des Wirtschaftsausschusses Ukraine, Berlin), der
Deutsch-Finnländischen Vereinigung, Berlin, der Deutsch-Georgischen Gesellschaft, Berlin und des
Deutsch-Nordischen Verbandes e.V., Berlin (Januar 1916-Oktober 1918).
2 Vgl. G OLCZEWSKI Zur deutschen Ukrainepolitik 1918-1926, S. 119-129.
3 Darüber die Arbeit von Oleh S. Fedyshyn: Germany’s Drive to the East and the Ukrainian Revolution,
1917-1918. New Brunswick (New Jersey) 1971.
Osteuropa-Institut München: Mitteilungen 35/2000
5
Zeitschrift „Osteuropäische Zukunft“ wurde zum wichtigsten Werkzeug dieser Aufklärungsund Diskussionstätigkeit.4
Die führende Rolle bei der Organisation sowohl des Verbandes „Freie Ukraine“ als auch
der genannten Zeitschrift hatte ein und dieselbe Persönlichkeit, Herr Dr. Falk Schupp, inne,
über welchen die zeitgenössische Historiographie nicht viel mehr als die bereits bekannten
Fakten in Erfahrung bringen konnte.5
Auch über die Tätigkeit des Verbandes „Freie Ukraine“ (in der bisherigen Geschichtsschreibung stets Verband „Ukraine“ genannt)6 ist nicht sehr viel zu erfahren. 7
Neueste Informationen dazu enthält die Arbeit von Claus Remer „Die Ukraine im Blickfeld
deutscher Interessen. Ende des 19. Jahrhunderts bis 1917/18“. Hier wird auf die Rolle des
Kriegsministeriums bei der Gründung dieses Verbandes hingedeutet, dessen publizistische
Tätigkeit charakterisiert und die Schaffung einer Wirtschaftskartothek Ukraine, die bei der
Vorbereitung der Brest-Litowsker Friedensverhandlungen Ende 1917 benutzt wurde,
erwähnt.8
Die Organisation, die eine wichtige, in vielerlei Hinsicht maßgebende Rolle in der
Diskussion der Jahre 1916-1917 zur deutschen Ukraine-Politik spielte, bleibt aber dennoch
für die Geschichtswissenschaft in manchen Aspekten unbekannt.
Die Ergebnisse der bisherigen Forschung zum Thema ergeben ein paradoxes Bild: Die
Tätigkeit der Zeitschrift „Osteuropäische Zukunft“ ist in vielen Punkten beleuchtet, von dem
Verband „Freie Ukraine“ sind nur höchst allgemeine Kenntnisse vorhanden und von der
4 Dmytro Doroschenko unterstreicht in seinem Werk Die Ukraine und das Reich (Leip zig 194 1), daß die
Hal bm ona tssc hrift „Osteuropäische Zukunft“ unter Teilnahme deutscher wie ukrainis cher Mitarbeiter
herausgegeben wurde und „in erster Reihe der Ukraine gewidmet“ war ( S. 188-189). Die Tendenz der
Zeit sch rift wurde im Leitartikel des ersten Heftes unter dem Titel „Das ukrainische Problem“ festgelegt.
Der Leitar tikel stammt au s der Fede r des Tü binger U niversitätsp rofessors D r. J. Haller.
Dies bestätigt auch Claus Remer in seiner Forschung Die Ukraine im Blickfeld deutscher Interessen. Ende
des 19. Jahrhunderts bis 191 7/18 (Frankfurt a.M. u.a. 1997), S. 29 6: „Insgesamt standen führende
Militärs, Politiker, Industrielle, Alldeutsche bei der Grü ndung diese s Verb andes Pa te. Sein Hauptanliegen
war die Darstellung und Publizierung der wirtschaftlichen Bedeutung der Ukraine für einen nicht sehr
großen Kreis von einflußreichen Vertretern der Unternehmer, des Staatsapparats, der Wissenschaft und
Publizistik , die ihrerse its wiederum als „Multip likatoren“ w irken sollten.“
5 Der historiographische Befund von Rudolf Mark: Zur ukrainischen Frage im ersten Weltkrieg: Flugschriften des ,Bundes zur Befreiung der Ukraine‘ und ihm nahestehenden Publizisten 1914-1 916, in:
Zeitschrift für Ostforschung 33, 19 84, S. 196 -226, und die Arbeit von Hans Bayer: Die Mittelmächte und
die Ukraine 1918 (München 1956), wo die Tätigkeit maßgebender deutscher Teilnehmer an der Erörterung von Kriegsa ufgaben D eutschlands in bezug a uf die Ukraine berührt ist, enthalten keine Information
über Falk Schupp und die Zeitschrift „Osteur opäisch e Zukunft“. Wolfdieter Bihl war de r erste, der die
Zeit sch rift „Osteu ropäisc he Zukunft“ in der wissenschaftlichen Literatur erw ähnte, und zwar im
Literaturver zeichnis seiner Arbeit Österreich – Ungar n und die Friedensschlüsse von Brest-Litowsk.
Wien, Kö ln, Graz 1 970 .
6 So bei Dmytro Doroschenko und bei Peter Borowsky (Deutsche Ukrainepolitik 1918 unter besonderer
Berücksichtigung von Wirtschaftsfragen. Lübeck und Hamburg 1970), und b ei Claus Remer (Die Ukr aine
im Blickfeld deuts cher Intere ssen. End e des 19 . Jahrhund erts bis 1 917 /18. Fra nkfurt a.M. u.a. 1 997 ).
7 So schreibt Peter Borowsky in seiner Arbeit Deutsche Ukrainepolitik 1918 unter besonderen Berücksichtigung von Wirtschaftsfragen, (Lübeck und Hamburg 19 70), S. 40, nur üb er die finanzielle Unterstützung
führender Industrieller b ei der Grü ndung des V erband es.
8 R EMER Die Ukraine im Blickfeld deutscher Interessen, S. 296-301.
6
Osteuropa-Institut München: Mitteilungen 35/2000
bedeutendsten Figur dieser beiden Strukturen, Dr. Falk Schupp, ist praktisch nichts bekannt.
Entsprechend ist es Aufgabe dieser Arbeit, diese Lücken zu schließen. Gleiche Aufmerksamkeit wurde auch der Analyse des historischen Hintergrundes geschenkt, wobei den Entwicklungstendenzen der entsprechenden Publizistik und der kriegspolitischen Bedeutung des
„ukrainischen Faktors“ in den Jahren 1914-1915 nachgegangen wurde.
Die im Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes Bonn, Bundesarchiv Berlin, Staatsarchiv
München, Bayerischen Hauptstaatsarchiv München, Archiv der Stadt München und
Preußischen Geheimen St aatsarchiv Berlin durchgeführten Nachforschungen ergaben, daß
das Archiv des Verbandes „Freie Ukraine“ in keinem der genannten Archive vorhanden
ist. Die Archivbeamten zeigten sich überzeugt, daß diese Akten höchst wahrscheinlich
während des Zweiten Weltkrieges verbrannten.
Weitere Informationen zur Persönlichkeit von Falk Schupp und zum Verband „Freie
Ukraine“ wurden bei jüngst durchgeführten Archivforschungen in München und Bonn
gewonnen. Diese Archivaufenthalte führten auch zu Funden, welche zur Klärung einiger
anderer unerforschter Episoden der deutschen Ukraine-Politik beitrugen.
2 Die „ukrainische Frage“ in der deutschen Presse in den Kriegsjahren 1914-1915
Die Pressesammlungen des Politisches Archivs des Auswärtigen Amtes Bonn und des
Bundesarchivs Berlin belegen, daß die in deutschen Zeitungen erschienenen Aufsätze zur
ukrainischen Frage bis März 1915 praktisch ausschließlich entweder von ukrainischen
Publizisten, von Vertretern des Bundes zur Befreiung der Ukraine und des Ukrainischen
Pressebüros, oder auf der Grundlage von deren Abhandlungen verfaßt wurden.9
Die Namen der Verfasser dieser Artikel und der daran beteiligten Organisation, des am
4. August in Wien gegründeten „Bundes zur Befreiung der Ukraine“ (BBU), stehen in engem
Verhältnis auch zu der künftigen Gründung des Verbandes „Freie Ukraine“ und der
publizistischen Tätigkeit der „Osteuropäischen Zukunft“.
Die Reihe von Veröffentlichungen zur ukrainischen Frage wird mit der Darlegung der
Aufrufe des „Bundes zur Befreiung der Ukraine“ in der „Norddeutschen Allgemeinen
Zeitung“ vom 9. September 1914 eröffnet. Diese Publikation, „Rußland. Zur Befreiung der
Ukraine“ genannt, behandelte ausschließlich die Kriegsziele des BBU hinsichtlich der
russischen Ukraine. Sie sahen die Abtrennung der Ukraine vom Russischen Reich und die
Schaffung eines selbständigen ukrainischen Staates infolge des siegreichen Krieges vor.
9 Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes Bonn. R 20952. Als eine der seltenen Ausnahmen könnte das
Auftreten von Professor Hoetzsch in der Kreuzzeitung am 16. August 1914 genannt werden, in welchem
er verkün dete, daß d as „schw ebende Feuer“ im k leinrussisc hen Volk e empor lodert, wenn dort die
deutschen Truppen marschieren w ürden. Zitiert nach BAYER Die Mittelmächte und die Ukraine 1918, S.
24.
Osteuropa-Institut München: Mitteilungen 35/2000
7
Die „Köllnische Volks-Zeitung“ berichtete am 26. Oktober 1914 im Aufsatz „Rußland
und die Ukraine“ über die in Wien 1914 herausgegebene Broschüre „Ukraina und die
Ukrainer“ von Stefan Rudnytskyj. Die Zeitung zitiert den Abschlußsatz der Broschüre: „Die
Ukrainer sind die einzige slawische Nation, welche direkt an der Niederlage und Schwächung Rußlands interessiert ist.“
Die Arbeit von Stefan Rudnytskyj rief eine besondere Resonanz in der deutschen Presse
hervor. So widmete Dr. Paul Rohrbach der Broschüre „Ukraina und die Ukrainer“ den
Aufsatz „Was ist Ukraina und die ,ukrainische Frage‘?“ in der „Süddeutschen Zeitung“ vom
6. Dezember 1914.
Rohrbach veröffentlichte eine ausführliche Inhaltsangabe der Broschüre auch in der
Wochenschrift „Das Größere Deutschland“, Nr. 34, vom 28. November 1914. Beide
Aufsätze enthielten den genannten Abschlußsatz von Rudnytskyj als Zitat.
Im „Berliner Tageblatt“ erschien am 1. Oktober 1914 ein Aufsatz von Eugen Lewicky „Die
Verdrängung Rußlands vom Schwarzen Meer“. Die Hauptidee dieser Abhandlung lautete:
Die Verdrängung Rußlands vom Baltischen und Schwarzen Meer baue die chinesische
Mauer ab, mit der die Ukraine von Westeuropa abgegrenzt sei, und bringe der Ukraine die
Blütezeit.
Die deutschen Teilnehmer der Pressediskussionen im Kriegsjahr 1914 zeigten keine
besondere Kenntnis hinsichtlich der „ukrainischen Frage“. Der später als hervorragender
Kenner dieser Frage bekannte Publizist Paul Rohrbach begnügte sich damals mit der
Popularisierung der Angaben von ukrainischen Verfassern.10
Den Stand der Kenntnis der deutschen Publizistik zur ukrainischen Problematik am Anfang
des Krieges illustrieren z.B. Ausgaben wie „Das neue Deutschland“ und die „Preußischen
Jahrbücher“.
10 Der Inhalt von P. Rohrbachs Presseaufsätzen zur ukrainischen Thematik stellt folgende, eben diese
betreffende These von Peter Borowsky unter Zweifel: „Bereits 1897 beschäftigte er sich eing ehend mit
dem ukrainischen Problem und erkannte die Bedeutung der Agrarfrage für die Zukunft der Ukraine und
die zukünftigen Beziehungen der Ukraine zum Gesamtstaat“. (BOROWSKY Deutsche Ukrainepolitik 1918,
S. 31.) D iese Thes e versuch te er, mit einem Zitat aus dem 1 916 in Leipzig hera usgegeb enen We ltpolitischen Wanderbuch 1897-19 15 von Rohrbach zu belegen: „Wenn aber der Tag kommt, wo Russland
das Schicksal herausfordert, und dann hat zufällig dort, wo bei uns die Entscheidungen getroffen werden,
jemand so viel Kenntnis von den Dingen und soviel Entschlossenheit, daß er die ukrainische Bewegung
richtig loszubr ingen weiß – dann, ja da nn könnte Rußland zertrüm mert wer den.“ (Pa ul Rohrbach:
Weltpolitisches Wanderbuch 18 97-19 15. Leipzig 1916, S. 5 1.) Dieser Schlußfolgerung von Borowsky
steht neben den vollständig auf der Grundlage der Argumentation der ukrainischen Pub lizisten geschriebenen Zeitungsaufsätze von Rohrbach aus dem Kriegsjahr 1914 auch seine 1 912 in Leipzig
herausgegebene Arbeit Der deutsche Gedanke in der Welt gegenüber. In dieser Broschüre spricht er nur
ganz kurz von „Kleinrussen“ oder „Ruthenen“, die „Rußland innerhalb seiner staatlichen Grenzen
vermißt“(S. 19). Als guter Kenner der ukrainischen Problematik erscheint Rohrbach trotz des im Titel
seines „Weltpolitischen Wanderbuches“ angegebenen Jahres 1897 tatsächlich kaum früher als im Jahre
191 6.
Rudolf Mark spricht von Rohrbach als von einem Befürworter der deutschen Ukraine-Politik eigentlich
nicht früher a ls 191 5. Vgl. M ARK Die gescheiterten Staatsversuche, S. 178, Anm. 7.
8
Osteuropa-Institut München: Mitteilungen 35/2000
Die Wochenschrift der Reichs- und freikonservativen Partei „Das neue Deutschland“, die
im Kriegsjahr 1915 eine nennenswerte Rolle in der Pressediskussion zur „ukrainischen
Frage“ spielte, konnte in der zweiten Hälfte 1914 nur undeutliche Vorstellungen zu diesem
Problemkreis vorweisen. Diese These wird durch den Inhalt des Aufsatzes „Der Zusammenbruch des Panslawismus“ vom 15. August 1914 von Mantis belegt, der sich selbst ein halbes
Jahr später als langjährigen Anhänger der „ruthenischen Bewegung“ bezeichnete.11 In diesem
pathetisch klingenden Aufruf an die slawischen Völker, vorerst an die Tschechen und Polen
gerichtet, fand der Verfasser für die ukrainische Nationalbewegung nebenbei nur folgende
Bezeichnung: „[…] das Großrussentum muß nun in die ärgste Bedrängnis geraten, weil die
Balkanslawen ebenso wie auch die slawischen Stämme in West- und Südwestrusslands und
die Rumänen sich jetzt um so stärker von dem Moskowitertum abwenden werden […]“.
Von Ukrainern wurde 1914 noch im Artikel „Galizien und Österreich“ von Richard
Tharmatz aus Wien geschrieben.12 In dieser Publikation wurden die nationalpolitischen
Aspekte des Vormarsches der russischen Truppen in Galizien Ende 1914 behandelt. Die
Stellung des Verfassers zeigt neben der Überzeugung von der Ergebenheit der Ukrainer
Ostgaliziens gegenüber Österreich auch kaum versteckte Zweifel daran: „Daß ruthenische
Dorfgemeinden den Feind begünstigten, den Würger des ruthenischen Volkes willkommen
hießen, […] war eine schmerzliche Überraschung und Widersinnigkeit zugleich“.
Im Endergebnis präsentieren die Veröffentlichungen in der Wochenschrift „Das neue
Deutschland“ im Kriegsjahr 1914 eine unklare und sogar eher negative Einschätzung des
ukrainischen politisch-militärischen Faktors in bezug auf die Interessen Deutschlands.
Die von Hans Delbrück in Berlin herausgegebenen „Preußischen Jahrbücher“ veröffentlichten im ersten Heft seit dem Kriegsausbruch den Aufsatz „Ist ein Winterfeldzug
nach Rußland möglich?“ von Karl Ballod, ordentlichem Honorarprofessor an der Universität
Berlin.13 Ballod analysiert die drei strategischen Richtungen des Aufmarsches der deutschen
Armee gegen Rußland und begründet die Vorteile der dritten Vorstoßrichtung, nämlich aus
Galizien über Kiew nach Kateryno slaw, Poltawa, Charkow und zum Donezgebiet, im Sinne
der Generalstabsplanung, indem er den Komplex von natürlichen und wirtschaftlichen
Umständen in bezug auf die Durchführbarkeit dieser militärischen Operation beurteilt. Die
militärisch-politischen Fakto ren, darunter auch die national-ukrainischen Bestrebungen,
läßt er bei seinen Kalkulationen völlig unberücksichtigt.
11 Das neue Deutschland. Wochenschrift für konservativen Fortschritt. Organ der Rechts- und freikonservativen Partei. Herausgegeben von Dr. A dolf Grabow ski, Berlin, ve rlegt bei: P olitik, Verlag sgesellsch aft und Buchd ruckere i GmbH . Der A ufsatz von Man tis: Der Zusammenbruch des P anslawismus, in:
Das neue Deutschland, Nr. 45/46, 15. August 1914, S. 560-561.
12 Richard Tharmatz (Wien): Galizien und Österreich, in: Das neue Deutschland, Jahrg. 3, Nr. 7/9, 22. Dezember 1914, S. 69-71.
13 Preuß ische Jahr büche r, Band 1 57, Juli- Septem ber 1 914 , S. 114 -127 .
Osteuropa-Institut München: Mitteilungen 35/2000
9
Die nächste Abhandlung von Ballod in den „Preußischen Jahrbüchern“, „Herrscht in
Rußland Einheit?“, sollte die innenpolitischen Probleme Rußlands beleuchten. Dem
ukrainischen Faktor widmete er aber nur eine kurze verallgemeinernde Bemerkung: „Die
kleinrussische Sprache ist unterdrückt, der Kleinrusse wird mit einem gewissen Hochmut
behandelt, als „Chochol“ (Schopf) verspottet“14.
Diese Veröffentlichungen zeigen, daß im August-Dezember 1914 deutsche Publizisten
und deutsche Medien ziemlich unklare, allgemeine Vorstellungen über die Ukraine und die
politischen Interessen der Ukrainer demonstrierten.
C. Remer erwähnt das Ende 1914 verhängte Verbot des Reichskanzlers hinsichtlich der
öffentlichen Erörterung der Kriegsziele. Archivdokumente belegen, daß auch in bezug auf
die ukrainischen Angelegenheiten scharfe Beschränkungen eingeführt wurden: 15
„Zentralstelle für Auslandsdienst.
den 2. Dezember 1914
Mitteilung an Herrn Wirkl. Geheimen Legationsrat Hamman, Berlin.
Herr Reinhard Mannesmann gestattet sich, darauf aufmerksam zu machen, daß mit Rü cksicht
auf die augenblicklich schwebenden Verhandlungen bezüglich der Ucraine es sehr nachteilig
sei, wenn irgendwelche Mitteilungen über die Ucraine veröffentlicht werden. […]
Herr Reinhardt Mannes mann wird veranlassen, daß auch von Wien aus alle auf die Ucraine
bezüglichen Nachrichten v on der Verö ffentlichung au sgeschlos sen werden.“
[Unterschrift]
Aus diesem Dokument kommt auch hervor, daß der Großindustrielle Reinhard Mannesmann
einen besonderen Einfluß auf die Ukraine-Politik ausübte.
Ein Privatschreiben des Chefs des Kabinetts des Ministers des Äußern, Grafen Hoyos, an
Oberst von Hranilovic, Chef des österreichisch-ungarischen Evidenzbureaus im k.u.k.
Kriegsministerium, auf den 14. November 1914 datiert, wirft zusätzliches Licht auf die
Ursachen dieses Einflusses. Hoyos berichtet über einige Details der in deutsch-österreichischer Zusammenarbeit geplant en türkisch-ukrainischen militärischen Aktion und erwähnt
die Beteiligung Mannesmanns an deren Vorbereitung.16 In diesem Zusammenhang sieht
das Verbot der Veröffentlichung von Nachrichten über die Ukraine als eine ganz logische
14 Preußische Jahrbücher, Band 158, Heft 1, S. 127-137, S. 136.
15 Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes Bonn. R 20952. Mitteilung der Zentralstelle für Auslandsdienst vom 2. Dezember 1 914, Berlin.
16 „Die Deutschen Brüder arbeiten mit solchem Hochdruck an all diesen Aktionen […]. Ich bin manchmal
recht skeptisch über den Erfolg aller dieser Ak tionen Zimme r, Manne smann etc . […]. H O R N Y KI E W Y CZ
Ereignisse in der Ukraine 1914-1922, Bd. 1, S. 152.
Mehr über die militärische Operation in der Arbeit von Wolfdieter Bihl: Das im Herbst 1914 gep lante
Schwarzmeer-Unternehmen der Mittelmächte, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas N.F. 14, 1966,
S. 362-366.
10
Osteuropa-Institut München: Mitteilungen 35/2000
Maßnahme aus, die die Geheimhaltung der Vorbereitungen der militärischen Operation der
Mittelmächte absichern sollte.
Das Verbot von öffentlichen Diskussionen dauerte zumindest bis Ende März 1915.17 Die
trotzdem weitergeführten öffentlichen Veranstaltungen hatten deswegen manchmal Probleme
für ihre Teilnehmer zur Folge, was der Brief von Paul Rohrbach beweist18:
„Zentralstelle für Auslandsdienst
Berlin, den 1. Februar 1916.
Frau
Elsa Bruckmann, München.
Sehr geehrte Frau.
Darf ich Sie mit Rücksicht auf das Schreiben des Bayerischen Kriegsministeriums vom 20. Januar
bitten, dem Kriegsministerium noch die folgenden Gesichtspunkte zur Beurteilung und Rechtfertigung der beanstandeten Stücke meines Vortrags zu unterbreiten. Das ist richtig, daß ich
angegeben habe, mein Vortrag würde sich in bezug auf Kriegsziele und ähnliche Fragen im
Rahmen meines Buches „Russland und wir“ halten. Ich nahm aber dabei an, daß ich Dinge, d ie
anderswo von der Zensur genehmigt sind, gleichfalls würde in dem Umfang heranziehen können,
wie die Genehmigung anderwärts erfolgt ist. Das gilt auch fü r die Fra ge des Ein mars ches in die
Ukraine. Dieses Thema ist in noch weitergehender W eise, als ich davon g espro chen hab e, in
einem Aufsatz des Professors der Nationalökonomie an der Berliner Universität, Ballod, im Herbst
1914 in den „Preu ßischen Ja hrbüch ern“ beh andelt worden. D er betreffende A ufsatz , der sehr ins
Einzelne geht, ist von dem Herausgeber der Preußischen Jahrbücher, Herrn Professor Delbrück,
seinerzeit der Zen sur v orgeleg t und v on dies er aus drüc klich gen ehmigt worden . Ich habe noch
lange nicht so viel gesagt, wie dort zu lesen steht. […]
Ihr stets erg ebener
Dr. Paul R ohrbach.“
Die Erwähnung des „Einmarsches in die Ukraine“ in Rohrbachs Vortrag in München rief
im bayerischen Kriegsministerium Unzufriedenheit hervor. Die von Prof. Ballod in den
„Preußischen Jahrbüchern“ abgedruckte Arbeit behandelte die militärisch-technischen
Aspekte eines eventuellen „Einmarsches“ als eine vorerst theoretisch betrachtete Alternative,
da im August 1914 noch keine Rede von einer baldigen Offensive in die russische Ukraine
sein könnte. Ganz anderes sah die Situation am 20. Januar 1915 aus, als Rohrbach über einen
„Einmarsch“ in die Ukraine nur drei Tage vor Beginn der Karpaten-Offensive deutscher
17 Im „Deuts chen Kurier “ vom 26 . März 1 915 heißt es im Aufsatz „Die ukrainische Frage“: „Wir glauben,
keinen Verstoß gegen das Verbot der Erörterung der Kriegsziele zu begehen, wenn wir diese Ausführungen d es öster reichische n Reichsr atsabge ordneten kr äftig unterstreich en und unter stützen.“
18 Bayerisches Hauptstaatsarchiv, Abteilung IV (Kriegsarchiv). MKr 13874 . Brief von Dr. Paul Rohrbach
an Elsa Bruckmann. Berlin, den 1. Februar 1916.
Osteuropa-Institut München: Mitteilungen 35/2000
11
und österreichisch-ungarischer Truppen sprach und damit die wachsame bayerische
Militärzensur beunruhigte.
Die Diskussion in der Wochenschrift „Das neue Deutschland“ zeigt, daß nach der kurzen
Offensive deutsch-österreichischer Truppen in den Karpaten Ende Januar 1915 das Verbot
der öffentlichen Erörterung von ukrainischen Fragen nicht mehr so streng erfüllt wurde.
Im Februar-Mai 1915 entfaltete sich auf den Seiten dieser Zeitschrift eine Diskussion zur
ukrainischen Frage. Sie wurde mit der Veröffentlichung des Aufsatzes von Dr. Hans
Hartmeyer aus Wien „Die Ukraine und die Lösung der ukrainischen Frage“ eröffnet.19 „Erst
langsam bricht sich in der deutschen Öffentlichkeit die Erkenntnis Bahn, daß das Russische
Reich keineswegs jenes völklich, politisch und staatlich geeinigte Gebilde ist, als welches
es sich die langläufige Meinung bisher vorgestellt hat. […] Von den Ukrainern weiß man
im Deutschen Reich wenig, man kennt nicht ihre Geschichte, nicht die Ausdrucksformen
ihrer Kultur, nicht Wünsche und Beschwerden […].“ – So charakterisiert Hartmeyer im
allgemeinen die Sachlage. Er spricht auch über die Auflösung Rußlands in seine einzelnen
Bestandteile als Hauptweg zur Schwächung dieses Reiches. Der Kampf der Ukrainer gegen
die russische Unt erdrückung sollte zur Erreichung dieses Ziels beitragen. Als Beweis der
Existenz einer historischen Staats- und Eigenständigkeitstradition verweist Hartmeyer auf
die Geschichte der Kiewer, der Halycz-Wolhynischen und der Kosaken-Periode bis zur
Auflösung der „letzten selbstständigen Kosakenrepublik“ der Zaporoger Si… durch Katharina
II. Er nennt die Hauptforderungen der ukrainischen Vertreter beider russischen Dumas –
Selbstverwaltung und Land, und er erklärt, daß in Rußland der Grund und Boden dem
einfachen ukrainischen Volk „vollkommen entfremdet“ sei. Deswegen seien die Ukrainer,
die Hartmeyer „ein reines Bauernvolk“ nennt, an ihrer politischen Eigenständigkeit
interessiert. „Die Forderung nach Autonomie hat mit dem jetzigen Kriege den Höhepunkt
ihrer Bedeutung erreicht, von einer Niederlage Rußlands erhofft die Ukraine ihre Verwirklichung“, – so die Vorstellungen des Verfassers von der politischen Stimmung der Ukrainer
in Rußland. Die Einschätzung der politischen Perspektiven der ukrainischen Bewegung
durch Hartmeyer ist zurückhaltend insofern, als er die zukünftige Schaffung eines autonomen
oder selbstständigen ukrainischen Staates nicht als eine sichere Sache bezeichnet. Der
österreichische Publizist erwähnt den Bund zur Befreiung der Ukraine (Stando rt Wien) als
Vertreter der Interessen der russischen Ukrainer. Über die Tätigkeit des Bundes spricht er
in diesem Aufsatz nicht viel, die benutzte Argumentation weist aber auf die Publizistik des
Bundes als Quelle für die Veröffentlichung von Hans Hartmeyer hin.
19 Hans Hart meyer: Die U krain e und d ie Lösung der ,ukrainische Frage‘, in: Das neue Deutschland,
27. Februar 1915, Nr. 14/17, S. 141-145.
12
Osteuropa-Institut München: Mitteilungen 35/2000
Das nächste Heft der Zeitschrift „Das neue Deutschland“ enthielt eine polemische Antwort
auf die bereits verkündete Idee der eventuellen Schaffung eines autonomen oder selbstständigen ukrainischen Staates. Der von Professor Alexander Brückner (Universität Berlin)
verfaßte Aufsatz „Der ukrainische Staat“ ließ von der Idee eines solchen Staates kein St ein
auf dem anderen.20 Dieser Autor, in der Anmerkung der Redaktion als Kenner Rußlands
und Polens bezeichnet, bestreitet alle Hauptthesen der Befürworter der ukrainischen
Staatsidee. So schreibt er über das Ukrainertum, daß „seine Traditionen vo n den Unabhängigkeitskämpfen denselben praktischen Wert haben wie ihre Traditionen von
Froschkönig oder Schwanenjungfrau, d.h. es sind nur Requisiten seiner Phantasie, und einen
Staatstrieb kennen die Ukrainer schon darum nicht, weil sie nie einen Staat gebildet haben,
weil ihnen jegliche Idee eines nationalen Staates fremd war und ist.“ Als eine tatsächlich
den Interessen Deutschlands gegenüber der russischen Macht entsprechende Lösung stellt
Brückner die historisch versäumte polnische Alternative gegenüber: „Im Laufe der
Geschichte war ja ein gewaltiger Wall längs der Düna und des Dnjepr errichtet worden, das
Polenreich, von westlicher Kultur und Sitte, das auf dem besten Wege war, sich seine
kleinrussischen Elemente vö llig zu assimilieren.“
Vielsagend in bezug auf diese Diskussion ist die Haltung der Redaktion. In der einleitenden
Anmerkung wurde gesagt, daß Professor Brückner „mit sehr interessanter Begründung die
Meinung vertritt, der ukrainische Staat sei eine Utopie.“ Als aber der Aufsatz eine eindeutig
ablehnende Reaktion hervorrief, was im nächsten Heft in einem mit den Initialen des
Redaktors Adolf Grabowski unterschriebenen Artikel „Weiteres zum Ukrainischen Problem“
mitgeteilt wurde, verwandelte sich die Position der Redaktion in eine viel kritischere; die
Behauptung Brückners, daß es eine kleinrussische Frage nie gegeben hat und nie geben
würde, wurde nun als „übertrieben“ charakterisiert.21 Der Redaktor sah es als seine Pflicht
an, aus der Sicht deutscher Interessen eine Zusammenfassung von befürwortenden Argumenten hinsichtlich der Notwendigkeit der ukrainischen Freiheitsbestrebungen vorzulegen. Zu
diesem Zweck gab er einen kurzen Überblick über die damals neuesten Veröffentlichungen
zu diesem Thema: das Buch von D. Donzow „Die ukrainische Staatsidee und der Krieg
gegen Rußland“, das Werk von S. Rudnytskyj „Ukraine und die Ukrainer“ (beide im Verlag
von Carl Kroll, Berlin erschienen), so wie die Broschüren von E. Ostmann „Rußlands
Fremdvölker, seine Stärke und Schwäche“ und „Die Ukraine und der Krieg“ des Bundes
zur Befreiung der Ukraine (beide erschienen im J.F. Lehmanns Verlag in München). Diesmal
hielt der Redaktor es für seine Pflicht, an der Diskussion mit Brückner selbst teilzunehmen,
indem er die Argumentation von Professor Otto Hoetzsch aus seinem 1913 erschienenen
20 Alexander Brückner: Der ukrainische Staat, in: Das neue Deutschland, Nr. 18/19 1915, S. 157-160.
21 Das neue Deutschland, 29. Mai 1915.
Osteuropa-Institut München: Mitteilungen 35/2000
13
Buch „Rußland, eine Einführung auf Grund seiner Geschichte von 1904 bis 1912“ wiedergibt. (Dieselben Fakten und Argumente wurden auch in dem bereits erwähnten Aufsatz von
Dr. Hans Hartmeyer dargelegt.) So versuchte Grabowski, die Behauptung Brückners, daß
die „ukrainische Frage” nur durch den Krieg aufgerollt wurde, mit Materialien der Vorkriegszeit zu dementieren. Die Änderung der Position des Redaktors Grabowski erscheint
verständlich, wenn man sie im Kontext der Entwicklung der deutschen Ukraine-Politik,
nämlich der Vorbereitungsmaßnahmen zur Sommer-Offensive an der Ostfront sieht.
Vor diesem Hintergrund ist die Welle von Veröffentlichungen zur „ukrainischen Frage“
im März in erster Linie zu beachten. So erschien in der „Kölnischen Zeitung“ vom 19. März
1915 der Aufsatz „Vom östlichen Schauplatz. Die Ukraine und der Krieg gegen Russland“,
in dem die Hauptthesen der Arbeit „Die ukrainische Staatsidee und der Krieg gegen Russland“ von D. Donzow dargelegt wurden. Die „Vossische Zeitung“ (Berlin) widmete auch
am 19. März 1915 derselben Arbeit Donzows einen Artikel von Dr. Karl Kroll unter dem
Titel „Das ukrainische Problem“. Die aktuellen kirchlichen Fragen behandelte „Die Zeit“
am 25. März 1915 in der Veröffentlichung „Die Ukrainer Galiziens“. Von den ukrainischen
Politikern und Publizisten, deren Arbeiten in der deutschen Presse beleuchtet wurden,
gebührt auch dem österreichischen Reichsratsabgeordneten und künftigen Vorstandsmitglied
des Vereins „Freie Ukraine“, Dr. Eugen Lewicky, ein herausgehobener Platz. So berichtete
am 26. März 1915 die Zeitung „Deutscher Kurier“ in dem mit „H.Sch.“ unterschriebenen
Aufsatz „Die ukrainische Frage“ über die Arbeit von E. Lewicky, die als das 33. Heft der
von Ernst Jäcksch herausgegebenen Flugschriftenreihe „Der deutsche Krieg“ erschien.
Unter dem Gesichtspunkt dieser Forschungsarbeit ist der mit „H.Sch.“ unterschriebene
Aufsatz im „Deutschen Kurier“ besonders interessant. In der deutschen Publizistik und in
den Quellen der Kriegszeit sowie in der wissenschaftlichen Literatur zu diesem Problemkreis
taucht kein anderer Name auf, der zu diesen Initialen paßt, außer der Name von Heinrich
Schupp.22 Die spätere enge Zusammenarbeit von Dr. Heinrich (Falk) Schupp mit Eugen
Lewicky im Rahmen der Tätigkeit des Vereins „Freie Ukraine“ gibt zumindest Anlaß zu
der Vermutung, daß Dr. Schupp Verfasser des Artikels im „Deutschen Kurier“ war. Auch
das Datum dieser Veröffentlichung – nach der Abberufung des Dr. Schupp aus Bulgarien
Ende 1914 und wenige Monate vor seiner nachgewiesenen Beteiligung an der Organisation
einer „ukrainischen Zeitschrift“ in München im Herbst 1915 – schließt diese Vermutung
nicht aus.
22 Zum Nam en und Gele hrtennam en von D r. Schup p wird in d en Kapiteln „ Münc hen, zweite H älfte 1915
– Der Kampf um die erste deutsche „ukrainische Zeitschrift“ und „Die Spezialmissionen des Münchener
Zahnarztes Dr. Heinrich Schupp – von der Balkan-Politik zur „ukrainischen Aktion“ Stellung genommen.
14
Osteuropa-Institut München: Mitteilungen 35/2000
Der Inhalt dieses ziemlich großen Aufsatzes belegt, daß sein Verfasser die Möglichkeit
nutzte, sich mit den Hauptthesen der national-ukrainischen Bestrebungen bekanntzumachen
und sie den Kriegszielen Deutschlands anzupassen.
Dieser Aufsatz enthält die ausführliche Darstellung der wichtigsten Etappen der ukrainischen Geschichte vom Mittelalter über die Ära des Kosakentums und der nationalen
Aufklärung bis zu den politischen Verhältnissen zur Zeit des Kriegsausbruches. Als Quelle
zu diesem publizistischen Überblick über das historische Schicksal des ukrainischen Volkes
unter dem Zeichen unaufhörlicher russisch-ukrainischer Feindseligkeiten, benutzte der
Verfasser den Inhalt der Arbeit des Wiener Reichsratsabgeordneten Dr. Eugen Lewicky.
Dieses publizistische Manifest der ukrainischen Nationalbewegung Ostgaliziens machte
der Verfasser des Aufsatzes im „Deutschen Kurier“ zum Ausgangspunkt für seine Begründung der deutschen Kriegsziele im Verhältnis zur Ukraine: „Die Befreiung der Ukraine und
die Zurückdrängung Rußlands vom Schwarzen Meere scheint uns auch für Deutschland die
einzig vernünftige, wenn auch radikale Lösung der osteuropäischen Frage zu sein.“
Überwiegend die Abhandlungen des BBU füllten in der ersten Hälfte 1915 die Nische,
die 1916-1917 schon meistens von Arbeiten deutscher Publizisten eingenommen wurde.
Auf die große Bedeutung des Einflusses der Veröffentlichungen des BBU Anfang 1915 weist
das folgende Archivdokument:23
„J.F. Lehmann’s Verlag.
München, den 19. März 1915.
An das P ressereferat des K. b. Kriegs ministeriums Mün chen
Beifolgend sende ich Ihnen einen Korrekturabzug der Schrift „Die Ukraine und der Krieg“. Eine
kleine Auflage wird als Handschrift gedruckt und an ausgewählte Adressen versendet. Sie ersuche
ich um Genehmigung der Herausgabe in Buchform. Sollte gewünscht werden, daß die eine oder
andere Seite geändert wird, so wird diesen Wünschen gerne Rechnung getragen.
Nebenb ei bemerke ich, daß ich diese Schrift ü ber die Ukra ine wie die Schrift üb er Russ land auß er
an Diploma tenkreise zum al an Kreise der S ozialdemokr atie versenden wer de, um diese Kreise,
die ohnehin gegen Russland eingenommen sind, für diese Gedanken zu gewinnen. Ich hoffe, daß
dadurch die Politik der Regierung unterstü tzt wird , denn wenn die Sozia ldemokr atie fü r die
Befreiung der unterjochten r ussischen Fremdvö lker eintritt, werden wo hl auch die Best rebungen
der Regierung unterstützt, die, wenn das Waff englück u ns hold bleibt , auch äh nliche Ziele
erstreben d ürfte.
Mit vorzüglicher Hochachtung
J.F. Lehmann“
23 Bayerisches Hauptstaatsarchiv, Abteilung IV (Kriegsarchiv). MKr 1397 4. Schreiben des Verleger J. F.
Lehmann an das Pressereferat des K.B. Kriegsministeriums vom 19. März 1915.
Osteuropa-Institut München: Mitteilungen 35/2000
15
Verleger Lehmanns Schreiben belegt, daß die publizistischen Arbeiten zu jener Zeit zuerst
nicht für die breiten Kreise der Öffentlichkeit, sondern für ausgewählte Leser, darunter in
erster Reihe für deutsche Politiker, bestimmt waren. Der Ton dieses Briefes zeigt, daß der
Inhalt dieser Publizistik zu jeder Zeit geändert werden könnte, was auf das tatsächliche
Verhältnis der ukrainischen Politiker zu ihren deutschen Paten schließen läßt. Aber in jedem
Fall kann man feststellen, daß der Entwicklung der deutschfreundlichen ukrainischen
Publizistik und Propaganda große Bedeutung geschenkt wurde. Der Münchener Verleger
J.F. Lehmann nahm an diesem Prozeß mit so viel Erfolg Teil, daß ihm, als die Zeit kam,
auch die Herausgabe einer „ukrainischen Zeitschrift“ anvertraut wurde.
Der März-Welle von Veröffentlichungen zur ukrainischen Frage folgte im April die
Entscheidung über die Bildung von speziellen ukrainischen Gefangenenlagern; das erste
wurde in Rastatt im Mai eröffnet.24
Das Ziel der Arbeit mit den ukrainischen Kriegsgefangenen stimmt logisch mit der
strategischen Aufgabe Deutschlands im Jahre 1915, nämlich Rußland aus dem Kriege
auszuschalten, überein. Als Mittel zur Erreichung dieser politischen Aufgabe sollte Rußland
zuerst durch die geplante Sommeroffensive an der Ostfront zum Separatfrieden gezwungen
und danach durch die Entfesselung von separatistischen Bewegungen auf möglichst große
Dauer geschwächt werden. Zu diesem Zwecke sollten ukrainische Kriegsgefangene, die
nach dem vorgesehenen Separatfrieden nach Hause zurückkehren sollten, nach ihrer
Heimkehr die innenpolitische Entwicklung in der russischen Ukraine möglichst st ark im
deutschfreundlichen Sinne beeinflussen. Um diesen Aufgaben gewachsen zu sein, sollten
sie in den Speziallagern so indoktriniert werden, daß sie ihr Loyalitätsgefühl Rußland
gegenüber verlören, einen national-ukrainischen Patriotismus entwickelten und der Idee
der Schaffung eines unabhängigen ukrainischen Staates anhingen.
Als logische Fortsetzung der deutschen Vorbereitungsmaßnahmen zur Sommeroffensive
erscheint auch die Überführung des Hauptquart iers des Bundes zur Befreiung der Ukraine
von Wien nach Berlin im Mai. Das neugebildete Zentralbüro des BBU leitete Aleksander
Skoropys-Joltucho wski, sieben Monate später schon Redaktionsmitglied der „Osteuropäischen Zukunft“, der schon bestimmte Vorkriegserfahrungen des Lebens in Deutschland
besaß, da er 1911-1913 in der Bayerische Akademie der Künste Malerei studiert hatte.25
Zu den erwarteten Ergebnissen der Sommeroffensive gehörte auch der immer angestrebte
Zutritt zu den reichen Naturschätzen im Osten. Der wirtschaftliche Aspekt des geplanten
deutschen Vormarsches in die Ukraine wurde zum Bestandteil der ukrainischen Publizistik,
24 R EMER Die Ukraine im Blickfeld deutscher Interessen, S. 261.
25 Staatsarchiv München, Pol. Dir. München 527: „Ukrainischer Bildungsverein“.
16
Osteuropa-Institut München: Mitteilungen 35/2000
was z.B. die Tätigkeit von E. Lewicky illustriert. So sprach er am 7. Mai 1915 in München,
daß sich in der Ukraine „das deutsche Kapital besonders erfolgreich betätigen“ würde.26
Auch die „Frankfurter Zeitung“ veröffentlichte am 26. Mai 1915 einen großen Aufsatz von
Lewicky „Die Ukraine und der Krieg“.
Es ist kaum ein Zufall, daß ausgerechnet vor der entscheidenden Sommeroffensive auch
„Das neue Deutschland“ eine unvergleichbar intensive publizistische Aktivität an den Tag
legte, indem es am 29. Mai drei Aufsätze zum ukrainischen Problem veröffentlichte.27 Wie
man aus dem Einleitungsaufsatz der Redaktion sehen kann, sollte dies den negativen Effekt
der antiukrainischen Abhandlung von A. Brückner ausgleichen.
Die Redaktion veröffentlichte zuerst einen die ukrainische und die polnische Seite
versöhnenden Aufsatz eines unter dem Pseudonym Mantis auftretenden „alten Mitarbeiter,
vorzüglichen deutschen Kenner des Ostens“. Dieser Publikation folgte ein scharf polemischer Artikel des Leiters des Ukrainischen Pressebureaus in Berlin Dmytro Donzow.
Die Abhandlung von Mantis trug einen eindeutig klaren Titel „Der ukrainische Staat, eine
Notwendigkeit“. Mantis bestritt die Behauptungen von Professor Brückner hinsichtlich der
national-politischen Apathie der Ukrainer und deren Loyalität zu Rußland: „Es wird keinen
Ukrainer geben, der zum zweiten Male sich vertragsmäßig mit dem Zarenreiche vereinigt.“
Der Verfasser des Aufsatzes betont, daß die nationalen Interesse der Ukrainer und der Polen
übereinstimmen: „Es ist mir unverständlich, weshalb die Polen nicht offen erklären, die
Bildung eines ukrainischen Staates sei ihnen willkommen; mit den Ukrainern möchten sie
Europa gegen den tatarisch-moskowitischen Osten dauernd schützen“.
Der Hauptgedanke dieses Aufsatzes besteht darin, daß Deutschland alle antirussischen
Kräfte stärken und bündeln sollte. Wenn man als Belohnung für die Beteiligung der Ukrainer
im Kriege auf deutscher Seite deren Staatsidee anerkennen wolle, so müsse dies seitens
Deutschland klar verkündet werden.
Die publizistische Reaktion des Leiters des Ukrainischen Pressebureaus in Deutschland
Dmytro Donzov auf das antiukrainische Manifest Brückners konzentrierte sich auf die
historische Argumentation des Berliner Professors. In seinem Artikel „Der ukrainische Staat,
eine politische Utopie?“ betonte Donzow, die ukrainischen Aufstände gegen die polnische
Herrschaft „zeigten bei den Ukrainern das Vorhandensein des Materials, aus dem man –
in allen Zeiten – die Staaten baut.“
Mit diesen Veröffentlichungen wurde aber die Erörterung des ukrainischen Themas auf
den Seiten der Halbmonatsschrift „Das neue Deutschland“ im Prinzip bis 1917 eingestellt.
26 LEWICKY Ukraine, Ukrainer und die Interessen Deutschlands, S. 53, zitiert nach: R EMER Die U kraine im
Blickfeld deutscher Interessen, S. 295.
27 Vgl. Das neue Deutschland, 29. Mai 1915.
Osteuropa-Institut München: Mitteilungen 35/2000
17
3 Die Anfänge der deutschen Publizistik zur „ukrainischen Frage“
Wenn man die Buchpublikationen deutscher Autoren zur „ukrainischen Frage“ vor 1916
betrachtet, so findet man ganz wenige Arbeiten, die speziell der Ukraine gewidmet waren.
Die Zusammenstellung von Arbeiten zu diesem Problemkreis zeigt, daß 1915 folgende
Flugschriften erschienen:
– Otto Keßler; Die Ukraine. Beiträge zur Geschichte, Kultur und Wissenschaft;
– Georg Kleinow: Das Problem der Ukraine;28
– Dr. Karl Nötzel: Die Unabhängigkeit der Ukraine als einzige Rettung von der russischen
Gefahr;29
– Dr. Rudolf Stübe: Die Ukraine und ihre Beziehungen zum osmanischen Reiche.30
Man entnimmt dieser Liste, daß im Laufe des Jahres 1915 eigentlich nur drei Arbeiten
erschienen. (Die Broschüre von Kleinow wurde zum ersten Mal noch 1914 als die einzige
spezielle Veröffentlichung zu diesem Thema herausgegeben.) So kann man in bezug auf
das Jahr 1915 tatsächlich vom Anfang der deutschen ukrainistischen Publizistik sprechen.
In diesem Zusammenhang erscheint die Anzahl von nicht weniger als zehn in Deutschland
1915 herausgegebenen Flugschriften des BBU mehr als vielsagend.
Wichtig ist auch zu bemerken, daß die Arbeiten von Georg Kleinow, Otto Keßler und
Rudolf Stübe zwischen Mai und Dezember 1915 erschienen und deswegen eher im Kontext
der propagandistischen Vorbereitung der Sommeroffensive und des weiteren Vormarsches
im Südosten zu betrachten sind. Darauf weisen auch die Hauptthesen der genannten
Abhandlungen. So schrieb Stübe, daß nur die Schaffung eines selbständigen ukrainischen
Staates die Türkei im deutschen Einflußbereich dauerhaft halten und Rußland den Weg zur
Eroberung Konstantinopels abschneiden würde; die Ukrainer warteten auf den Sieg
Deutschlands, der ihnen die Freiheit bringe. Nötzel betonte, daß nur die nationale Selbstständigkeit des ukrainischen Volkes Deutschland und Österreich-Ungarn vor der Moskauer
Gefahr schützen könne. Ähnliche Gesichtspunkte vertraten auch die Arbeiten von Keßler
und Kleinow.
Das ukrainische Problem wurde nebenbei in den Büchern der deutschen Publizisten Paul
Rohrbach, Franz Köhler und Karl Leutner und in den Broschüren von Eckerhardt Ostmann
und Wilhelm Kisky behandelt.
28 Vgl. R EMER Di e U kraine im Blickfeld deutscher Interessen, S. 290. Vgl. auch D OROSCHENKO Die
Ukraine und das Reich, S. 188.
29 Vgl. D OROSCHENKO Die Ukraine und das Reich, S. 187-188.
30 Vgl. D OROSCHENKO Die Ukraine und das Reich, S. 188.
18
Osteuropa-Institut München: Mitteilungen 35/2000
Paul Rohrbach schrieb Ende 1914 in seinem Werk „Der Krieg und die deutsche Politik“:
„Moskau verliert die im 18 . Jahrhund ert eroberten polnischen, lita uischen und b altischen
Provinzen; die Wiederherstellung der historischen Grenze zwischen der Ukraine und Moskowien,
die Wiedererrichtu ng des ukra inischen Sta ates befr eien Europa von der russ ischen Gefa hr.“ 31
Eckehardt Ostmann sprach seine Unterstützung der Idee, eine vereinte Ukraine aus den
ukrainischen Territorien Rußlands und Österreich-Ungarns zu schaffen, in der vor Sommer
1915 erschienenen Broschüre „Rußlands Fremdvölker, seine Stärke und Schwäche“ aus.32
In der Arbeit „Der neue Dreibund. Ein deutsches Arbeitsprogramm für das gesamte
deutsche Volk und seine Freunde“ von Franz Köhler wurde folgende Meinung vertreten:
Eine von Moskau unabhängige selbständige Ukraine bewirkt die endgültige Sicherung vor
der russischen Gefahr; die Sprachgrenze zwischen Ukrainisch und Russisch, der Donecfluß,
sei gleichzeitig die Grenze zwischen West en und Osten. 33
Karl Leutner betonte in seinem Buch „Russischer Volksimperialismus“, daß der ukrainische Nationalismus und Separatismus der ärgste Feind des russischen Nationalismus und
Imperialismus sei. Ob sich das große ukrainische Volk als besondere Nation behaupten
können werde, sei für Rußland die Lebensfrage.34
Auch Wilhelm Kisky schrieb 1915 über die für einen Sieg über Rußland notwendige Abtrennung der Fremdvölker von Rußland, von denen das größte das Volk der Ukrainer sei. 35
Hinsichtlich des Niveaus ihrer politischen Vorstellungen, gingen die Arbeiten deutscher
Publizisten vor 1916 nicht viel über die Verkündung der allgemeinen Kriegsziele Deutschlands in bezug auf die Ukraine und die Anerkennung des Rechtes der russischen Ukrainer
auf einen selbständigen oder autonomen Staat hinaus. Von Aussagen über konkrete Schritte
zur Erreichung dieser Ziele war in diesen Arbeiten viel weniger zu sehen.
Die maßgebenden politischen Kreise Deutschlands bedienten sich damals in erster Linie
mit der Publizistik des Bundes zur Befreiung der Ukraine, die ganz deutlich formulierte
Vorstellungen und Aufgaben vertrat und die Ukrainer als einen entschlossenen Kriegspartner
darstellte. Dieser Umst and war im Vorabend der Sommeroffensive von offenkundiger
Bedeutung.
31 R OHRBACH Der Krieg und die deutsche Politik, S. 184.
32 Ostmann Eckehardt: Rußlands Fremdvölker, seine Stärke und Schwäche. München 1915.
33 Köhler Franz: Der neue Dreibund. Ein deutsches Arbeitsprogramm für das gesamte deutsche Volk und
seine Freunde. München 1915.
34 Leutner Karl: Russischer Volksimperialismus. Berlin 1915.
35 Vgl. R EMER Die Ukraine im Blickfeld deutscher Interessen, S. 292.
Osteuropa-Institut München: Mitteilungen 35/2000
19
4 Politische Strategie und propagandistische Aktionen Deutschlands in bezug auf
die Ukraine im Sommer 1915
Für die deutsche Staatsführung war auch die Sicherung internationaler Unterstützung für
die ukrainischen Selbständigkeitsbestrebungen von besonderer Bedeutung, wobei das
deutsche Interesse an der ukrainischen Separatistenbewegung verborgen bleiben sollte.36
Langfristig sollte die erstrebte internationale Unterstützung des ukrainischen Separatismus
die völkerrechtliche Anerkennung des eventuell zu schaffenden ukrainischen Staatswesens
auf dem Territorium der damaligen russischen Ukraine erleichtern.
Diesen Zielen sollte die propagandistische Arbeit im Ausland dienen. So begann Anfang
Sommer 1915 Wolodymyr Stepankiwskyj mit finanzieller Unterstützung des deutschen
Auswärtigen Amtes in der Schweiz mit den Vorbereitungsarbeiten zur Herausgabe der
Zeitschrift „L’Ukraine“, welche ab August in Lausanne erschien.37 Durch die Redaktion
sollten auch „Nachrichten in der französischen Presse lanciert werden, zumal persönliche
Verbindungen zu verschiedenen Persönlichkeiten in der Pressezensur in Paris“ bestanden. 38
Die Entwicklung der Ereignisse im Sommer 1915 verlief zugunsten der strategischen Pläne
Deutschlands. Die erfolgreiche Offensive der Mittelmächte an der Ostfront führte zur
Okkupation von Teilen der russischen Ukraine: Bis zum 1. August wurde das Cholmer Land,
bis 8. August das Gouvernement Wolhynien erobert.
Die militärischen Erfolge im Südosten führten zur Erweiterung der propagandistischen
Unternehmen im Ausland. Derselbe Wolodymyr Stepankiwskyj beabsichtigte im August
mit finanzieller Förderung des Auswärtigen Amtes „die Herausgabe einer ukrainischen
Zeitung in englisch“ und zusammen mit dem Pariser Korrespondenten der englischen
Zeitung „Daily Mail“, Lees, eine „größ ere Broschüre über die Ukraina in London“.39
Die Erfolge der Mittelmächte an der Südostfront im Juli-August warfen auch neue
politische Probleme auf, nämlich die Frage nach den optimalen Formen der militärischpolitischen Kontrolle über die eroberten und zu erobernden Teile der russischen Ukraine.
36 „Das allgemeine Interesse für die Fragen der Ukraina muss als gutes Mittel angesehen werden, um die
informatorische Tätigkeit zu verdecken. Das ukrainische Interesse muß allein maßgebend sein, und Herrn
Stepankiwski muß angehalten werden, seinen germanophilen Standpunkt keinesfalls in Erscheinung
treten zu lassen. Er darf sich nur auf der treibenden Scholle der ukrainischen Interessen bewegen. Von
dem neutralen Boden als Ukrainer findet er Eingang in London, Paris und Rom, ebenso wie in BerlinWien.“ Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes Bonn. R 20955. Bericht über die ukrainische Arbeit
in der Schweiz. 12.-20. August 1915, S. 98-99.
37 Vgl. B OROWSKY Deutsche Ukrainepolitik 1918, S. 37.
38 Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes Bonn. R 20955. Bericht über die ukrainische Arbeit in der
Schweiz. 12.-20. August 1915.
39 Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes Bonn. R 20955. Bericht über die ukrainische Arbeit in der
Schweiz. 12.-20. August 1915, S. 99.
20
Osteuropa-Institut München: Mitteilungen 35/2000
Welche Maßnahmen zu diesem Zwecke in Berlin erörtert wurden, bezeichnet ein für das
Auswärtige Amt vorbereiteter zusammenfassender Bericht:40
„Nach dem nun die militär ischen Op erationen die ukra inischen Grenzen z .T. bereits übers chritten
haben, und nachdem ferner die maßlosen Ansprüche der befreiten Polen die Interessen der
Ukraine bedrohen, entstand der Wunsch, ein Ukrainisches National Comitee geheim zu bilden.
[…] Das U krainische National Comitee hat verschiedene Aufgaben:
Dasselbe wird in der Lage sein, aus den verschiedenen Gruppen nennenswerte Summen für die
nationalen A usgab en aufzub ringen.
Es ist wichtig, daß v on dieser maß gebenden St elle aus der Deut schen Regierun g gegenüb er der
Wuns ch offiziell ausges prochen wird, daß die Deutsche Regierung im Falle eines Friedensschlusses dafür Sorge t ragen m öge, da ß die dem ukrainis chen Volk e durch die Russische
Regierung eingeräum ten Rech te und Z usicheru ngen erfü llt werden. S ollte die Uk raina od er ein
Teil derselben durch die verbündeten Armeen frei werden, so würde das Ukrainische National
Comitee den Regierungen bei den zu treffenden Maßnahmen beratend zur Seite stehen können.
Zur Begründung dieser Bitte muss der Vertrag von Perejaslav (1654) schon jetzt veröffentlicht
werden. Dieser Staatsvertrag sichert der Ukraina eine autonome Stellung zu unter Lehnherrschaft
des Zaren, freie Entwicklung des kulturellen und wirtschaftlichen Lebens, Freiheit der Sprache
etc. Der mit freien Stimmen in der Generalversammlung zu wählende Hetman hat sogar das Recht,
eine selbstä ndige auswä rtige Politik zu führen, G esandte zu ernennen etc.
Eine wichtige Aufgabe des Ukrainischen National Comitees liegt in der Verteidigung seiner
Interessen gegenüber den Wünschen der Polen.
Das geheime Ukrainische Nationa l Comitee wird end lich die weiter unter 2.-6. genannte Aufgabe
unterstü tzen und mitbea rbeiten. [Dies e Punkte sind am Anfang dieses Dokuments angegeben:
2. Ukrainische Propaganda in Frankreich: 3. Ukrainische Propaganda in England; 4. Ukrainische
Propaganda in katholischen Kreisen; 5. Vorarbeiten für einen Congress der verschiedenen von
Russland unterdr ückten Völker schaft en; 6. B eiträge zur Polenfrage; – d. Autor] Dasselbe wird
einen sicheren Rückhalt und Gara ntie bieten fü r das in La usanne b estehende Na chrichtenbü ro.“
Im Kontext der breit angelegten propagandistischen Aktionen erscheint auch die Organisierung der Zeitschrift „Osteuropäische Zukunft“ folgerichtig. Den direkten Zusammenhang
zwischen dem militärischen Vordringen in der Ukraine und der dadurch bedingt en Notwendigkeit breiterer spezialisierter propagandistischer Maßnahmen bestätigt auch Redaktor
Oskar Geller: „Als durch das siegreiche Vorgehen unserer verbündeten, heldenhaften
Armeen in Rußland die Ukrainafrage akut zu werden begann“, wurde Ende August die
Schaffung einer „ukrainischen Zeitschrift“ gestartet.41
40 Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes Bonn. R 20955. Bericht über die ukrainische Arbeit in der
Schweiz. 12.-20. August 1915, S. 99.
41 Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes Bonn. R 20957. Schreiben des Redaktoren Oskar Geller,
Januar 1916.
Osteuropa-Institut München: Mitteilungen 35/2000
21
Die Ende August-Anfang September durchgeführte neue Offensive in Wolhynien führte
zur Inbesitznahme der Städte Luzk und Dubno und schuf weitere günstige Voraussetzungen
für die propagandistische Arbeit bezüglich der Ukraine.
5 München, zweite Hälfte 1915 – der Kampf um die erste deutsche „ukrainische
Zeitschrift“
Die Akten des Politischen Archivs des Auswärtigen Amtes Bonn belegen, daß auch die
Schaffung einer primär den ukrainischen Angelegenheiten gewidmeten Zeitschrift (der
„Osteuropäischen Zukunft“) ihre eigene Vorgeschichte hatte, und der Name von Falk Schupp
taucht dort schon in bezug auf den Sommer 1915 auf42:
„Reda kteur Os kar L. G eller
München den 3. September 1915.
Korrespondent des
„Neues Wiener Tagblatt“.
[Schreiben an Reichstagsabgeordneten Erzberger; – d. Autor]
Hochverehrt er Herr Erzb erger
[…]
Es handelt sich nu n um Folgend es: Vor einiger Zeit t raten einige Freunde an mich hera n, ob ich
evtl. die Redaktio n einer Uk rainer-Z eitschrif t in Mü nchen üb ernehmen würde. E s liegt im
Interesse der Regierung, jetzt eine solche zu schaffen und überhaupt etwas für die Ukraina zu
unternehmen. Daß die U kraina, die ich genau kenne (ich bin ö sterreichischer U krainer), es
unbedingt verdient, von uns ganz bes onders b eachtet zu werd en, liegt auf der Ha nd. Wir hab en
hier für uns weit mehr zu erwarten als etwa von einem „Königreich Polen“, denn es ist ja nur
zu bekan nt, daß die Polen, was die führenden Kreise betrifft, durch und durch russophil sind.
[…] Tats ächlich sollen auch schon rheinische Indust rielle sich bereit erklärt haben, ein so lches
Blatt, das als Wochenschrift gedacht ist, materiell zu unterstützen, so daß es ein Leichtes s ein
dürfte, das nötige Kapital aufzubringen, die Zeitschrift zu sichern.
Als ich nun mit den eigentli chen „Machern“ zusammenkam, da wurde mir denn doch etwas
schwül zu Mute, denn an er Spitze der ganzen Geschichte standen extreme Alldeutsche, die für
ihre Zwecke Exzellenz Gebsattel gewonnen hatten, seinen Namen herzugeben. Und ich hörte
dann weiter, daß Sie selbst, verehrtester Herr Erzberger, ebenfalls daran arbeiten, ein Ukrainerblatt
zu machen.
Letztere Erwägung war für mich maßgebend! Ich kann und mag nicht mit Leuten zusammengehen, die in erster Linie sich gegen das Centrum wenden, ich kann mich unmö glich mit
42 Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes Bonn. R 209 57. Schreiben von O skar Geller an Reichstagsabgeordneten Erzberger vom 3. September 1915.
22
Osteuropa-Institut München: Mitteilungen 35/2000
Alldeutschen zusammentun und etwas für die Ukraina tun, wenn es sich dann am Ende gegen
die Regierung wendet.
Soweit mir bek annt is t, bereis t jetzt D r. Hop fen den R hein und wil l demnächs t auch na ch Berlin
kommen, um nun für das Unternehmen Stimmung zu machen und gewisse industrielle Kreise
dafür z u interessieren.
Ich persönlich, der ich die Ukraina kenne, der ich selbst Ukrainer bin, die Sprache beherrsche
und mein Herzblut dafür hergeben würde, sie aus der russischen Knechtschaft zu befreien. […]
Wenn es wirklich is t, daß Sie im Einv erstän dnis mit dem Auswärtigen Amt am Werke sind, eine
derartige Zeits chrift zu ma chen, so stelle ich mich Ihnen völlig zur V erfügung . …
Oskar G eller“
Dieses Schreiben beweist, daß das Thema einer event uellen Schaffung eines „Ukrainerblattes“ oder einer solchen Zeitschrift in München in unterschiedlichen politischen Kreisen
aktiv erörtert wurde. Redaktor Geller erwähnt zwei politische Parteien, die an der Gründung
einer „ukrainischen“ Zeitschrift Interesse gezeigt hatten. Die erste, vom Reichstagsabgeordneten Matthias Erzberger geleitete deutsche Zentrumspartei, repräsentierte vorerst die
Interessen der höheren Beamtenschaft, der großagrarischen Kräfte und des Klerus überwiegend aus katholischen Bevölkerungsgebieten und genoß deswegen einen besonderen Einfluß
in Bayern43. Das Machtzentrum des Alldeutschen Vereins befand sich in Berlin. Beide
politischen Kräfte vertraten expansive Kriegszielkonzeptionen und strebten Einfluß auf die
Verwirklichung zur Diskussion stehenden deutschen Kriegsziele an. Matthias Erzberger
organisierte das „Nachrichtenbüro des Reichsmarineamtes“ und die „Zentralstelle für
Auslandsdienst“ des Auswärtigen Amtes in Berlin.44 Der Alldeutsche Verein trat schon kurz
nach dem Kriegsausbruch für die Schaffung einer selbständigen Ukraine ein. 45
Die Vermutung von Geller, daß hinter der Schaffung der „ukrainischen Zeitschrift“ das
Auswärtige Amt stand, erfährt eine indirekte Bestätigung durch die Tatsache der gleichzeitigen maßgebenden Unterstützung der Zeitschrift „L’Ukraine“ seitens des deutschen
Außenamtes. Daß die Schaffung einer ukrainischen Zeitschrift von Matthias Erzberger ganz
ernst genommen wurde, beweisen folgende Dokumente46:
43 Vgl. Lexikon z ur Gesc hichte der P arteien in Eu ropa, S . 134 -135 .
44 Vgl. Meyers Enzyklopädisches Lexikon, Bd. 8, S. 173.
45 Alldeutsche Blätter vom 1. November 1914, zitiert nach: Zur Ukraine-Politik des deutschen Imperialismus. Protokoll einer Arbeitstagung am 23.9.1967 in Berlin. Jena 1969, S. 53.
46 Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes Bonn. R 20957.
Osteuropa-Institut München: Mitteilungen 35/2000
23
„Seine Ho chwohlgeboren
Berlin, den 1. November 1915.
Herrn Ba ron von B ergen
Berlin
Sehr geehrter Herr Baron!
In der Anlage überreiche ich Ihnen die Zuschrift der Verlagsbuchhandlu ng Müller betreffend
das Erscheinen der ukrainischen Zeitschrift. Die Herren verstehen das Geldfordern ausgezeichnet.
Mit hochachtungsvoller Begrüssung
Erzberg er, Mitglied des Reichstag es.“
Anlage:
„Berlin-Wilmersdorf den 30. Oktober 1915.
Georg Müller Verlag, München und Berlin.
Sehr geehrter H err,
Ich erlaube mir, Ihnen nochmals die Berechnung für die Propaganda-Zeitschrift nach unserer
mündlichen Überredung wie folgend zu unterbreiten […].
Als Auflagehöhe wäre hierbei allerdings die Zahl von 5000 Exemplaren vorgesehen. […]
Ergebenst Kaufmann“
Erzberger bereitete die Herausgabe der entsprechenden Zeitschrift also ziemlich sorgfältig
vor. Aus den vorhandenen Archivdokumenten ist nicht zu sehen, ob dabei auch Redaktor
Geller beteiligt wurde. In der Tat blieben aber die Bestrebungen dieser Personen ergebnislos.
Der aufs tiefste beleidigte Redaktor wandte sich mit einer Beschwerde an die höchste Instanz
des Reiches. Der Brief landete im Archiv des Auswärtigen Amtes. Er wirft etwas mehr Licht
auf die Umstände der Auseinandersetzung um die neue Zeitschrift (und höchstwahrscheinlich um die dazu gehörende Finanzierung)47:
„Reda kteur Os kar L. G eller
Januar 1916 . München.
Korrespondent des
„Neues Wiener Tagblatt“
[…] Als durch das siegreiche Vorgehen unserer verbündeten, heldenhaften Armeen in Russland
für uns Ukrainer die Ukrainafrage akut zu werden begann und wir daran denken durften, diese
Frage im S inne der verbündeten Mächte zu lösen, wandte ich mich an Dr. H einrich Schupp (auch
Dr. Falk Schupp genannt) in München, da ich wußte, daß er seit jeher ein besond eres In teresse
47 Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes Bonn. R 20957.
24
Osteuropa-Institut München: Mitteilungen 35/2000
für die slawischen V ölkerstä mme hab e. Dr. Schup p griff meine Idee, eine Ukraina- Aktion in
Deutschland ins Leben z u rufen, mit b eiden Händen a uf und füh rte mich mit dem Mün chner
Verleger J.F. Lehma nn zusam men, wo ich sp äter auch mit General von Gebs attel und Dr. Hop fen
zusammenkam. In der Unterhaltung mit diesen Herren erkannte ich bald zu meinem Entsetzen,
ich sei da in das La ger der Alldeuts chen hineingeraten, die m it ihren politisch en Zielen, ihren
unerhört en Annexion sgelüst en, den Umsiedlungsprojekten und nicht zuletzt mit ihrer Stellung
der Regierung gegen über wie mit der scharfen Bekämpfung all dessen, was sich katholisch nennt,
meinen politischen Ueberzeugungen diametral ent gegenstehen. Ich sa gte mich diesen H erren
los und wandte mich an Herrn Reichstagsabgeordneten Erzberger, in dem ich einen berufenen
Führer jener P artei verehre, der ich am allernächsten stehe.
Dank der Güte und freundlichen Verwendung Herrn Erzbergers konnte ich nach B erlin reisen
[…].
Während ich nun auf die Erledigung meiner ergebenen V orschläge noch warte, hab en inzwischen
die Alldeutschen ihre Aktion in Scene gesetzt und sind daran, unabsehbares Unheil anzustiften,
wobei es sich für den Verleger J.F. Lehmann hauptsächlich darum h andeln dü rfte, dur ch die
Herausgabe der Zeitschrift, ein Geschäft zu machen.
Vor allem haben , entgegen den aus drücklich en Wü nschen d er Regieru ng, die Alld eutschen mit
Herrn von Gebsattel an der Spitze ein Komitee gegründet, das freilich nur aus den Herren von
Geb satt el, J.F. Lehma nn und Dr. Falk Schupp b esteht . Schon d iese drei N amen s agen meh r als
genug. Augenblicklich sind diese Herren dab ei, ein „amtliches Organ der ukrainischen Freiheitsbestreb ungen ,Freie Ukraine‘“ (die Herren kennen die Ukraina so wenig und so schlecht, daß
sie immer vo n einer Uk raine sprechen) herauszugeben. Die Bezeichnung „Amtliches Organ“
wird unbedingt zu argen und schweren Missdeutungen führen müssen und überall Bedenken
erregen. […]
Bemerken möcht e ich noch, da ß Seine M ajestä t König Ludwig v on Ba yern offens ichtlich das
größt e, persönliche Interesse für die Ukraine bekundet hat, und daß ich auch Gelegenheit hatte
mit massg ebenden Herr en des Hofes über diese F rage zu sp rechen und dab ei ebenso viel Interesse
für die Sach e wie ausgesp rochene Abn eigung gegen die Alldeut schen fand.
Genehmigen Ew. Exzellenz den Ausdr uck
Meiner t iefsten E rgebenh eit, mit der ich bin
Ew. Exzellenz gehorsam ster Diener
Oskar G eller“
Der Autor dieses Briefes erscheint in seiner Darstellung nicht ausreichend objektiv, aber
er bestätigt, daß anläßlich der Schaffung einer den ukrainischen Angelegenheiten gewidmeten Zeitschrift ein Interessenkampf ausbrach, wo auf der einen Seite die „pro-berlinische“
und auf der anderen die „pro-bayerische“ politische Kraft auftrat. Auf der bayerischen Seite
soll auch der König von Bayern ein Interesse für die „ukrainische Frage“ gezeigt haben.
Osteuropa-Institut München: Mitteilungen 35/2000
25
Trotzdem erwies sich der reale Einfluß der „pro-berlinischen“ Seite als der stärkere. Man
sollte aber nicht unbeachtet lassen, daß auch die politischen Unterschiede beider an der Herausgabe einer „ukrainischen“ Zeitschrift interessierten Parteien in dieser Situation eine wichtige Rolle spielten: Die Konservativen (Verleger Lehmann und General Gebsattel) hatten
zu jener Zeit anscheinend mehr Einfluß als Erzberger, der den „halblinken“, demokratischen
Flügel des Zentrums vertrat.
Die persönlichen Erfahrungen Erzbergers in den Fragen deutscher Ukraine-Politik standen
den Kenntnissen der Alldeutschen nach. So verteidigte er kurz nach dem Kriegsausbruch
die sogenannte „austro-ukrainische“ Lösung, der zufolge die gesamte Ukraine zum Bestandteil Österreich-Ungarns werden sollte.48 All diese Umstände dürften im Kampf um die zu
schaffende Zeitschrift auch eine Rolle gespielt haben.
Wichtig ist auch, daß die Idee einer „ukrainischen Zeitschrift“ anscheinend viel früher zu
einer öffentlichen Angelegenheit wurde als die Gründung eines entsprechenden Verbandes.
(Ende Sommer 1915 entfaltete sich die Diskussion über die Zeitschrift, im Dezember wurde
die Gesellschaft „Freie Ukraine“ gegründet, und erst im Januar 1916 erschien die erste
Nummer der Zeitschrift „Osteuropäische Zukunft“.) Laut der bisherigen Geschichtsschreibung wäre die Herausgabe der Zeitschrift jedoch das Ergebnis der Tätigkeit des
Vereins „Freie Ukraine“. Die angegebenen Archivdokumente belegen, daß maßgebende
politische, militärische und wirtschaftliche Kreise Anfang der zweiten Hälfte 1915 vor allem
an dem Aufrollen der „ukrainischen Frage“ interessiert waren und für diesen Zweck ein
spezielles Presseorgan brauchten.
Der Name des Redaktors Oskar Geller, der ein so starkes Interesse für die ukrainischen
Angelegenheiten zeigte und sich sogar „Ukrainer“ nannte (obwohl sein Name weder ukrainisch, noch überhaupt slawisch klingt), taucht in den Archivakten sowie in der Literatur
und in den Quellen zu den deutsch-ukrainischen Wechselbeziehungen nachher wie vorher
nicht mehr auf.
6 Deutsche Eliten und die Gründung des Verbandes „Freie Ukraine“
Obwohl die Diskussionen, Vorbesprechungen und auch einige Vorbereitungen zur Gründung
einer Ukraine-Zeitschrift in München verliefen, fand der entscheidende Schritt zu diesem
Ziel in Berlin statt49:
48 Vgl. R E M E R Die Ukrain e im Blickfeld deu tscher Inter essen, S . 177 . Der A DV hielt außer dem auch die
Schaffung eines selbständigen ukrainischen Staates für möglich.
49 Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes Bonn. R 20957. Schreiben des Generalsekretärs der „Freien
Ukraine“ Dr. Schupp an das Auswärtige Amt vom 9. Dezember 1915.
26
Osteuropa-Institut München: Mitteilungen 35/2000
„,Freie Uk raine‘
Berlin den 9. Dezember 1915
Verband deutscher Förderer der ukrainischen Freiheitsbestrebungen, Sitz München.
Geschä ftsstellen M ünchen
Hohes Auswärtiges Amt
Berlin, Wilhelmstrasse 76.
Im Auftrag e der Vorst andschaf t des Verb andes deuts cher Förder er der ukrainischen Freiheitsbestreb ungen ,Freie Uk raine‘ ha be ich die Eh re, in der A nlage 5 Ehrenka rten zur wissens chaftlichen Eröffnungssitzung am Samstag den 11 . Dezember ganz ergebenst zu überreichen. […]
Generalsekretär der ,Freien Ukraine‘, Falk Schupp“
Besonders wichtig erscheint in dieser Einladung die Unterschrift „Generalsekretär der ,Freien
Ukraine‘“ im Zusammenhang mit dem Datum dieses Dokuments, dem 9. Dezember. Da
die „Eröffnungssitzung“ erst zwei Tage später, am 11. Dezember, stattfinden sollte, beweist
diese Unterschrift gemeinsam mit der ebenda erwähnten Bezeichnung „Vorstandschaft des
Verbandes“, daß die Führungspersonen der „Freien Ukraine“ noch vor der offiziellen
Gründung des Verbandes ihre Verbandsposten bekleideten.
Den 11. Dezember bezeichnet als Gründungsdatum auch der Vorstandsleiter dieses
Verbandes General Gebsattel.50 Das Auftreten von Dr. Schupp als Generalsekretär (und
seiner nicht genannten Kollegen als Vorstandsmitglieder) am 9. Dezember bedeutet, daß
die Leitung des Vereins „Freie Ukraine“ im voraus ernannt worden war.
Auch der Text der Einladungskarten beweist, daß die leitenden Prinzipien der künftigen
Tätigkeit des Verbandes zum 9. Dezember schon längst formuliert wurden51:
„,Fr eie Ukraine‘ nennt sich der Verband deutscher Förderer der ukrainischen Freiheitsbesterebungen, der sich jetzt mitten im Weltkrieg gebildet hat und sich hierdurch die Ehre gib t, Sie
zu seiner ersten wissenschaftlichen Veranstaltung ergebenst einzuladen. […]
Das größte der Fremdvölker, welches sehnlichst seine Befreiung von dem moskowitischen Joche
erhofft, ist das Volk der Ukrainer, das dreißig Millionen Menschen zählt. Sein Gebiet erstreckt
sich von der galizisch-russischen Grenze bis zu den Gestaden des Schwarzen Meeres. Einst hatte
die Ukraine ein blühendes nationales Leben in eigenen Staatswesen. Einer ihrer Nationalhelden,
der Hetman Mazepp a, ist eine weltgeschichtliche Persönlichkeit, ihr Volksd ichter, zugleich der
Wiederhers teller ihrer Freiheitsbestrebungen Tara s Schewts chenko, ist ein C harakterk opf der
osteuropäischen Literatur.
Unser Standpunkt erfordert nun, daß durch das Freiwerden dieses kräftigen Fremd-Volkes
Russland vom Schwarzen Meer abgedrängt und ihm die Möglichkeit genommen wird, durch einen
50 Vgl. B OROWSKY Deutsche Ukrainepolitik 1918, S. 40.
51 Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes Bonn. R 20957.
Osteuropa-Institut München: Mitteilungen 35/2000
27
neuen Völkersturm unsere Kultur und die unserer österreichisch-ungarischen, türkischen und
bulgaris chen Bundesgenossen zu bedrohen. Ausserdem führt durch eine freie Ukraine der nächste
Weg von Berlin über Breslau, Lemberg nach Odessa, von da zum Persischen Meer, und zur
künftigen Ueberlandbahn nach Indien.
[…]
Die Vorst andschaf t der ,Freien Uk raine‘.
I.A. Freiherr K. v. G ebsatt el, General der Ka vallerie z.D., Vor sitzender.“
Wie man diesem Text entnehmen kann, strebten die Angehörigen des Verbandes die
Lostrennung der Ukraine vom Russischen Reich an und anerkannten das Recht der Ukrainer
auf ein eigenes St aatswesen. Der Wert einer freien Ukraine wurde darin gesehen, daß sie
Deutschland gegen die „russische Gefahr“ unterstützen und den Weg zum Orient zur
Verfügung stellen sollte.
Diese militärisch-politischen Ziele wurden auf der höchsten staatlichen Ebene ausgearbeitet
und widerspiegelten die Wandlungen der Kriegsstrategie aufgrund entscheidender strategischer Faktoren. So war die deutsche Staatsführung in der zweiten Hälfte 1915 mit der
Tatsache konfrontiert, daß die Ernte in jenem Jahr nur gut die Hälfte der vorjährigen Ernte
betrug.52 Man darf nicht ausschließen, daß der „Ernährungsfaktor“ schon in der damaligen
Phase des Krieges für die deutsche oberste Staats- bzw. Militärführung als immer wichtigerer
Faktor der Kriegsstrategie wahrgeno mmen wurde. Diese These befürwortet eigentlich auch
C. Remer in seiner Bemerkung, daß die Initiative des Kriegsministeriums zur Schaffung
des Verbandes „zeitlich in etwa zusammen mit der sogenannten Weihnachtsdenkschrift 1915
von Generalstabschef Falkenhayn [fiel], der zu der Überlegung gelangte, daß im Falle eines
weiteren militärischen Vormarsches im Osten (für den er nicht war) nur der Einmarsch „in
die reichen Gebiete der Ukraine“ in Betracht käme.“53
Die Führung des Verbandes schloß sich in bezug auf die „ukrainische Frage“ der Zielsetzung folgender deutscher und ukrainischer Politiker, Wissenschaftler und Publizisten an54:
Longin Cehelskyj, Georg Kleinow, Wladimir Kuschnir, Michael Lozynskyj, M.Hruschewskyj, Otto Keßler, Eugen Lewicky, Stefan Rudnyckyj, Rudolf Stübe.
Zwei deutsche Verfasser dieser Liste, Otto Keßler und Rudolf Stübe, keine bekannten
Kenner der ukrainischen Angelegenheiten, waren aber zu jener Zeit gemäßigte Anhänger
der Idee einer eigenständigen Ukraine. Georg Kleinow, ab Dezember 1914 Leiter der
52 Geheimes Staatsarchiv, Preußischer Kulturbesitz Berlin. Hauptabteilung I, Repositur 89. Königliches
Geheimes Zivilkabinett. A ktennumm er 15 376 , S. 2 19. Wirtschaftliche Lage und Volkseinigkeit .
Kundgebung der Freien Vaterländischen Vereinigung im Abgeordnetenhause am 13. Mai 1916. Rede des
Ökonomierates Dr. Hö sch, Mitglied des Haus es des Ab geordnete n. Berlin 1 916 : „Unse re letzte Ernte
stellte sich ab er beda uerlicherw eise wie nich t ganz 3 zu 5 gegenü ber der vorjährige n Ernte da r.“
53 R EMER Die Ukraine im Blickfeld deutscher Interessen, S. 296.
54 Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes, Bonn. R 20957.
28
Osteuropa-Institut München: Mitteilungen 35/2000
Presseverwaltung des Oberkommandos Ost und Fachmann in der deutschen Polenpolitik,
entwickelte noch Ende 1914 dazu seine Vorstellungen zu Übergabe ukrainischer Territorien
an den wiederherzustellenden polnischen Staat.55
Der Redaktor Wladimir Kuschnir (Wien) und der Historiker und Führer der RadikalDemokratischen Partei in der russischen Ukraine Professor Mychajlo Hruschewskyj waren
dem deutschen Ostexpert en, Historiker und Vorstandsmitglied des Deutschen OstmarkenVereins Otto Hoetzsch gut bekannt Kuschnir unterhielt auch fachliche Beziehungen zum
Auswärtigen Amt in Berlin noch aus der Vorkriegszeit.56
Ukrainische Politiker und Publizisten wie der Reichsratsabgeo rdnete Dr. Longin Cehelskyj,
Dr. Michael Lozynskyj, der Reichsratsabgeordnete Dr. Eugen Lewicky und Priv.-Doz. Dr.
Stefan Rudnyckyj waren entschiedene Verfechter der Idee der Schafffung eines ukrainischen
Staates; L. Cehelskyj, E. Lewicky und S. Rudnyckyj waren Mitglieder des Bundes zur
Befreiung der Ukraine.57
Während der Eröffnungssitzung trat der Vorsitzende der „Freien Ukraine“ Gebsattel mit
einer Eröffnungsansprache und einem Geleitwort auf. In dieser Programmrede nannte er
die Ziele des Verbandes, zu welchen die Informierung der deutschen Öffentlichenheit über
die ukrainischen Angelegenheiten und die wirtschaftliche Bedeutung der Ukraine sowie
die Unterstützung des Bundes zur Befreiung der Ukraine gehörten. Als Endziel bestimmte
Gebsattel das Erreichen der Autonomie der Ukraine. Zur wirtschaftlichen Bedeutung der
Ukraine hielt Reichsratsabgeordneter Dr. Eugen Lewicky einen speziellen Vortrag, der mit
Lichtbildern begleitet wurde. Wahrscheinlich zum ersten und letzten Mal behandelte
Dr. Schupp in einem Vortrag das Thema „Die Volkskunst der Ukrainer“, auch unter Einsatz
von Lichtbildern.
Diese Veranstaltung fand im Verhandlungssaal des preußischen Abgeordnetenhauses statt,
das Publikum bestand aus Vertretern des Staatsapparats, der Militärführung, der Industrie-,
Handels- und Finanzelite, aus Abgeordneten des Reichstags und des preußischen Herrenhauses.
Die Zeitschrift „Osteuropäische Zukunft“ berichtete, welche Unterstützung der Verband
„Freie Ukraine“ in der deutschen Elite genoß. Auf der Vorstandssitzzung am 27. Januar 1916
wurde verkündet, daß der Verband zu jener Zeit 125 Mitglieder hatte, darunter folgende
einflußreiche Personen bzw. Organisationen: Kavallerie-General z.D. Freiherr von Gebsattel,
Staatsmnister z.D. Dr. von Richter, General der Infanterie z.D. Siemens, Staatsminister z.D.
Dr. von Hentig, Wirklicher Geheimrat Graf Moltke, Geheimer Kommerzienrat Dr. Ing.
55 Vgl. R EMER Die Ukraine im Blickfeld deutscher Interessen, S. 174, 290.
56 Vgl. R EMER Die U kraine im B lickfeld deutscher Interessen, S. 161; vgl. auch: Central’nyj Derz4 avn yj
Istory… nyj Archiv Uk raïny, Kyïv. Fond 123 5 M.S . Hruševs ’koho.
57 Vgl. H ORNYKIEWYCZ Ereignisse in der Ukraine 1914-1922. Bd. I. Personen- und Sachregister.
Osteuropa-Institut München: Mitteilungen 35/2000
29
Kirdorf, Direktor der Friedrich Krupp AG Dr. A. Hugenberg, Bergrat Dr. Frech, Mitglied
des Reichstags Major Bassermann, Schuldirektor Dr. Carl Horn, Geheimer Hofrat Dr.
W. Rolfs, Freiherr von Ungern-Sternberg, Sanitätsrat Dr. Sarason, Baltischer Vertrauensrat
Berlin, die Handelskammern von Frankfurt am Main und anderen deutschen Städten. 58
7 Die Spezialmissionen des Münchener Zahnarztes Dr. Heinrich Schupp – von der
Balkan-Politik zur „ukrainischen Aktion“
Da die „Osteuropäische Zukunft“ im J.F. Lehmanns Verlag in München herausgegeben
wurde, sind Akten des Pressereferats des königlichen bayerischen Kriegsministeriums des
Bayerischen Hauptstaatsarchivs München, Abteilung Kriegsarchiv, zum logischen Forschungsziel geworden.
Archivdokumente aus dieser Abteilung beweisen, daß Dr. Falk Schupp nach wie vor der
Gründung des Verbandes „Freie Ukraine“ als Zahnarzt und Eigentümer einer Zahnklinik
in München gut bekannt war59:
„Akten des K. Kriegsministeriums.
München 10.III.1916.
Presse während des Krieges.
Abschrift.
Betreff: […] Osteuropäische Zukunft
[…] zur Fes tstellun g beim Verlag L ehmann , ob der a ls verantwortlicher Schriftleiter (der Osteur.
Zukunft zeichnende) Dr. F alk Schupp , der in den beiden ersten Nummern Berlin als Wohnort
angibt, nunmehr tatsächlich in Berlin wohnt.
Abt eilung V I.
Gez. R amer.“
„Herr Dr. Falk Schupp ist in seinem Fach Zahnarzt, wohnt ständig hier Sonnenstraße Nr. 24 und
übt da auch seine Praxis aus. […] D ie Tätigkeit als Sch riftleiter d er osteu r. Zukun ft ist ein
Nebenberuf.
Am 12. III. 1916.
Gez. Stiegler,
Bezirksk ommiss är.“
„[…] Das Redaktions-Lokal für die osteur. Zukunft befindet sich in Berlin, und das K. Preuss.
Kriegsministerium, Prinz Albrechtstraße 3, hat R äume hiez u zur V erfügu ng gest ellt [… ]. Er [d.i.
58 Vgl. R EMER Die Ukraine im Blickfeld deutscher Interessen, S. 297.
59 Bayerisches Hauptstaatsarchiv Abteilung IV (Kriegsarchiv). MKr 13875.
30
Osteuropa-Institut München: Mitteilungen 35/2000
Dr. Falk Schupp; – d. Autor] wird auf Kriegs dauer in Berlin wohnha ft bleiben un d erst nach d em
Krieg wieder nach München zu seiner Familie zurückkehren.
Am 15. III. 1916.
Gez. Stiegler,
Bezirksk ommiss är.“
Aufgrund dieser Mitteilungen kann man also feststellen, daß die Tätigkeit des Verbandes
und der Redaktion unter besonderer Begünstigung der obersten Militärführung und natürlich
nicht zuletzt auch in deren Interesse erfolgte. Sonst wäre es absolut unmöglich, während
des Krieges in dem Gebäude von besonderer Bedeutung Räumlichkeiten zur Verfügung
gestellt zu bekommen. Die Angehörigen der Redaktion müssen auch besonderes Vertrauen
seitens der Staats- und Militärführung genossen haben, wenn sie Zutritt zu einem strategisch
so wichtigen Gebäude hatten.
Die medizinische Tätigkeit von Dr. Schupp wird auch in den Akten des Bestandes
„Freiwillige Zahnärzte“ des Kriegsarchivs München geschildert. Ein Schreiben des Herrn
Dr. Schupp eröffnet eine unbekannte Seite seiner nebenberuflichen Tätigkeit: „eine politische
Mission im Balkan im Auftrag des Auswärtigen Amtes – Berlin“.60
Eine Episode in der beruflichen Laufbahn dieser merkwürdigen Persönlichkeit, des
politisch engagierten Zahnarztes Schupp, wie diese „politische Mission im Balkan“ gibt
Anlaß zu der Vermutung, daß seine politischen Erfahrungen, die in der bisherigen deutschen
Forschungsliteratur erst für die Zeit ab 1915 nachgewiesen worden sind, eine besondere
Entwicklung erlebten. Die Antwort auf die Frage nach der Tätigkeit des Herrn Dr. Schupp
während seiner Balkanmission liegt in den Akten des Politisches Archiv des Auswärtigen
Amtes, Bonn. Folgende Berichte deutscher diplomatischer Vertretungen in Bulgarien werfen
Licht auf die dortigen Aufgaben von Dr. Schupp61:
„Kaiserlich
Sofia, den 9. November 1914.
Deutsche Gesandtschaft
Geheim!
Seiner Exzellenz
Dem Reichs kanzler
Herrn von Bethmann Hollweg.
Die verschiedenen Spezialmissionen der Herren Dr. Vollberg, Schupp, Engelhardt, Professor
Straus e, Baron vo n Dungern ( Reichsma rineamt) un d ihre mannigfa ltigen Bemü hungen, einen
Einfluß auf die leitenden Kreise und die öffentliche M einung zu gewinnen , haben einen
60 Bayerisches Hauptstaatsarchiv, Abteilung IV (Kriegsarchiv). MKr 13762.
61 Politisches Archiv de s Auswä rtigen Amte s Bonn. R 212 05.
Osteuropa-Institut München: Mitteilungen 35/2000
31
nennenswerten Erfolg nicht gehabt. […] Von den haupt städtis chen Zeitungen ha be ich in den
letzten Monaten drei mit laufenden Unterstützungen versehen und z ugleich auf sie durch
Einhändigung von deutsch en Zeitungen an ihre Report er, durch regelmäß ige Mitteilung d er
amtlichen Telegramm e, sowie durch gelegentliche A rtikel in unserem Int eresse eingewirkt. D ies
genügte wohl, um eine uns wohlwollende Stimmung zu fördern und zu erhalten, aber nicht um
die leitenden Kreise, den König sow ohl die Regierung, z u einem aktiven E ingreifen unseren
Interessen gemäß zu ermutigen. […]“
[Unterschrift]
In welcher Weise der „Einfluß auf die leitenden Kreise und die öffentliche Meinung“ zu
gewinnen war, berichten nächste Dokumente62:
„An den Vorsitz enden des Kultur bundes
Berlin, den 20 November 1914
deutscher G elehrter und Kü nstler,
Herrn Geheimrat Obermedizinalrat
Professor Dr. Waldeyer, Hochwohlgeboren.
Streng vertraulich!
Sehr verehrter Herr Geheimrat!
In unseren letzt en Besp rechung wurde die M öglichkeit einer deutschen A ktion unter den
Intellektuellen Bulgariens erwähnt, wora uf sich auch ein Schreiben Ihres Herrn Geschäftsführers
an den Herrn Gesandten von Bergen vom 19. d.M. bezieht.
Ich habe nicht erm angelt, mit den H erren der politis chen Abteilun g des Aus wärtigen Am tes
Rücksprache zu nehmen. Dort hat man darauf hingewiesen , daß d ie gegenwärtige politische Lage
bei Unternehm ungen in Bulga rien eine besonder e große Beh utsamk eit erfordere. Eb enso hat a uch
der Kaiserlich e Gesa ndte in S ofia drin gend emp fohlen, vo n allen So nderakt ionen dor tselbs t bis
auf weiteres abzusehen. Herr Dr. Schupp, der erst neulich in Bukarest weilte, ist daher seitens
des Aus wärtigen Am tes gebeten worden, vorläuf ig nicht nach So fia zurück zukehren.“
[Unterschrift]
Aus diesem Brief kann man deutlich sehen, daß der deutsche Einfluß in Bulgarien mittels
der Arbeit unter den örtlichen Intellektuellen auf dem Gebiet von Wissenschaft und Kultur
erreicht werden sollte. In dieser Hinsicht könnte man über eine Besonderheit deutscher
Außenpo litik sprechen: der Gewinnung von politischem Einfluß im Ausland durch
„Sonderaktionen auf dem Gebiet der Kultur“. Daß solche „Sonderakt ionen“ und „Spezialmissionen“ von höchster staatlicher Bedeutung waren, wird durch die ständige Informierung
der höchsten Staatsführung bewiesen.
62 Politisches Archiv de s Auswä rtigen Amte s Bonn. R 212 05.
32
Osteuropa-Institut München: Mitteilungen 35/2000
Die nächsten diplomatischen Berichte illustrieren, mit welchen konkreten Methoden
Dr. Schupp seine Aufgaben in Bulgarien erfüllen wollte:
„Kaiserlich
Sofia, den 27. November 1914.
Deutsches Konsulat.
Seiner Exzellenz
Dem Reichskanzler
Herrn Dr. von Bethmann Hollweg.
Euer Exzellenz beehre ich mich beifolgend Übersetzung einer mir von dem hiesig en Recht sanwa lt
Assen Zankow zugegangenen Eing abe mit dem Anheimst ellen der hochgeneigten weiteren
Veranlassung gehorsamst zu üb erreichen.
Der in der Eingabe erwähnte Dr. Schupp hat vor etwa Monatsfrist unter Berufung auf eine
halbamtliche Missio n im Konsula t vorgesp rochen und dab ei erklärt, daß er unter an deren die
Gründung einer deuts chen Zeitu ng in Sof ia beziehungsweise die Verbesserung und Umgestaltung
der hier erscheinenden „Bulgarischen Handels-Zeitung“ anstrebe und daß er sic h zu diesem
Zwecke bereits mit dem Redakteur dieser Zeitung , Herrn Bernhard Cohn, in Verbindung gesetzt
habe. Auf seinen Antrag um Namhaftmachung eines Rechtsanwaltes sind ihm zwei hiesige
Rechtsanwälte, darunter der Antragsteller Zankow, bekannt worden.
Darüb er hinaus ha t eine Mitwirku ng des Kons ulats in den A ngelegenheiten des Dr. Schupp nicht
stattgefunden. […].
Konsul.“ [Unterschrift]
Daß die Mission von Dr. Schupp einen „halböffentlichen“ Charakter trug, verursachte einige
Schwierigkeiten, infolge derer seine Arbeit in Bulgarien abgebrochen werden mußte. Den
aufgrund dessen mit seinem Anwalt entstandenen Mißverständnissen verdanken wir
wahrscheinlich, daß wichtige Dokumente über die in Bulgarien geplante Akt ion an die
deutsche Botschaft kamen und als bis heute einziges unmittelbares Zeugnis der Arbeit von
Dr. Schupp erhalten blieben:
„Kaiserlich
Sofia, den 28. November 1914.
Deutsche Gesandtschaft
Seiner Exzellenz
Dem Reichs kanzler
Herrn von Bethmann Hollweg.
Euer Exzellenz beehre ich mich anbei einen Bericht des Kaiserlichen Konsuls [...] vom 27. d.
Mts. betreffend eine Forderung an Dr. Schupp nebst Anlagen einzureichen. Dr. Schupp hat sich
hier mit allerlei dunklen Ex istenzen eingelas sen, die Polizei war a uf ihn aufmer ksam gew orden,
es kamen unb equeme Anf ragen an die G esandsch aft und es wurde Zeit, daß er von hier ver-
Osteuropa-Institut München: Mitteilungen 35/2000
33
schwand. Da er selbst s ich in seiner p ersön lichen Sicher heit bed roht gla ubte, s o war ihm die
Abreise erwü nscht; nu r braucht e er zur Ab wicklung seiner hier eingega ngenen Verbindlichkeiten
und zur Deckung der Reis ekosten die Su mme von dreit ausend Lewa , die ihm nach eingeholter
Ermächtigung Euer Exzellenz von der Gesandschaft ausgezahlt worden sin d. Er hä tte als o die
Pflicht gahabt, von dem Betrage seinen Anwalt zu bezahlen.
Botschafter.“ [Unterschrift]
„Anlage 3.
Kaiserlich
Sofia, den 5/18. November 1914.
Deutsches Konsulat
Übersetzung!
Assen Zankow
Advokat
An das Kaiserlich Deuts che Konsu lat Sof ia
Vor mehr als Monatsfrist erschien bei mir auf Empfehlung des Kaiserlichen Konsulats Herr Dr.
Heinrich Schupp, damit ich ihm juristische Ratschläge erteile und ihm einige Papiere vorbereite
betreffend ein Unternehmen, das er mit Herrn B. Cohn, Redakteur der Bulgarischen HandelsZeitung, abzuschliessen beabsichtigte. Ich habe die mir übertragene Arbeit erledigt, aber Herr
Schupp ist bis heute nicht bei mir erschienen, um die Papiere abzuhohlen und mir das zukommende Honorar zu bezahlen. […]
Hocha chtungs voll:
A. Zanko w.“
Daß Dr. Schupp in diesen Dokumenten als Dr. Heinrich Schupp auftritt, gibt Anlaß zu
mehreren Fragen, die infolge weiterer in München durchgeführter Archivforschungen
beantwortet wurden.
Die wichtigsten Besonderheiten des Presseprojekts von Dr. Schupp kommen im bulgarischen Originaltext des Vertrags deutlich zum Ausdruck:
„ !FX>X O">8@&X
!*&@8"HX
E@L4b – J:.A"DR,&4RX m 49.
)?'?%?CW
;,0*J „ #":8">F8@H@ !8P4@>,D>@ )DJ0,FH&@ 2" ?$b&4 4 3>L@D<"P4“ &X E@L4b,
BDX*FH"&:b&">@ RDX2 >,(@&4b BDX*FH"&4H,:\ (->X, B@-*@:J FX8D"H,>@ @$@2>"R"&">@ FX #.!. /%.!./ 4 (- > )-DX M"6>D4NX SJBX, @HX ;`>N,>X, B@ >"FH@bV,<X &X
34
Osteuropa-Institut München: Mitteilungen 35/2000
E@L4b, B@- *@:J FX8D"H,>@ @$@2>"R"&">@ FX )-DX F, F8:`R&" >"FH@bV4b *@(@&@DX.
§1
#.!. , FH@B">8" 4 BX:>@BD"&>" FHJB">8" >" 42*"&">4b @HX 22 (@* &X E@L4b &XFH>48X „ #X:("DF84 GXD(@&F84 %XFH>48“, 8@6H@ 42:42" ,0,*>,&>@ &F,84 *X>\ @HX
F,*<4P"H".
[…]
§3
)-DX B@,<" &,DN@&>@H@ DJ8@&@*FH&@ >" &XFH>48", 8@6H@ 2" >"BDX*X V, >@F4 4<,H@ „ #X:("DF84 %,FH>48X“ 4 V, @BDX*X:b B@ F&@, JF<@HD,>4, FX*XD0">4,H@ 8"8H@ >" D,*"8P4@>>"H", H"8" 4 >" "L4T>"H" R"FH\, " FJV@ 4 PX>4HX >" "$@>"<,>H"
4 @$b&:,>4bH". )-DX &X>X @H H@&" V, @BDX*X:b, 8@(" 4 8"8X, 8@:8@ BXH4 4 >" 8"8X&X ,248X V, 42:42" &XFH>48".
[…]
§9
?$"R, H@b *@(@&@DX V, &:,2, &X F4:" F"<@ H@("&", "8@ $J*, J*@$D,>X @HX (->X
;">,F<">X – #,D:4>X :4R>@ 4:4 RDX2X BD"&>4b F4>*48JFX >" 8@>F@DP4J<" ;">,F<"> "*&@8"H" 4 >"H"D4JFX )-DX SBD4>(,DX, #,D:4>X – #D,<,>X, F:X*X H,:,(D"L4R,F8@H@ FX@$V,>4, >" (:"&>4HX BJ>8H@&, >" 8@>HD"8H". […]
(D. E@L4b, 27 F,BH,<&D4 1914 (@*.“
Laut diesem Text vom 27. September 1914 sollte ein Vertrag zwischen der „Balkanischen
Aktiengesellschaft für Information“ in Sofia und Dr. Heinrich Schupp aus München abgeschlossen werden. Die Aktiengesellschaft sei Eigentümerin des in Sofia erscheinenden
Tageblattes „Bulgarische Handelszeitung“. Herr Dr. Schupp übernimmt die Leitung dieser
Zeitung und bestimmt die Tätigkeit der Redaktions- und Werbungsabteilungen, sowie die
Preise des Abonnements und der Werbeanzeigen. Außerdem entscheidet Dr. Schupp, wann
und wie, zu welchem Preis und in welchen anderen Sprachen die Zeitung noch herausgegeben werden sollte. Dieser Vertrag sollte nach der persönlichen Bewilligung des Herrn
Mannesmann aus Berlin oder des Rechtsanwalts des Konsortiums Mannesmann, Dr.
Springer, Bremen-Berlin in Kraft treten.
Es ging also tatsächlich um die vollständige Kontrolle dieser Zeitung, aber einige persönliche und (oder) geschäftliche Auseinandersetzungen mit anderen deutschen handelnden
Personen in Sofia unterbrachen die Verwirklichung der Pläne von Dr. Schupp.
Die „politische Mission im Auftrag des Auswärtigen Amtes“ in Bulgarien wirft die Frage
der möglichen Exist enz einiger Wechselbeziehungen zwischen der Balkan-Episode im
Lebenslauf von Dr. Schupp einerseits und der Beteiligung des Donau-, Balkan- und Schwarzmeerländerverbandes „Dubvid“ an der Herausgabe der Zeitschrift „Osteuropäische Zukunft“
Osteuropa-Institut München: Mitteilungen 35/2000
35
andererseits auf. Das im Staatsarchiv München aufbewahrte Archiv dieses Verbandes belegt,
daß der Stifter und Vorstandsleiter dieses Vereins niemand anderes als derselbe Dr. Falk
Schupp.
Dieser Umstand macht es möglich, nicht nur eine Parallele zwischen der Tätigkeit des
Verbandes „Dubvid“ und der des Verbandes „Freie Ukraine“ zu ziehen, sondern auch die
berufliche Laufbahn und die individuellen Methoden Falk Schupps gründlicher zu analysieren. Die Archivakten führen uns in das Jahr 1913 zurück63:
„Dr. Schupp
23.V.1913
Königliche Polizeidirektion München, Abteilung Vereinswesen.
[…] Der ergebenst unterfertigte beehrt sich anzuzeigen, daß er das Präsidium des neugebildeten
Vereins „Dubvid, Donau- und Balkanländerverein in Deutschla nd, eingetragener Verein“
überno mmen hat. Die Vorstandschaft besteht ausserdem aus Herrn Dr. C.-A. Raschke, Privatlehrer, Pension Abazzia, als Generalsekretär und Herrn Josef Haustein, Redakteur, Feldmoching,
als II Sekretär und Kassierer, Herrn August Selten, Kaufmann, Arnulfstr. 26 . als Beisitz er. Der
Verein is t unpo litisch un d auch in r eligiöser Hinsich t neutra l.
Dr. Schup p.“
Die in diesem Ansuchen angegebenen kulturellen und wissenschaftlichen Zwecke der
Gründung dieser Organisation erinnern eindeutig an dieselben offiziell verkündeten Aufgaben der Sondermission des Dr. Schupp in Bulgarien im Herbst 1914, also über ein Jahr
später. Der für die Gesellschaft „Dubvid“ vorgesehene Tätigkeitsbereich sollte in Wirklichkeit nicht nur auf die rein wissensschaftliche Ziele beschränkt werden. Das beweist z.B. das
folgende Dokument:64
„Zahnarzt
München, 5. VI. 1913.
Dr. Schupp
Königliche Polizeidirektion München, Abteilung Vereinswesen.
[…] D ie Mitglieder [des Verbandes „Dubvid“ ; – d. Autor] werden zunächs t unter den deut schen
Fabrika nten und Kaufleuten geworben, die nach den beteiligt en Ländern ges chäftliche Interess en
haben. Daß dies e Interessen seh r groß s ind, hat sp eziell unserer bayeris chen Indus trie der Balkankrieg auf einmal mit erschreckender Deutlichkeit gezeigt. Nur durch bessere Kenntnis der
Balkanlä nder aber kö nnen wir unserer Industrie die Möglichkeit erschließen, an Stelle der verloren
63 Staatsarchiv Münc hen. Pol. D ir. Mün chen 57 3. Schr eiben des Dr. Sc hupp a n die Polizeid irektion
München über Ziele des Vereins des Dona u –und Balkanländervereins in Deutschland – „Dubvid“ vom
23. Mai 1913.
64 Staatsar chiv München. Pol. Dir. Münc hen 573. Schreiben des Dr. Schupp an die Polizeidirektion
Münc hen vom 5 . Juni 191 3.
36
Osteuropa-Institut München: Mitteilungen 35/2000
gegangenen Verbindungen neue anzuknüpfen. Wir waren mit und durch Österreich seither die
Haupt lieferanten für die europ äischen Pro vinzen der T ürkei und m üssen n un sehen, durch
Verstärkung unserer wiss enschaftlichen B eziehungen uns diese Ab satzgeb iete wieder zu eröffnen.
[…]
[Gezeichnet ; – d. Aut or] Schup p.“
In der Rhetorik von Dr. Schupp bedeutete die Stärkung wissenschaftlicher und kultureller
Kontakte also in Wirklichkeit das Durchsetzen der wirtschaftlichen Interessen Deutschlands
beziehungsweise Bayerns auf dem Balkan. Wie ungefähr ein Jahr später in Sofia sollte die
Tätigkeit auf dem Gebiet der Kulturkontakte als ein Mittel zur Erreichung anderer Ziele
dienen. Konkretisiert wurden diese Ziele in einem Exposé zur geplanten Gründung des
Museums für Donauhandel in Regensburg65:
„,Dubvid‘
München 11. Juli 1913.
Polizeidirektion M ünchen
Exposé
[…] In erster Linie soll er den auf unse ren Ex port n ach den un teren Do naulän dern ung ünst ig
einwirkenden Bestr ebungen Frank reichs ent gegenarb eiten, das die neuen Anleihen nur unter fast
unerfüllba ren Bedingungen zu Gunsten der Abnahme französischer Industrieprodukte an jene
Staaten begeben will. […]
Dr. Schup p.“
Man kann sich kaum vorstellen, wie ein Museum im Konkurrenzkampf um einen strategischen Absatzmarkt seinen Einfluß auf die wirtschaftlich-politische Situation auf dem Balkan
ausüben sollte. Die Vermutung, daß die Museumstätigkeit eher als ein Deckmantel für die
Erreichung von Aufgaben benutzt wurde, die weit über rein kulturelle Zwecke hinausgingen,
erfährt weitere Unterstützung in den nächsten Archivdokumenten. Mehr über die Ziele des
zu schaffenden Museums in Regensburg schreibt Zahnarzt Dr. Schupp in seiner Denkschrift
an die Königliche Bayerische Polizeidirektion München vom 29. Oktober 1913. 66
Er betont, daß Deutschland seit 1911 keinen Einfluß auf die Festlegung der Tarife auf der
Donau habe, nachdem Österreich die Aktien der „Süddeutschen Donauschiffahrtsgesellschaft“ eingelöst habe. Eine solche Situation sei weder aus der Sicht der Nationalwürde des
Reiches, noch aus der Sicht des deutschen Handels tragbar, weil sie Deutschland in eine
zu große Abhängigkeit von ihrem Bündnisstaat stelle. Im Krieg mit einer Weltmacht wie
65 Staatsarchiv München. Pol. Dir. Münc hen 573. Expos é zur Gründung des Museum s für Donauhandel in
Regensburg.
66 Staatsar chiv München, Pol. Dir. München 573. Schreiben an die Königliche Polizeidirektion München,
Abteilung Vereinswesen. Darstellung der Hauptaufgaben des Vereins „Dubvid“, 29. Oktober 1913.
Osteuropa-Institut München: Mitteilungen 35/2000
37
England oder Frankreich könne die Handelsflotte auf der Donau unerwartet größte Bedeutung erlangen, weil Rumänien und Bulgarien die bedeutsamsten Lieferanten von wichtigsten
Rohstoffen für die deutsche Volkswirtschaft wie Getreide, Mais und Erdölprodukte, nämlich
Benzin, Beleuchtungsöl (Kerosin) und Treiböl, seien, die auf dem Donauweg nach Deutschland transportiert würden. Wenn man berücksichtige, daß der Transport dieser Produkte
nach Deutschland ausschließlich auf dem Seeweg erfolge und deswegen durch die kräftemäßige Überlegenheit der feindlichen Flotten leicht zu blockieren sei, sei es unverzichtbar,
daß der strategische Handelsweg über die Donau auf seiner gesamten Länge unter vollständiger Kontrolle seitens deutscher Bündnispartner stünde. Um die Lage zugunsten
Deutschlands zu verbessern, sei es höchst wünschenswert, ein Handelsmuseum in Regensburg aufzubauen.
Diese Darstellung von strategischen Faktoren staatlicher Bedeutung zeigt überzeugend,
daß Dr. Schupp die lebenswichtigen Aufgaben Deutschlands im südosteuropäischen Raum
vertraut waren. Die Abwehr der französischen Bestrebungen in diesem Teil Europas und
die Wiederherstellung der deutschen Kontrolle auf dem Handelsweg Donau konnten kaum
im Rahmen der Arbeit eines Museums verwirklicht werden. Die von Dr. Schupp bezeichneten Aufgaben entsprechen eher den Wirkungsmöglichkeiten des Auswärtigen Amtes in
Berlin.
Die bayerische Polizei beobachtete die Tätigkeit des Verbandes „Dubvid“ und sammelte
Informationen zur Persönlichkeit von dessen Vorstandsvorsitzenden. Folgende Materialien
illustrieren, daß die Polizei in München in dieser Hinsicht gut informiert war: „Dr. Schupp
ist auch durch literarische Tätigkeit, als hervorragender Kenner Bulgariens, Serbiens und
ehemaliger türkischer Provinzen und als Initiator der Gründung des Museums für Donauhandel in Regensburg bekannt.“67
Die zuletzt angegebenen Fakten sprechen dafür, daß die Beschäft igung Dr. Schupps mit
der Schaffung des Verbandes „Dubvid“ und mit den Problemen des deutschen Handels auf
dem Balkan wahrscheinlich eine bedeutsame Vorgeschichte hatte. Daß diese Vorgeschichte
höchstwahrscheinlich nicht unter der Führung bayerischer Behörden verlief, belegt ein
Schreiben der Königlichen Polizeidirektion München an das bayerische Außenamt.68 Laut
dieser Mitteilung hat der Vorsitzende des Vereins „Dubvid“ Dr. Schupp die Frage über die
Quellen der Finanzierung des Vereins nur auf die Art und Weise beantwortet, daß es
unterschiedliche private Förderer gebe. Auch Angaben zur Persönlichkeit des Vorstands-
67 Staatsar chiv München. Pol. Dir. Münc hen 573. Bericht des Bezirkskommissärs der Königlichen
Polizeidirektion München betreffend der Versammlung des Vereins „Dubvid“, 25. Oktober 1913.
68 Staatsar chiv München. Pol. Dir. München 573. Auskunft der Königlichen Polizeidirektion München für
das Königliche Bayerische Außenamt vom 3. Dezember 1913 betreffend den Verband „Dubvid“.
38
Osteuropa-Institut München: Mitteilungen 35/2000
vorsitzenden von „Dubvid“ konnten die Münchener Polizeibehörden dem bayerischen
Außenamt übermitteln:
„Dr. Schupp, Zahnarzt, geb. 21. Sept. 1870 in Darmstadt. Er ist Inhab er des zahnä rztlichen
Ambulatoriums „Hygiodont“ […] und soll auch schriftstellerisch Tätig sein. Seine Vermögensverhältnisse sind, wie hieramts bekannt, geordnet. Nachteiliges ist über ihn nicht bekannt geworden.
Dr. phil. Schupp wurde am 15. März 1897 an der Universität Basel zum Dr. phil. promoviert und
erhielt mit Entscheidung des Königlichen Staatsministeriums des Innern für Kirchen und Schulangelegenheiten vom 2 3. O ktob er 190 1 die Erla ubnis zur Fü hrung d es Dok tortit els in Bayern.“
Da keine Informationen zu den Finanzquellen des Vereines dem bayerischen Außenministerium bekannt waren, liegt es nahe zu vermuten, daß nicht nur die „Mission“ auf dem
Balkan im Herbst 1914, sondern auch die Tätigkeit Falk Schupps 1913 in Bayern „im
Auftrag des Auswärtigen Amtes in Berlin“ verlief. Die Weigerung, den Münchener Behörden die konkreten Finanzquellen von „Dubvid“ zu nennen, konnte sich Dr. Schupp ohne
höhere Protektion wohl kaum erlauben.
Für die künftige Tätigkeit des Verbandes wurde auch die höchste staatliche Begünstigung
nicht ausgeschlossen: § 34 des Statuts von „Dubvid“ sah vor, daß Staatsoberhäupter der
Mitgliederstaaten durch einstimmigen Beschluß des Vorstandes und unter Zustimmung der
betreffenden Personen der entsprechenden Staaten zu Pro tektoren des Vereins gewählt
werden könnten.69
Im übrigen waren ganz gewöhnliche Kriterien zur Aufnahme neuer Mitglieder vorgesehen:
zu ordentlichen Mitgliedern des Vereins durften Bürger und juristische Personen aus den
beteiligten Ländern aufgenommen werden. Als außerordentliche Mitglieder durften jegliche
Studenten weltlicher und kirchlicher Hochschulen und mehr als 18 Jahre alte Armeeangehörige des aktiven Militärdienstes aufgenommen werden. Als korrespondierende
Mitglieder durften solche Personen aufgenommen werden, die die Interessen des Vereins
in ihren Ortschaften zu vertreten einverstanden waren.
Die Dokumente des „Dubvid“ waren mit „Dr. Heinrich Schupp, Zahnarzt“ unterzeichnet.
Daß es in allen genannten Dokumenten um dieselbe Person geht und daß Falk Schupp und
Heinrich Schupp dieselbe Person ist, beweist eindeutig das letzte dokumentarische Zeugnis
der Tätigkeit des Verbandes:70
69 Staatsarchiv München, Pol. Dir. München 573. Statut des Vereins „Dubvid“.
70 Staatsar chiv Münc hen, Pol. D ir. München 573. Schreiben des Vorstandsvorsitzenden des Verbandes
„Dubvid“ Dr. Falk Schupp an die Polizeidirektion München vom 20. Februar 1920.
Osteuropa-Institut München: Mitteilungen 35/2000
39
„,Dubvid‘ e.V.
München, den 19. II. 1920.
Donau-, Balkan- und Schwarzmeerländer-Verband
Sitz: M ünchen
Für wechselseitige Förderung geistiger und wirtschaftlicher Beziehungen.
Polizeidirektion, Abteilung Vereinswesen.
München.
[…] Der in München 1910 begründete u. 191 3 ins V ereinsreg ister eing etragen e Verba nd Dub vid
nimmt seine wissenschaftliche Tätigkeit wieder auf, indem er einen Vortragszyklus von 3
Abenden v eransta ltet, die in der zweiten H älfte des März stattfinden sollen. Die Vorträ ge werden
von dem Unterz eichneten, dem Vorsitzen den, geha lten und b ehandeln : 1) Ba yern und die
Rückkehr Österreichs zum Reich 2) Der W iederaufba u Ost europas unter Mit wirkung deuts cher
Auswan derer aller Berufsz weige (Lichtbilder ) 3) M uss das deutsche Volk verzweifeln? (Lichtbilder.)
Der Reinert rag der V eranst altung soll zum besten der hung ernden Kin der Wie ns Verwendung
finden. Mit dem Vertrieb der Eintr ittska rten wird eine Werbung für den Verein Dubvid verbunden. […] Als Saal kommt voraussichtlich der Saal der Handelskammer (Neue Börse, Maximiliansplatz) in Frage, in welchem der Dubvid schon 1913 eine Serie von Ba lkanvorträ gen veranst alten
hat.
Hocha chtungs voll
ergebenst!
Dr. Heinrich Schupp
(Gelehrtenname Falk Schupp).
Sonn enstr . 24 II
Telefon 51 042 .“
Zwischen der Abfassung des vorletzten (3. Dezember 1913) und des letzten (19. Februar
1920) in den Münchener Archiven bekannten, den Verband „Dubvid“ betreffenden Dokuments des Verbandes „Dubvid“ liegen über 6 Jahren. Die Vorgeschichte der aktiven Tätigkeit des Balkanexperten Falk (Heinrich) Schupp auf dem Gebiet der deutsch-ukrainischen
Pro bleme ab der zweiten Hälfte 1915 gibt ausreichend Anlaß zur Vermutung, daß diese
Wende auch mit dem Auswärtigen Amt Berlin verbunden war.
40
Osteuropa-Institut München: Mitteilungen 35/2000
8 Der Verband „Freie Ukraine“ und seine Zeitschrift „Osteuropäische Zukunft“ als
intellektuelles Laboratorium und Propagandamedium der deutschen UkrainePolitik
Wenn man die Tätigkeit der Zeitschrift „Osteuropäische Zukunft“ und des Verbandes „Freie
Ukraine“ vor dem Hintergrund des gesamten Bildes deutscher Publizistik zu Ukraine-Politik
ansieht, werden folgende Gesetzmäßigkeiten offensicht lich:
– Deutsche Zeitungen begannen erst nach dem Ausbruch der Februarrevolution 1917 in
Rußland ihre Aufmerksamkeit der Ukraine kontinuierlich zu widmen; vor diesem Datum
waren solche Veröffentlichungen ziemlich selten. (Das belegen die Pressesammlungen
des Bundesarchivs Berlin und des Politischen Archives des Auswärtigen Amtes Bonn.)
– Die meisten Zeitschriften beschäftigten sich mit der ukrainischen Problematik eher
ausnahmsweise: Sogar die Wochenschrift „Das neue Deutschland“, die in der ersten
Hälfte 1915 einen intensiven Meinungsaustausch zur ukrainischen Frage organisierte,
kehrte zu diesem Thema bis Mitte 1918 praktisch nicht mehr zurück. Auch die von Paul
Rohrbach, Ernst Jackh und Philipp Stein in Zusammenarbeit mit Axel Schmidt herausgegebene Wochenschrift „Deutsche Politik“ (Berlin, 1916-1918) und die Wochenschrift
„Die Hilfe“ (Berlin, 1894-1919) von Friedrich Naumann schenkten der Ukraine erst ab
1918 eine besondere Aufmerksamkeit. Die Wochenschrift „Das Größere Deutschland“
von P. Rohrbach und E. Jackh (Weimar 1914-1915) behandelte das ukrainische Problem
auch ausschließlich als ein Nebenproblem des Kampfes gegen Rußland.
Die publizistischen Broschüren und Bücher zur Ukraine-Politik waren auf eine ausgewählte
Leserschaft ausgerichtet; deren ö ffentliche Bedeutung war durch viele Umstände begrenzt.
Wenn man den Stellenwert der von Dr. Falk (Heinrich) Schupp geleiteten Zeitschrift und
des von diesem geführten Verbandes im Verhältnis der Gesamtheit der analytisch-informationellen Aktivitäten im Rahmen der deutschen Ukraine-Politik vor 1918 charakterisiert,
so sieht man, daß Dr. Schupp besonders effektiv wirkte. Man kann in Deutschland keine
andere so wirksame und einflußreiche Strömung hinsichtlich der öffentlichen Erörterung
und fachlichen Beurteilung der Perspektiven dieser Politik nennen. Man kann behaupten,
daß gerade diese Organisation und ihr Presseorgan die wirtschaftliche Bedeutung der
Ukraine der deutschen Öffentlichkeit kontinuierlich und ausführlich darstellten. Die Abhandlungen von bekannten Experten, den Universitätsprofessoren J. Haller, A. Penck, W.
Ohnesorge und F. Frech, betonten, daß der ukrainische Faktor nicht nur aus der Sicht der
„Insurgierungspolitik“ gegen Rußland, sondern eher aus dem Blickwinkel der wirtschaftlichen Interessen Deutschlands wahrzunehmen wäre. Solche Veröffentlichungen wie die
Aufsätze von O. Kessler „Die wirtschaftliche Bedeutung der Ukraine“, Railjan „Die ZuckerOsteuropa-Institut München: Mitteilungen 35/2000
41
industrie in der Ukraine“, die Sonderausgabe einer Denkschrift „Die Bedeutung der Ukraine
für den Weltkrieg“ vom Geheimen Bergrat Prof. Frech unter Mitwirkung von Prof. Aereboe
deuteten auf einen neuen, wirtschaftlich bedingten Hintergrund des Interesses Deutschlands
an der Ukraine.
Diese Position fand ein entgegenkommendes Interesse seitens der führenden ukrainischen
Politiker. Noch am 7. Mai 1915 sprach in seinem Vortrag in München das künftige Vorstandsmitglied der „Freien Ukraine“, Reichsratsabgeordneter Dr. Eugen Lewicky über die
neue Ukraine als Mitglied eines großen mitteleuropäischen Staatenbundes, wo deutsches
Kapital besonders willkommen wäre.71
Die Tätigkeit der Gesellschaft „Freie Ukraine“ und der Zeitschrift „Osteuropäische
Zukunft“ hatte eine bisher noch unbemerkte Besonderheit: die ukrainischen Mitglieder
erhielten dort eine gute politische Schule. Das Mitglied des Bundes zur Befreiung der Ukraine und Mitarbeiter der Redaktion der „Osteropäischen Zukunft“ Alexander (Olexander)
Skoropys-Joltuchowski – in einem durchaus skeptischen Bericht der deutschen Botschaft
in Wien Ende 1914 noch als „unbekannter Maler“ charakterisiert – wurde 1918 vom Oberhaupt des ukrainischen Staates Hetman Skoropads’kyj zum Gouverneur des Cholmer Gebietes ernannt.72
Zu beachten ist auch, daß in dem publizistischen Unternehmen von Falk Schupp wichtige
Rollen an Vertreter beider Zweige des Ukrainertums gegeben waren: Oleksander SkoropysJoltuchovs’kyj vertrat die ukrainische Bewegung Rußlands, Eugen Lewicky gehörte zu den
Führern der Ukrainer des öst erreichischen Ostgaliziens. Ausgerechnet im Rahmen der
deutschen Ukrainepolitik fand die Idee einer vereinten Ukraine viel mehr Verständnis als
in Österreich, wo diese Idee als ungewünscht betrachtet wurde und wo auch der BBU
gezwungen war, nach 1914 seine Tätigkeit wesentlich zu begrenzen.
Am 4. Dezember 1917 wurde gemäß der Entscheidung der Hauptversammlung durch den
Vorstand die Vereinigung des Verbandes „Freie Ukraine“ mit dem Donau-, Balkan- und
Schwarzmeerländerverband „Dubvid“ durchgeführt und infolgedessen ein Wirtschaftsausschuß „Ukraine“ gebildet. Die Redaktion der „Osteuropäischen Zukunft“ arbeitete aber auf
dem Gebiet der deutschen Ukraine-Politik bis Herbst 1918. Das sieht man aus dem folgenden
Archivdokument 73:
71 Vgl. R EMER Die Ukraine im Blickfeld deutscher Interessen, S. 295.
72 Politisches Archiv de s Auswä rtigen Amte s Bonn. R 212 22. U kraine. Be richt der de utschen B otschaft in
Wien. „D ie Wiener Komitees“. O hne Da tum und U nterschr ift, S. 4.
73 Bayerisches Hauptstaatsarchiv. Abteilung IV (Kriegsarchiv). MKr 13874.
42
Osteuropa-Institut München: Mitteilungen 35/2000
„Ukrainische Gesandtschaft Wien.
10. Oktober 1918.
Telegramm an das Generalkommando M ünchen.
Ukrainisch er Profes sor W ladimir Kalynowytsch ist von Dr. F. S chupp g egenwärtig M ünchen
herausgegeb ene Zeitschrift O steurop äische Zukun ft zum B eitritt als M itglied des wissens chaftlichen Auss chusses z ur Heraus gabe ukra inischer Lehrb ücher eingeladen.“
Im Unterschied zu Paul Rohrbach, dessen Name nicht nur mit der Geschichte der deutschen
Ukraine-Politik des Ersten Weltkrieges, sondern mit der Tätigkeit der Deutsch-Ukrainischen
Gesellschaft sogar nach dem Abschluss des Zweiten Weltkrieges verbunden ist, taucht der
Name von Heinrich (Falk) Schupp im Zusammenhang mit den deutsch-ukrainischen
Wechselbeziehungen nach Oktober 1918 nicht mehr auf. Noch im Mai 1918, also vier
Monate bevor Dr. Schupp im bereits angegebenen Telegramm erwähnt wurde, wurde in
München zwecks der „Förderung der wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen zwischen
dem Deutschen Reich und der Ukraine“ die Deutsch-Ukrainische Wirtschaft sgesellschaft
(DUWG) gegründet. Die von einflußreichen Vertretern der Münchener und Berliner Wirtschaftselite geleitete und bis 1923 mit den diplomatischen Vertretern der Ukrainischen
Volksrepublik (UNR) zusammenarbeitende DUWG weist weder unter ihren Vorstandsmitgliedern noch in den Arbeitsmaterialien den Namen von Heinrich oder Falk Schupp nach, 74
obwohl Dr. Schupp zumindest Anfang 1920 in München tätig war, was sein oben dargelegtes
Schreiben an die Polizeidirektion München über die künftigen Aktionen des Verbandes
„Dubvid“ vom 19. Februar 1920 belegt.
Die Person Dr. Falk (Heinrich) Schupp bedeutet für die Geschichte der deutschen UkrainePolitik eben so viel, wie die Person Paul Rohrbach. Rohrbachs Tätigkeit auf diesem Gebiet
während des Ersten Weltkrieges erreichte ihren Höhepunkt 1918 – vor 1918 beschäftigte
sich Rohrbach mit antirussischer Publizistik, in welcher der ukrainische Bestandteil eher
als Hilfsfaktor betrachtet wurde – und fand ihren vollkommensten Ausdruck neben seinen
persönlichen publizistischen Aktivitäten in der Gründung der Deutsch-Ukrainischen Gesellschaft und in der aktiven Beteiligung an den praktischen Aufgaben Deutschlands in der
74 Telegramm der ukrainischen Gesandtschaft in Wien an das Generalkommando München vom
10. O ktober 1 918 , Staatsarc hiv Mün chen. Pol. D ir. Mün chen 27 7:
„Deutsch-Ukrainischer W irtschaftsverband. (e.V.) [...] Sitz in München.
Ziele des Verbandes: Förderung der wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen zwischen dem
Deutschen Reich und der Ukraine.
Zeit der Gründ ung: 2 8. Mai 1918. Zeit der Einreichung des Antragsformulars: 10. Juli 1922. Tag der
Eintragung zum Register des Register-Gerichts München: 10. August 1 918. Unter N r. 13497 18, Band
XV, Nr. 32.
1-er Vorsitzender: J. Pschorr, Präsident der Handelskamm er München.
2-er Vorsitzender: L. Lustig, Generaldirektor der Deutschen Eisenhandels-A.G. Berlin.
1-er S chriftführer: A. F riedel, Dir ektor der D iamalt-A.- G. Mü nchen .
2-er S chriftführer: D r. Dingeld ey, Geschäftsführe r des V erband es der deu tschen Fab riken Ber lin.
Schatzmeister: Dr. Löhr, Direktor der bayerischen Vereinsbank M ünchen. “
Osteuropa-Institut München: Mitteilungen 35/2000
43
Ukraine. Zu erwähnen ist hier der Besuch in Kiew im April-Mai 1918 mit dem Ziel, die
Lebensfähigkeit des Regimes von Hetman Skoropads’kyj abzuschätzen. 75 Interessant ist
auch, daß Rohrbach 1918 die von Schupp erfolgreich getesteten organisatorischen Formen
wiederholte, indem er parallel die Arbeit der „Deutsch-Ukrainischen Gesellschaft“ und
eigentlich auch die Zeitschrift „Ukraine“ leitete.
Dr. Schupp entfaltete in den Jahren 1916-1917 unter Obhut des Kriegsministeriums seine
Tätigkeit zur Gewinnung der öffentlichen Meinung zugunsten der Idee einer großen Bedeutung der Ukraine für Deutschland zwecks informationeller Vorbereitung von künftigen
praktischen Schritten Deutschlands bezüglich der Ukraine. Er tat dies in der für ihn charakteristischen Art und Weise, nämlich weniger als Publizist, sondern vor allem als Organisator.
Im Unterschied zur Vo rgehensweise Paul Rohrbachs, der seine Person gern in den Vordergrund stellte, agierte Schupp für gewöhnlich lieber im Hintergrund: Er initiierte und leitete
die Arbeit von vielen bekannten Publizisten und Wissenschaftlern. Er organisierte sie in
einer maßgebenden Bewegung, deren Bedeutung für die Herausbildung der deutschen
Ukraine-Politik im Ersten Weltkrieg schwer zu überschätzen ist.
75 Bayerisches Hauptstaatsarchiv. Abteilung Geheimes Staatsarchiv. MA 95088. Akten des K. Sta atsministeriums des Königlichen Hauses und des Äußern. Die U kraine betreffend 1917-1 918. Streng vertrauliche
De nks chr ift der Deutsch-Ukrainischen Gesellschaft vom 29. Juni 1918 „Regierung und Volk in der
Ukraine“. 9 Seiten. Auch in: Dem Andenken Paul Rohrbachs, S. 11.
44
Osteuropa-Institut München: Mitteilungen 35/2000
9 Quellen- und Literaturverzeichnis
9.1
Veröffentlichte Quellen
H ORNYKIEWYCZ , T H EO P H IL (Hrsg.) Ereignisse in der Ukraine 191 4-192 2. Deren Bedeutung und historische
Hintergründe. Philadelphia-Horn. 1966-1969. Bd. 1-4.
KÖHLER , F R A N Z Der neue Dreibund. Ein deutsches Arbeitsprogram m für das gesamte deutsche Volk und seine
Freunde. München 1915.
LENTNER , KARL Russischer Volksimperialismus. Berlin 1915.
O S T M A N N, E C K E H A RD T Rußlands Fremdvölker, seine Stärke und Schwäche. München 1915.
R OHRBACH , P AUL Der Krieg und die deutsche Politik. Leipzig 1915.
R OHRBACH , P AUL Weltpolitisches Wanderbuch 1897-1915. Leipzig 1916.
9.2
I.
Archivalien
Bun desar chiv B erlin
Auswärtiges Amt. R 901
II. Gehe imes S taat sarch iv, Preu ßische r Ku lturbe sitz Be rlin
Haupta bteilung I, Re positur 8 9. Königlich es geheim es Zivilkabin ett
III. Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes Bonn
Die Bestrebungen der Ukrainophilen und die kleinrussische (ruthenische) Frage. R 11107-11108
Geheime Akten betreffend den Krieg 1914. R 20950-21222
IV. Bayerisches Hau ptstaatsarchiv M ünchen
Abteilung Geheimes Staatsarchiv:
Akten des K. Staatsministeriums des Königlichen Hauses und des Äußern. Die Ukraine betreffend 1917-1918
Abteilung Kriegsarchiv:
Akten des K.B. Kriegsministeriums:
Presse während des Krieges
Freiwillige Zah närzte
V. Staatsarchiv M ünchen
Akten der Polizeidirektion München
VI. Archiv der Stadt M ünchen
Sammlung: Bürgermeister und Rat
VII. Central’nyj D erz4 avnyj Istory … nyj A rchiv U krain e, Ky ïiv
Fond 1235 M .S. Hruschevs’koho
Osteuropa-Institut München: Mitteilungen 35/2000
45
9.3.
Literatur
9.3.1. Nachschlagewerke
1. Lexikon zur Geschich te der Par teien in Euro pa. Hrs g. von Frank Wende. S tuttgart 19 81.
2. Meyers Enzyklopädisches Lexikon. Bd. 8. Mannheim, Wien, Zürich 1973.
3. M A N N , G. Deu tsche Ges chichte des n eunzehnte n und zwan zigsten Jahr hunderts. Fr ankfurt a.M. 1 959 .
9.3.2. Spezielle Literatur
B AYER , H ANS Die Mittelmächte und die Ukraine 1918. München 1956. (=Jahrbücher für Geschichte O steuropas. Beiheft 2).
B I H L, W OLFDIETER Österreich-Ungarn und die Friedensschlüsse von Brest-Litowsk. Wien, Köln, Graz 1970.
B IH L , W OLFDIETER Die Beziehungen zwischen Österreich-U ngarn und Rußland in bezug auf die galizische
Frage 1908-1914, in: Galizien um die Jahrhundertwende. Hrsg. von Karlheinz Mack. Wien, München 1990,
S. 35-50.
B I H L, W OLFDIETER Das im Herbs t 191 4 gepla nte Schw arzmee r-Un ternehmen der Mittelmächte, in: Jahrbücher
für Geschichte Osteuropas N.F. 14, 1 966 , S. 362 -366 .
B I H L, W OLFDIETER Österreich-Ungarn und der „B und zur Befreiung der Ukraine“, in: Österreich und Europa.
Festgabe für Hugo Hantsch. Graz, Wien, Köln. 1965. S. 505-526.
B OROWSKY , P ETER Deutsc he Ukr ainepolitik 1918 unter besonderer Berücksichtigung von Wirtschaftsfragen.
Lübeck und Hamburg 1970.
B OROWSKY , P ETER Paul Rohrbach und die Ukraine, in: Deutschland in der Weltpolitik des 19. und 20.
Jahrhunderts. Hrsg. von V.I. Gleiss u. B.J. Wendt. Düsseldorf 1973, S. 437-453.
D OROSCHENKO , D M Y T R O Die Ukraine und das Reich. Leipzig 1941.
F E D Y S H Y N, O L E H S. Germany’s Drive to the East and the Ukrainian Revolution, 1917-191 8. New Brunswick
(New Jersey) 1971.
F ISCHER , F R I T Z Griff zur Weltmacht. Düsseldorf 1961.
G OLCZEWSKI , F RANK Zur deutsch en Ukr ainepolitik 1 918 -192 6, in: Kleine Völker in der Geschichte Osteuropas.
Festschrift für Günther Stökl zum 75. Geburtstag. Hrsg. von Manfred Alexander. Stuttgart 1991, S. 119-129.
(=Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. Beiheft 5).
G R E B I NG , H ELGA Österreich-Ungarn u nd die „Ukr ainische Ak tion“ 191 4-19 18. Jah rbüc her für Ge schichte
Osteuropas N.F. 7, 1959, S. 270-296.
H EIDORN , G ÜNTER Monopole – Presse – Krieg. Studien zur deutschen Außenpolitik in der Periode von 1902
bis 19 14. Be rlin (O) 196 4.
H UNCZAK , T ARAS (Hrsg.) The U kraine 19 17-1 921 . A Study in Revo lution. Camb ridge (M ass.) 19 77.
KRUCK , A. Geschichte des Alldeutschen Verbandes (1890-1939). Wiesbaden 1954.
46
Osteuropa-Institut München: Mitteilungen 35/2000
KU L I NY „ , IV A N M ARKOVY „ Ukraïin a v zaharbnyc’kych planach nimec’koho imperializmu (1900-1914 rr.).
Kyiïv 1963.
M ARK , R UDOLF Zur ukrainischen Frage im ersten Weltkrieg: Flugschriften des „Bundes zur Befreiung der
Ukraine“ und ihm nahestehender Publizisten 1914-1916, in: Zeitschrift für Ostforschung 33, 1984, S. 196-226.
M ARK , R UDOLF Die gescheiterten Staatsversuche, in: Golczewski, Frank (Hrsg.): Geschichte der Ukraine.
Göttingen 1993, S. 172-201.
M O G K , W ALTER Paul Rohrbach und das „Größere Deutschland“. München 1972.
P ROKOPTSCHUK , G. Deutsch-Ukrainische Gesellschaft, 1918-1968. München 1968.
R EMER , C LAUS Die Ukraine im Blickfeld deutscher Interessen. Ende des 19. Jahrhunderts bis 1917/18. Frankfurt
a.M. u.a. 1 997 .
R ÖDER , F R I E D RI C H Biographische Skizze, in: Dem Andenken Paul Rohrbachs. Ein Beitrag zur osteuropäischen
Problematik. Hrsg. von der Deutsch-Ukrainischen Herder-Gesellschaft e.V. München 1959, S. 7-14.
Zur Ukraine-Politik des deutschen Imperialismus. Protokoll einer Arbeitstagung am 23.9.1967 in Berlin. Jena
196 9.
Osteuropa-Institut München: Mitteilungen 35/2000
47
- Item sets